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Princess Plattenbau

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Das hier ist Manhattan aus dem Bilderbuch. Der Times Square blinkt und leuchtet, das Rockefeller Center ist nur ein paar Straßenecken entfernt, gelbe Taxis drängen an Touristenmassen vorbei. Die legendäre Adresse: 1626 Broadway, New York. Hier im Comedy-Club Carolines on Broadway sind schon amerikanische Stars wie Jerry Seinfeld oder Billy Crystal aufgetreten. Doch heute lächelt ein deutsches Gesicht auf den Plakaten am Eingang: Cindy aus Marzahn, beziehungsweise „Cindy out Marzahn“ – so viel Englisch hat es dann doch auf das Poster am Broadway geschafft. „Sold out“ steht darüber. Vor dem Eingang stehen die Leute Schlange, alle sprechen Deutsch.



Cindy aus Marzahn alias Ilka Bessin verkörpert den "American Dream". Nun ist sie im New Yorker Comedy-Club Carolines on Broadway aufgetreten – vor 300 Zuschauern. Die Tickets wurden verschenkt. 

„Welcome to the gorgeous Princess of Plattenbau“, ruft der Ansager, und Cindy aus Marzahn hüpft auf die Bühne, in ihrem pinkfarbenen Jogginganzug, mit grellen Make-up-Schichten und zur Feier des Ortes mit einer Schaumstoff-Freiheitsstatuen-Krone im gebleichten Lockenberg. Bis zur ersten Zote vergehen nur Sekunden: „Oh, you have abeautiful Blick on my Geschlechtsteil“, sagt sie zu einem Mann in der ersten Reihe. „My vagina, vestehste.“ So geht das weiter, in feinstem deutsch-englischen Kauderwelsch mit zotigem Berliner Einschlag. „I’m abit under-birded“, ruft sie ins Publikum, und sucht (erfolglos) einen Freiwilligen für einen One-Night-Stand. „Dit heißt untervögelt.“ Das New Yorker Publikum johlt.

Cindy aus Marzahn ist ein Phänomen. Die Kunstfigur aus dem Berliner Arbeiterviertel Marzahn ist eine dicke Langzeitarbeitslose mit mauen Chancen bei den Männern, die über Unfälle im Sonnenstudio, Frauenarztbesuche („Muschi muss zum TÜV“), Plattenbau-Prolls und Fressattacken herumblödelt – meist auf ihre eigenen Kosten. Damit hat Ilka Bessin, der Mensch hinter der Figur, einen Nerv getroffen: In Deutschland tritt sie als Cindy vor Zehntausenden auf. Sie co-moderierte Wetten, dass..?, und sie hat unzählige Comedy-Preise gewonnen. 2012 schrieb sogar die New York Times ein Porträt über „die versehentliche Komödiantin des Volkes“.

Das mit dem versehentlich hat einen Grund: Bessins Karriere war alles andere als geplant. Die 42-Jährige aus Brandenburg wollte eigentlich Clown werden, eine DDR-Ausbildungsberaterin riet ab, stattdessen machte Bessin eine Ausbildung zur Köchin in der Betriebsküche des VEB Wälzlagerwerks Luckenwalde. Später arbeitete sie als Kellnerin in einer Disco, stieg zur Geschäftsführerin auf, wurde dann Hotelfachfrau, noch später Animateurin auf einem Kreuzfahrtschiff und war dann jahrelang arbeitslos in Berlin. Dass sie in der Nachwuchs-Show im Berliner Quatsch Comedy Club landete, war Zufall, eigentlich wollte sie sich dort als Kellnerin bewerben, hatte aber jemanden am Telefon, der die Talente für die Bühne buchte. Es war ihr Durchbruch. Hier in New York würde man das den „American Dream“ nennen.

Aus dem Ostberliner Plattenbau bis nach Manhattan ist es ein weiter Weg, könnte man meinen. „Och, so schwer war das gar nicht, wir haben das schon vor ein paar Jahren überlegt und dann einfach den Laden gemietet“, sagt Bessins Manager Sascha Rinne. „Dit Goethe-Institut hat mich einjeladen“, witzelt Cindy auf der Bühne. Das stimmt natürlich nicht, und das mit dem „Sold Out“ ist auch kein Zufall: Cindys Managementfirma hat fast alle Eintrittskarten für die Broadway-Show verschenkt, inklusive Getränkegutschein.

Und das Publikum? Im Carolines sitzen an diesem Abend ein Praktikantengrüppchen aus Mannheim, ein paar Touristen und die halbe deutsch-amerikanische Handelskammer. „Do you understand me when ick Deutsch spreche?“, ruft Cindy. „Weil when ick Englisch spreche, bin ick so schnell, dit versteht keiner.“ Für ihren ersten und einzigen Auftritt am Broadway ist Cindy zum ersten Mal nach Amerika gereist, und nun weidet sie jedes Klischee aus. „Die Leute sind ganz schön unförmig“, sagt sie. „Ich sollte herziehen, hier hab ich zum ersten Mal keine Minderwertigkeitskomplexe.“

Die einzigen Amerikaner im Carolines sind an diesem Abend die Kellner, die etwas ratlos gucken, als Cindy auf Denglisch eine Cola light bestellt. „Wat, hier gibt’s keine Cola light?“, fragt sie. „Dicke Leute trinken doch immer Cola light. Hier müsste es doch ein Cola-light-Imperium geben.“ Das Publikum sekundiert: Cola light gibt es in Amerika nicht, das heißt hier Diet Coke.

Abgespeckt, das passt auch zu diesem Abend. Statt vor Zehntausenden steht Cindy am Broadway vor etwa 300 Leuten, und die Hardcore-Fans, die ihre Texte auswendig kennen, sind auch nicht dabei. Aber Cindy kommt an, es lachen auch jene, die wegen der Freigetränke gekommen sind und sich eigentlich vorgenommen hatten, Cindy zu profan zu finden.

„Ich war schon ein bisschen mehr aufgeregt als sonst“, sagt Bessin hinterher. „Ich fand das ein gutes, offenes Publikum, die Leute haben an den richtigen Stellen gelacht.“ Der große Amerika-Durchbruch sei das nicht, sagt sie, „ich bilde mir nicht ein, als Nächstes im Madison Square Garden zu spielen.“ Aber es habe Spaß gemacht: „Ist doch toll, wenn da ‚sold out‘ auf dem Plakat steht. Auch wenn es vielleicht eher outverschenkt heißen müsste.“

Alles so schön friedlich

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Berlin – Hält Google sich nun an sein eigenes Motto – und tut wirklich nichts Böses? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, auf welcher Seite man steht.



Hat die Berilner Start-up-Szene mit etablierten Technologieunternehmen vernetzt: Simon Schäfer.

Simon Schäfer zum Beispiel gehört zu denen, die Google viel Bewunderung entgegenbringen. Als Partner der Investmentfirma JMES hat er schon in viele neu gegründete Technologiefirmen investiert. Er glaubt an den Austausch – und er hat der boomenden Berliner Start-up-Szene dazu nun einen weiteren Ort gegeben. Ein Campus, auf dem etablierte Technologieunternehmen sich mit jungen Gründern vernetzen – und voneinander profitieren. Der fünfstöckige Bau, eine ehemalige Brauerei, auf die ein Neubau aufgesetzt wurde, bietet Platz für bis zu 600 Mitarbeiter. An der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und West-Berlin erstreckt sich das Areal auf über 16000 Quadratmeter. Internetfirmen können hier Tische mieten, kleine und große Büros, je nach der Phase, in der das Start-up gerade steckt.

Google unterstützt die Factory über drei Jahre hinweg mit einer Million Euro, bietet Seminare, Gratis-Software und Veranstaltungen für Unternehmer und Entwickler an. In einem Mentorenprogramm sollen Google-Experten Start-ups aus ganz Berlin in der Factory beraten. Für all jene also, die es so wie Schäfer in der quirligen Gründerszene von Berlin zu etwas bringen wollen, tut Google viel Gutes: Der Internetkonzern hat schließlich auch – anders als die klamme Hauptstadt – eine Menge Geld. Und gerade daran fehlt es den Gründern.

Schäfer greift gern zu Metaphern aus der Biologie, wenn er über die Berliner Szene spricht: „Ein frühes Ökosystem braucht Austausch“, sagt er, die Factory sei ein „Lebensraum“. Und zwar einer, in dem nicht der Große den Kleinen frisst, sondern ihm helfend unter die Arme greift – und einem Start-up vielleicht mal einen interessanten Mitarbeiter abwirbt. Als Vorbilder nennt Schäfer die Epizentren der Internetgeschäftswelt: den Googleplex, den Apple- Campus, die Facebook-Headquarters. „Wir sind aber keinen Aktionären, sondern den Gründern verpflichtet.“

Die Sache ist nur: In Deutschland haben viele inzwischen Zweifel daran, dass der Große die Kleinen wirklich nicht fressen wird. Vielen ist Google zu mächtig geworden. Kleinere Anbieter von Internetportalen beispielsweise haben sich in Brüssel beschwert, dass Google sie in der Trefferliste seiner Suchmaschine viel zu weit unten listet. Verzehrter Wettbewerb, lautet der Vorwurf. Die hiesigen Verlage fürchten sich, die Autoindustrie ebenfalls – auch wenn sie dies nur hinter vorgehaltener Hand zugibt.

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) fordert bereits eine Zerschlagung. Googles Verwaltungsratschef Eric Schmidt hat gerade in einem Interview mit dem Spiegel gesagt, dass er gern mit seinen Kritikern zu Abend isst. Und tatsächlich haben sich die beiden Männer am Dienstagabend getroffen. Deutschland ist schließlich wichtig für Google. Nicht nur wegen seiner Gründerszene.

Gabriel dürfte Schmidt nicht von seiner Idee überzeugt haben, dass es besser für den Internetnutzer, für die Wirtschaft, ja für die ganze Welt ist, wenn Google in viele kleine Teile aufgespalten wird. Zerknirscht wirkt er jedenfalls nicht. Im Gegenteil, Schmidt ruft die jungen Unternehmer in der Factory auf, sich zu kleinen Googles zu entwickeln, groß zu denken, ja global und ihre Geschäftsideen nicht nur für Berlin oder Deutschland zu entwickeln. An die deutsche Politik hatte Schmidt nur einen Ratschlag: Schafft dem Land ein schnelleres Internet an und zwar schnell!

Das von den europäischen Richtern verhängte Lösch-Urteil gegen Google, mit dem die Nutzer ihr Recht auf Identität wahren sollen, kommentierte Schmidt nur kurz: „Wir sind sehr enttäuscht.“ Doch jetzt werde man sich eifrig dran machen, die Vorgaben umzusetzen. Schließlich wollten die Richter das Internet ja auch für die Skeptiker zugänglich machen.

Der Vertreter des bösen großen Monopolisten gab sich also handzahm und das passte eigentlich auch ganz gut zu der Einweihungsfeier für den neuen High-Tech-Campus. Denn die wirkte eher wie ein niedliches Nachbarschaftsfest: Kleine Buden mit gestreiften Markisen, Lichterketten und fröhliche Wimpel, auf den Tresen stehen Teller mit Mini-Cupcakes. Und Schäfer verkündet stolz, dass unter den Mietern der Factory die Mozilla-Stiftung, die Musik-Plattform Soundcloud und sogar das Online-Netzwerk Twitter sind. Miteinander statt gegeneinander – so präsentiert Schäferdieses pulsierende Ökosystem.

Im zweistöckigen Büro von Soundcloud, dem Aushängeschild der Berliner Start-up-Szene, steht der Einzug schon kurz bevor. In der riesigen Design-Wohnküche glänzt eine gewaltige Espressomaschine silbern in den Raum hinein. Auf Holztischen warten orange Kabelbündel auf die Laptops der 200 Mitarbeiter.

„Das hier ist ein historischer Ort der Trennung“, sagt Rowan Barnett, ein Brite, der seit zehn Jahren in Berlin lebt, und für Twitter neue Märkte erschließt. „Genau neben dem Hauptgebäude verlief früher die Mauer. Und jetzt arbeiten hier Firmen aus Amerika und Deutschland zusammen.“ Die Arbeit hier werde Twitter stärken, ist sich Barnett sicher.

Das stört keinen. Twitter ist ja noch nicht Google. Vor Twitter fürchten sie sich in Deutschland noch nicht.

Achtung! Deutschländisches Deutsch!

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Das Wiener Bildungsministerium sorgt sich um das österreichische Deutsch, weil immer mehr Jugendliche Tomate statt Paradeiser und Sahne statt Obers sagen. Nun soll eine Broschüre für den Unterricht dem sinkenden „sprachlichen Selbstbewusstsein“ entgegenwirken. Johannes Bauer, Direktor des renommierten Bundesgymnasiums Wien 9 (BG9) und Lehrer für Mathematik und Sport, hat schon mal selbst getestet, wie gut sein Gespür für sprachliche Vielfalt ist.



Österreichisch Schüler würden ihr sprachliches Selbstbewusstsein verlieren, fürchtet die Regierung.

SZ: Mitten im „Matura“-Stress gibt es diesen Vorstoß für „österreichisches Deutsch als Bildungssprache“. „Abitur“-Stress sollte ich ja wohl besser nicht sagen. Setzen Sie das jetzt sofort um?

Johannes Bauer: Ich hätte das ehrlich gesagt nicht mitgekriegt, wenn die Medien nicht berichtet hätten. Aber der Vorstoß, Schüler für Unterschiede in Sprachräumen zu sensibilisieren, ist durchaus interessant. Die Idee dürfte jedoch, fürchte ich, schnell wieder untergehen. Wir haben in der Bildungspolitik weitaus größere Herausforderungen als diese zu stemmen – um das Wort Probleme zu vermeiden.

Die Materialien enthalten Memory-Wortkarten und Beispiele, die eh jeder kennt, also Marille oder Kipferl. Funktioniert so etwas wirklich?

Das hängt von der Schulstufe ab. Für eine Supplierstunde wären solche Materialen recht gut geeignet.

Stopp, was ist eine Supplierstunde?

Eine Vertretungsstunde.

Dann machen wir doch gleich mal einen Test, ob Sie diese Sensibilisierung auch nötig haben: Was ist eine Parte?

Ein Schreiben, das man ausschickt, wenn jemand gestorben ist.

Und ein Bartwisch?

Ein kleiner Handbesen mit Haaren zum Aufkehren. Man kehrt sozusagen mit einem Bart.

Sie brauchen also keinen Kurs in Sprachloyalität. Muss man das denn: die Sprachloyalität der Jugend schulen?

Im Unterricht würde ich diese Übungen für entbehrlich halten. Regionalität verschwindet ja nicht automatisch mit der Globalisierung. Aber es kann sicher nicht schaden zu wissen: Es gibt ein österreichisches, ein deutschländisches und ein schweizerisches Deutsch.

„Deutschländisches Deutsch“ ist eine seltsame Erfindung der Wissenschaftler. Stefan Zweig, Friedrich Torberg, Erich Fried waren hier am BG9 Schüler. Diese großartigen Sprachkünstler haben doch solche Unterschiede auch nicht gemacht.

Jeder Literat saugt aus allen Kulturräumen, die ihm zur Verfügung stehen, das auf, was er braucht und was ihn prägt. Das kann man weder steuern noch bremsen. Die Künstler, die an dieser Schule waren, haben österreichische und deutsche Literatur geprägt. Aber vielleicht hatten sie auch das Glück, dass die Globalisierung die Sprache damals noch nicht so beeinflusst hatte.

Ist das Projekt vielleicht ein Versuch, die Piefkenisierung der Jugend aufzuhalten?

Ich kann keine Piefkenisierung erkennen. Wir haben etwa 20 Prozent Schüler mit nicht-deutscher Muttersprache, das ist für Wiener Verhältnisse wenig. Unter die anderen 80Prozent fallen viele Kinder mit einem chinesischen oder serbischen – und mit einem österreichischen Elternteil. Oder mit einem syrischen Vater und einer deutsch-türkischen Mutter, die zweisprachig sind und trotzdem tiefstes Wienerisch sprechen. Man fängt besser nicht an, hier zu unterscheiden. Diese Kinder sind sozialisiert im österreichischen Deutsch, haben aber keine Angst vor deutschländischem Deutsch, kennen also die Konfitüre genauso wie die Marmelade und den Rauchfangkehrer wie den Schornsteinfeger.

Jetzt wird es kompliziert. Sie sagen, österreichisches Deutsch sei üblich und populär. Das Bildungsministerium glaubt aber offenbar, es sei am Aussterben.

Ich höre deutschländisches Deutsch vor allem von Deutschen, was ich wenig überraschend finde. Die Deutschen sind die größte Ausländergruppe in Österreich. In der Praxis halte ich die Panik für Schmarrn. Aber: Alles ist, wie meist im Leben, in der Realität sogar noch viel komplizierter. Ich erlebe nämlich, dass österreichische Begriffe, die viele Menschen als normal empfinden, von anderen Österreichern gar nicht gekannt werden. Das hat aber nichts mit der Piefkenisierung zu tun, sondern viel mit Herkunft, Elternhäusern und Sprachwitz.

Zum Beispiel Gschlader, Jaukerl, Bosnigl, oder Gschrapp? Die sind nämlich in der Broschüre gar nicht enthalten.

Gschrapp ist ein kleines Kind, ein Bosnigl ist jemand, der einem anderes Böses will, und ein Jaukerl ist eine Spritze, eine Injektion. Gschlader sagt mir selbst nichts.

Der Kabarettist Karl Farkas scherzt, Deutsche und Österreicher unterschieden sich durch die gemeinsame Sprache. Welche anderen Unterschiede sehen Sie?

Keine, die ich in einer deutschen Zeitung offenlegen würde. (Lacht). Auch dazu gibt es genügend Studien, wie zum Rückgang des Österreichischen. Wichtig ist: Unterschiede machen nicht an Sprach- und nicht an Staatsgrenzen halt. Bayern und Salzburger haben vielleicht mehr gemein als Kremser und Grazer.
Kann österreichisches Deutsch österreichisches Selbstbewusstsein stärken?

Es hieße die Sprache zu überfordern, dazu braucht es mehr. Andererseits: In Deutschland wird Österreichisch gern als komischer Dialekt, als Urlaubssprache veralbert. Das nagt natürlich durchaus an unserem Selbstbewusstsein.

Offenbar ist die Identitätssuche hierzulande ein langfristiges Projekt. Österreich ließ 1995, beim EU-Beitritt, seine Sprache symbolisch als Kulturgut anerkennen und zwei Dutzend Begriffe, vorwiegend für Nahrungsmittel, schützen. Geht es da vielleicht um Wirtschaftsinteressen und Markennamen, um Supermärkte und Regionalprodukte? Oder ist die neue Initiative doch eher ein Rückfall in den Wir-sind-anders-Provinzialismus?

Weder noch. Damals wie heute ging und geht es um psychologische und ökonomische Folgen der Globalisierung: Je mehr alles eins zu werden droht, desto mehr bildet sich Individualität heraus, die dem Mainstream zu entfliehen droht. Nachdenken, einen Impuls setzen, an eine Tradition erinnern – das ist doch in Ordnung.

Im Widerstreit von Regionalisierung und Globalisierung gibt es Länder, die viel weiter gehen. Frankreich etwa schützt seit 1994 seine Sprache mit einer Quote für Popsongs im Radio. Kommt das hier vielleicht auch bald? Mehr Fendrich und Ambros, weniger US-Charts.

Die Kids suchen sich zum Glück ihre Zugänge selbst und finden im Internet, was sie gut finden.
Das Österreichische geht verloren, heißt es, weil Jugendliche deutsches Fernsehen schauen. Sind RTL und Sat1 schuld?

Na ja, mal ehrlich, österreichische Sendungen für den österreichischen Markt gelten unter den Kids leider nicht gerade als urcool. Eher als ur fad.

Johannes Bauer, Direktor des Gymnasiums an der Wasagasse in Wien, kann eine lange Liste prominenter Absolventen vorlegen, darunter Stefan Zweig und Erich Fried. Im deutsch-österreichischen Sprachstreit rät er zu Gelassenheit.

Wunschkonzert wann du willst

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Im Zeitalter der Schallplatten, Kassetten und Tonbänder war die Sache klar: Um zu Hause jederzeit ein bestimmtes Musikstück abspielen zu können, brauchte man einen Tonträger. Sonst blieb nur: selber musizieren. Im Zeitalter des Internets löst sich diese Bindung auf. Musik kann man heute auch in elektronischer Form kaufen. Oder auch nur den Zugang dazu – die wichtigsten Fragen dazu im Überblick.

Was ist Musikstreaming?

Streamingdienste könnte man vergleichen mit einem Radio-Wunschkonzert auf Abruf: Die Anbieter halten in großen Rechenzentren bis zu 25 Millionen digitalisierte Musikstücke bereit. Wählt ein Kunde einen bestimmten Song aus, wird er in kleine Datenpäckchen zerlegt und als Strom von Daten – daher der Name – über das Internet auf ein Gerät des Nutzers übertragen. Auf diesem Gerät wird zunächst eine gewisse Menge dieser Datenpäckchen als Puffer gespeichert, dann wird das Stück abgespielt. Während es läuft, werden im Hintergrund weiter neue Daten geladen. Auf dem Gerät des Nutzers bleibt in der Regel nichts zurück. Einige Anbieter nutzen auch eine Technik, bei der Musikdaten auf den Geräten der Nutzer bleiben und von dort aus zu anderen Nutzern übertragen werden.



Mieten ist das neue Haben – auch in Sachen Musik: Der populärste Streamingdienst heißt Spotify.

Welche Anbieter gibt es?

Allein in Deutschland konkurrieren mittlerweile etwa 20 verschiedene Anbieter von Streamingdiensten für Musik miteinander. Zu den Größten gehören Spotify, Napster, Rara, Deezer, Simfy, Rdio, Juke, Amypa und Wimp. Auch Google bietet seit einigen Wochen Musikstreaming an.

Ist Musikstreaming legal?

Ja, alle Anbieter haben Verträge mit der Musikindustrie abgeschlossen, die es ihnen erlauben, die Daten auszuliefern. Das gilt auch für Napster. Der Streamingdienst war einst als sogenannte Tauschbörse gestartet, bei der Nutzer untereinander kostenlos Daten austauschen konnten. Der Streamingdienst, der mittlerweile zum amerikanischen Dienst Rhapsody gehört, hat mit dem ursprünglichen Unternehmen nur noch den Namen gemein.

Welche Geräte braucht man?

Streams können auf Smartphones, Tablets und Computern abgespielt werden. Für manche Dienste muss ein eigenes Programm installiert werden, manche – wie etwa der von Google – lassen sich auch über einen Browser abrufen. Darüber hinaus etabliert sich eine neue Klasse von Musik-Abspielgeräten, die ans Internet angeschlossen werden und Musik auch auf mehreren dieser Abspieler wiedergeben können. Ältere Stereoanlagen können Streams nicht ohne Weiteres abspielen, es gibt aber Zusatzgeräte, die man anschließen kann und die diese Fähigkeiten nachrüsten.

Was kostet Musikstreaming?

Die meisten Anbieter verlangen für eine Basis-Version fünf Euro pro Monat, für zehn Euro im Monat darf der Dienst auch auf mobilen Geräten genutzt werden. Einige der Dienste erlauben auch, eine begrenzte Anzahl von Titeln auf einem Gerät zu speichern, zum Beispiel, wenn man in den Urlaub fahren will und im Ausland kein mobiles Datennetz zur Verfügung hat. Einige Streamingdienste bieten auch ein sogenanntes Freemium-Modell an. Eine etwas eingeschränkte Version des Dienstes steht dabei kostenlos zur Verfügung, zusätzlich müssen die Nutzer auch Werbeeinblendungen hinnehmen.

Was bekommen die Künstler ab?

Während eine Band von einer verkauften CD bis zu drei Euro erhält, sind es bestenfalls einige Cent, wenn dasselbe Album gestreamt wird. Es macht also die Masse das Geschäft. Künstler, die eher kleinere Nischen bedienen, schneiden daher beim Streaming schlecht ab. Manche Künstler haben daher untersagt, dass ihre Musik gestreamt wird. Die Streamingdienste bezahlen auch die Gebühren für Verwertungsgesellschaften wie die Gema.

Wie viel Datenverkehr verursacht Musikstreaming?

Im Durchschnitt geht pro Minute Musik etwa ein Megabyte an Daten über die Leitung, je nachdem, mit welcher Qualität die Daten gestreamt werden. Wer die Dienste intensiv nutzt, sollte deshalb über eine Flatrate mit dem Internet verbunden sein, sonst kann es bei der Monatsabrechnung zu bösen Überraschungen kommen. Bei mobilen Datentarifen gibt es zwar auch Flatrates, doch in aller Regel sind diese nicht wirklich unlimitiert, sondern bieten zügige Anbindung nur bis zu einer gewissen Grenze, zum Beispiel 500 Megabytes pro Monat. Danach wird die Verbindungsgeschwindigkeit stark gedrosselt, für Streaming reicht es dann meistens nicht mehr. Um das Problem zu umgehen, bietet beispielsweise die Telekom einen speziellen Tarif in Kooperation mit dem Streamingdienst Spotify an. Die Streaming-Daten werden dabei nicht in das normale Datenkontingent eingerechnet. Um Daten zu sparen, werden an mobile Geräte in der Regel stärker komprimierte Musikdateien ausgeliefert.

Wie ist die Klangqualität?

Für Klangästheten ist schon der Kompromiss, den die Industrie für das CD-Format einging, zu weitgehend, weil er zum Beispiel die Dynamik – den Unterschied zwischen laut und leise – begrenzt. Die Qualität der meisten Streamingdienste liegt noch einmal darunter, weil die Musik von CDs vor der Übertragung komprimiert, also zusammengequetscht wird, um Datenvolumen einzusparen. Dabei geht immer etwas Klangqualität verloren, je nachdem wir stark die Dateien komprimiert werden. Eine der Ausnahmen ist der Dienst Wimp, der ausschließlich verlustfrei gespeicherte Musikdateien im Angebot hat.
Wie findet man seine

Lieblingsstücke?

Elektronische Musikdateien enthalten auch Informationen zum Beispiel über den Titel des Stücks, des Albums und den Künstler. In den riesigen Datenbanken der Anbieter werden die Stücke nach diesen Oberbegriffen gespeichert. Für klassische Musik taugt dieses System allerdings nicht so gut, weil dasselbe Stück oft von vielen Künstlern aufgenommen wurde. Das Gewünschte zu finden, ist dann nicht immer einfach. Viele Dienste beziehen ihren Reiz jedoch daraus, dass sie Vorschläge machen, die zu den musikalischen Vorlieben der jeweiligen Nutzer passen. Sie erlauben es auch, Listen von Stücken anzulegen, sogenannte Playlists, die dann nacheinander abgespielt werden.

Hört, hört

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Jeff Bezos zählt eher nicht zu jenen Asphalt-Cowboys, mit denen man angetrieben von ein paar coolen Sounds an der amerikanischen Westküste entlangcruisen will. Der Gründer und Chef des Internetkonzerns Amazon ist einer jener Zeitgenossen, die mit Musik nichts anfangen können. Wenn Bezos in früheren Zeiten längere Autofahrten unternahm, so steht es in einem Buch über ihn, kaufte er im Supermarkt stapelweise CDs aus der Grabbelkiste. Egal was, Hauptsache im Hintergrund läuft irgendein Gedudel.



Amazon hat gestern seinen Streamingdienst in den USA gestartet. Der soll in erster Linie das Prime-Angebot attraktiver machen, keine Konkurrenz zu anderen Anbietern sein. 

Inzwischen ist Bezos einer der einflussreichsten Unternehmer der Welt und weil seine Firma einen wachsenden Teil des Umsatzes mit dem Verkauf digitaler Medien verdient, interessiert sich der 50-Jährige nun gezwungenermaßen für Musik. Bislang verkaufte er sie lediglich. Am Donnerstag nun ist sein Unternehmen auch in den schnell wachsenden Markt des Musikstreamings eingestiegen, mit dem Kunden immer und überall digital Musik hören können. Amazon hat – vorerst nur in den USA – einen eigenen Streamingdienst gestartet: Prime Music.

Das Angebot ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings weniger eine Konkurrenz für bestehende Anbieter wie Spotify, Rdio, Google Music oder das jüngst von Apple geschluckte Beats Music. Bezos verfolgt mit seinem Musikdienst offensichtlich einen größeren Plan: Er will damit das Premium-Kundenprogramm namens Amazon Prime attraktiver machen. Prime muss man sich wie einen Buchclub für das Internetzeitalter vorstellen: Der Kunde zahlt eine Jahresgebühr von 99 Dollar. Dafür bekommt er alle seine Bestellungen bei Amazon innerhalb von zwei Tagen nach Hause geliefert, versandkostenfrei. Außerdem können Prime-Kunden beispielsweise kostenlos E-Books ausleihen oder Filme und Fernsehserien anschauen. Nun kommt noch das werbefreie Musikhören dazu.

Das Kalkül des Angebots ist klar: Die Kunden sollen eng an Amazon gebunden werden. Möglichst so eng, dass sie irgendwann gar nicht mehr so leicht davon loskommen. Wer einmal eine Jahresgebühr für kostenlose Lieferungen bezahlt, will natürlich auch, dass sich das Geschäft rentiert und bestellt häufiger. Wer seine Filme über Amazon schaut, kauft vielleicht auch mal einen der Tablet-Computer des Unternehmens und lädt sich einen kostenpflichtigen Blockbuster.

Zahlen wie sich das Rundum-Wohlfühlprogramm Prime auf den Umsatz des Konzerns auswirkt, gibt es nicht. Amazon schweigt offiziell auch über die Zahl seiner Premium-Kunden. Unter Branchenkennern ist immer wieder von mindestens 20 Millionen die Rede. Das wäre viel: 244 Millionen Kunden hat Amazon eigenen Angaben zufolge insgesamt. Indirekt würde Amazon damit quasi über Nacht zu einem der größten Streaming-Anbieter. Der bisherige Marktführer, das schwedische Start-up Spotify, hat nach eigenem Bekunden zehn Millionen zahlende Kunden, 31 Millionen hören mit Werbeeinblendungen.

Dennoch dürfte bei Spotify am Donnerstag keine Panik ausgebrochen sein: Noch sind die Schweden dem neuen Konkurrenten massiv überlegen. Zum Start umfasst der Musikkatalog bei Amazon gerade einmal etwas mehr als eine Million Titel. Bei Spotify sind es um die 20 Millionen. Der eher minimalistische Amazon-Ansatz ist aus der Not geboten: Wie die New York Times berichtet, verliefen die Verhandlungen mit der Musikindustrie recht holprig. Die Universal Music Group, das größte Plattenlabel der Welt, hat die Verhandlungsführer des Versandhändlers nicht zu einer Einigung bewegen können. Sony und Warner Music sind zwar dabei, aber ihr Musikkatalog steht nur eingeschränkt zur Verfügung. Neue Songs sollen erst nach sechs Monaten freigeschaltet werden. Das hat absurde Folgen: Aus der Top Ten der Billboard-Charts ist gerade einmal ein einziger Song bei Prime Music gelistet. Noch ist der Dienst wenig mehr als eine digitale Musik-Grabbelkiste.

Amazon habe den Labels nur wenig Geld für das Streaming ihrer Musik geboten, heißt es in der New Yorker Zeitung. Insgesamt sei der Konzern aus Seattle bereit gewesen, 25 Millionen Dollar auszugeben. Es wäre allerdings falsch, aus dem überschaubaren Startangebot zu schließen, dass Amazon das Engagement in diesem neuen Geschäftsfeld nicht ernst meint. Bezos pokert oft. Er lässt nicht gerne in die Karten schauen, startet klein und wächst dann schnell.

Den wahrsten Satz über Bezos hat vielleicht einmal der Techcrunch-Kolumnist MG Siegler formuliert. Siegler schrieb, Bezos sei jemand, der so lange unterhalb des Radars fliege, bis er den Radar kaufen könne. Und die Firma, die alle Radare herstelle auch. Gut möglich, dass die Strategie beim Musikstreaming ähnlich ist. Langsam anfangen und dann mit großer Marktmacht den Druck auf die Labels erhöhen.

Glaubt man der Fachpresse, dann wird Amazon der Öffentlichkeit nach Monaten der Spekulation in der kommenden Woche ein eigenes Smartphone vorstellen. Sieben Jahre nachdem Apple das iPhone auf den Markt gebracht hat. Die Amazon-Konkurrenten sollten nicht darauf vertrauen, dass es auch beim Musikstreaming so lange dauert, bis das Unternehmen voll durchstartet. 

Afghanische Sehnsucht

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München/Kabul – Noch geben sich beide Seiten offiziell unbeugsam. „Wenn ich, was ich nicht tue, die Taliban militärisch beriete, würde ich ihnen erzählen, dass sich ihre Verhandlungsposition nicht verbessert, sondern ausgehöhlt wird“, kommentierte US-Generalstabschef Martin Dempsey die afghanische Präsidentschaftswahl. Schließlich hätten Millionen Menschen schon in der ersten Runde mit ihrer Stimmabgabe deutlich gemacht, dass sie ein demokratisches System wollen und keine Rückkehr zum Taliban-Regime. Wenn sie ehrlich wären, müssten die Islamisten einräumen, dass sie eine „Sinnkrise“ durchmachten, befand Dempsey.



Am Samstag entscheiden die Afghanen in einer Stichwahl über den neuen Präsidenten.

Die Aufständischen geben sich von solchen Sätzen völlig unbeeindruckt. Auch sie halten nach offizieller Lesart an ihrer Position fest: „Wir glauben, um Frieden in Afghanistan zu erreichen, ist die wichtigste Bedingung die Freiheit und der Totalabzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan. Andernfalls wird der Kampf weitergehen“, sagte ein afghanischer Taliban-Sprecher der Süddeutschen Zeitung am Donnerstag am Telefon. Die Kabuler Regierung habe sich den „Invasoren“ angedient und damit die afghanische Geschichte „beschädigt“. Nach wie vor wollten die Taliban zu einem rein islamischen Staatssystem zurückkehren, betonte er.

An diesem Samstag entscheiden die Afghanen nun in einer Stichwahl, wer nach Hamid Karsai das Präsidentenamt in Afghanistan übernehmen soll: Abdullah Abdullah tritt leicht favorisiert gegen Ashraf Ghani an. Es ist ein Duell früherer Kabinettsmitglieder: Außen- gegen Finanzminister. Egal, wer gewinnt, die wichtigste Aufgabe des neuen Staatschefs wird es sein, eine Aussöhnung mit den Taliban zu erreichen.
Karsais Verhältnis zu Washington war vor allem zum Ende hin so von Misstrauen geprägt, dass keine gemeinsame Linie für Gespräche mit den Taliban gefunden wurde. Die Ausgangssituation für seinen Nachfolger ist schwierig, der Krieg ist in einer Pattsituation: Die USA werden den Kampfeinsatz, der Ende des Jahres ausläuft, nicht siegreich beenden. Aber auch die Taliban werden Kabul nicht gleich überrennen und wieder ihr Regime etablieren können.

Abdullah und Ghani betonen beide, dass sie ein von Karsai mit den USA ausgehandeltes Sicherheitsabkommen unterzeichnen werden. Unter dem neuen Präsidenten sollen demnach etwa 12000 westliche Soldaten bis 2016 in Afghanistan bleiben und die einheimischen Sicherheitskräfte weiterhin trainieren. Maximal zwei Jahre noch, dann soll der Afghanistan-Einsatz Geschichte sein.

Die Zeit ist also auf Seiten der Taliban. Trotz anderer Rhetorik haben sie aber gezeigt, dass sie sich Verhandlungen nicht mehr völlig verschließen. Der vom Emirat Katar vermittelte Gefangenenaustausch von fünf Islamisten aus Guantanamo im Gegenzug für den amerikanischen Soldaten Bowe Bergdahl widerlegt zumindest die Ansicht, dass Washington und die Taliban keinerlei Deals erzielen können.

Nach Ansicht von Wakil Ahmad Motawakil, dem letzten Außenminister des Taliban-Regimes, ist dieser Austausch ein positiver Schritt, der die Hoffnung auf Frieden in Afghanistan nährt. Er ist nicht mehr für die Islamisten tätig, sondern lebt unbehelligt in Kabul. Seiner Meinung nach gibt es aber Signale, dass sich seine früheren Weggefährten mit einem Kompromiss zufrieden geben könnten: „Die gegenwärtige Situation ist sowohl für die Regierung als auch die Taliban unbefriedigend. Weil sich das Land in einem Kriegszustand und Unsicherheit befindet, kann nichts vorangehen“, sagt Motawakil der SZ am Telefon. Er skizzierte auch, wie ein Friedensschluss mit den Taliban aussehen könnte. Entscheidend sei, wie der neue Präsident auf die Islamisten zugehe. Gerade in der ersten Phase seiner Amtszeit muss der neue Mann im Kabuler Palast nach Motawakils Überzeugung den Grundstein legen für eine breite Übergangsregierung, die alle afghanischen Machtgruppen und somit auch die Taliban einbezieht. Auch müssten die Islamisten in die afghanische Armee integriert werden und bei zukünftigen Wahlen antreten dürfen. „In diesem Fall wäre ein Frieden möglich“, sagt er. Die Führungsebene der Islamisten lasse durchblicken, dass sie an „einer Ko-Existenz und Machtteilung mit anderen Afghanen und einem System, das einen breiten Ansatz verfolgt“, interessiert sei, sagt der ehemalige Außenminister.

Nach wie vor fällt Pakistan eine zentrale Rolle zu für einen Frieden in Afghanistan. Denn hier finden zahlreiche hochrangige Taliban-Kommandeure Unterschlupf. Auch gibt es immer wieder den Vorwurf, der Geheimdienst unterstütze Teile der Aufständischen, was Pakistan zurückweist. Die USA töteten am Donnerstag bei Drohnenangriffen an der Grenze zu Afghanistan 16 Menschen – angeblich ausschließlich Extremisten, was sich nicht unabhängig prüfen lässt.

Nach Angaben eines Sicherheitsanalysten in Islamabad unterhalten Teile der Taliban mit dem Segen ihres Chefs Mullah Omar Kontakte zum Hohen Friedensrat, der im Auftrag der afghanischen Regierung Friedensgespräche anbahnen soll. Angeblich sollen sie auch Abdullah ausgerichtet haben, dass sie mit ihm reden wollen, falls er die Wahlen in Afghanistan gewinnt. Bis zu solchen Gesprächen ist es aber noch ein weiter Weg. In der vergangenen Woche überlebte der Kandidat einen Anschlag nur knapp. Zwar übernahm niemand die Verantwortung für die Attacke. Aber der afghanische Geheimdienst erklärte, die Drahtzieher für das Attentat kämen aus Pakistan.

„Guten Abend, ihr Monster“

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Das Wort „Netzneutralität“ weckt Assoziationen an Datenschutzbeauftragte mit anstrengenden Nachnamen. Ein magensaures Thema und nicht komisch. Käme man in Deutschland auf die Idee, in einer Late Night Show die komplizierte Netzneutralität zum Thema zu machen, und zwar für das 13-minütige Solo eines einzelnen Mannes, würden die Programmverantwortlichen sagen: Klar, und nächste Woche machen wir Comedy zum „Schraubenschlüssel, gestern, heute, morgen.“



Bis vor kurzem John Olivers Fernseh-Heimat: Die Daily Show von Jon Stewart (rechts), bei der auch schon mal Barack Obama zu Gast war.  

In den USA, beim privaten Sender HBO, ließ man den Briten John Oliver nicht nur die Netzneutralität in seiner Show Last Week Tonight behandeln, sondern auch noch die Todesstrafe. Die Todesstrafe? Als 13-Minüter in einer Comedy-Show? Ja. Und danach kam die Fifa dran. Die Fifa in den USA zu behandeln, ist dort als Programmidee absurder, als hierzulande den Musikantenstadl rückwärts ausstrahlen zu wollen. Wer dann aber Olivers Sendungen zu Hinrichtung, Fußball und Fifa, zur Wahl in Syrien und vor allem zur Netzneutralität gesehen hat, der weiß: Dieser Mann könnte auch den Musikantenstadl rückwärts moderieren.

In Last Week Tonight behandelt Oliver an einem Abend pro Woche das bedeutendste Thema der zurückliegenden Woche. Je nach Nachrichtenlage sind das eben schwer verdauliche Dinge. Oliver, der aussieht wie eine Doppelhaushälftenausgabe von Harry Potter, macht sich an jedes mit heiterem Ernst.
Mal wieder HBO, der Sender, der auch in anderer Beziehung Stroh schon zu Sendegold gemacht hat. Ja, die Leute, die so nahrhafte Serien wie True Detective, Game of Thrones, Boardwalk Empire, Girls und Curb Your Entusiasm auf Sendung bringen, können auch Comedy in Nischen, die man hierzulande als unzugänglich für Humor erachtet. Beziehungsweise: Sie erkennen, dass Leute wie der 36-jährige John Oliver das Talent besitzen, den Amerikanern die europäische Fußballbegeisterung etwa so zu erklären: „Ich weiß, dass in den USA Soccer jener Sport ist, von dem man seine zehnjährige Tochter abholt. Aber für mich und jeden anderen auf dem Planeten ist er etwas bedeutender. Als etwa David Beckham mit dem Christus-Tattoo auflief, sagten Fußballfans in ganz Europa: Wow, das ist jetzt ganz wunderbar für Jesus.“ Die Sendung zur Todesstrafe leitete er ein mit den Worten: „Todesstrafe? In der zweiten Sendung einer Show, von der man noch nicht mal sagen kann, ob man sie mag? Schalten Sie nicht ab! Wenn Sie bis zum Ende durchhalten, zeigen ich Ihnen danach einen Film, in dem entzückende Hamster Burritos knuspern.“ So geschah es.

Man kennt den Mann als Sidekick in der Daily Show von Jon Stewart, den er seit 2006 als „Senior British Correspondent“ mit seinen punchigen Beiträgen beglückte. Für diese bekam er massenhaft Emmys, und obwohl er eigentlich nur Autor sein sollte, schaffte er es recht bald auch vor die Kamera. Im vergangenen Sommer hat Oliver dann Jon Stewart für acht Wochen als Anchorman vertreten. Man munkelte, dass Oliver damit ein Bewerbungsschreiben für die Nachfolge von Craig Ferguson in der Late Late Show bei CBS abgegeben habe. Irrtum: Seit dem 27. April ist er für HBO auf Sendung – und für alle Nicht-HBO-Abonnenten auf Youtube zu erleben.

Die erste Sendung gipfelte in der Aufforderung, die Aufgabe der Netzneutralität auf der Webseite der zuständigen Federal Communications Commission (FCC) zu kommentieren: „Ich kann kaum glauben, dass ich das jetzt tue“, begann Oliver, „aber ich werde die Internet-Kommentatoren nun direkt ansprechen: Guten Abend, ihr Monster! Das ist die Gelegenheit, auf die ihr hintrainiert habt. Jetzt brauchen wir eure schlecht geschriebene Galle. Wir wollen, dass ihr eure wahllose Wut mal in eine nützliche Richtung lenkt. Nutzt den Augenblick, Trolle, klemmt die Feststelltaste ein und fliegt, meine Hübschen! Fliegt!“ Die Washington Post vermeldete darauf, dass die Server der FCC von 45000 Neukommentaren lahmgelegt wurden.

Weltkongress der Aufdecker

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Am 30. Juli 1778 forderte der amerikanische Kontinentalkongress, dass „alle Personen im Dienste der Vereinigten Staaten, sowie alle ihre anderen Bewohner, den Kongress oder andere geeignete Stellen so früh wie möglich über Fehlverhalten, Betrügereien oder Vergehen unterrichten, die von irgendeinem Offizier im Dienste dieser Staaten begangen wurden, und welche zu ihrer Kenntnis gelangen sollten“.



Begleitete Edward Snowden auf seiner Flucht aus Hongkong und lebt nun in Berlin: Sarah Harrison.

Die Idee, dass Menschen, die über verborgene Missstände und Rechtsbrüche informiert sind, die Öffentlichkeit ohne Angst vor Verfolgung darüber aufklären können müssen, ist also, wie man in den USA sagt, „as American as apple pie“ und älter als die Stadt Washington. Doch 2014 ist das längst nicht mehr so einfach, vor allem dann nicht, wenn es um Staatsgeheimnisse geht. Edward Snowden hängt seit einem Jahr im Exil in Russland fest, Chelsea Manning sitzt 35 Jahre Haft ab.

„Die Welt braucht Menschen, die die Wahrheit sagen. Und die brauchen Courage“, so steht es am Mittwoch auf einem Bildschirm in Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte. Wobei mit Courage die neue Hilfsorganisation für Whistleblower gemeint ist, die Sarah Harrison vor einigen Dutzend geladenen Gästen aus Medien, linker Intelligenz und Netzaktivismus vorstellt.

Harrison, die britische Wikileaks-Aktivistin, die Snowden auf seiner Flucht aus Hongkong begleitete, und die nun in Berlin lebt, weil sie befürchtet, in der Heimat festgenommen zu werden, wird die Organisation mit Sitz in Deutschland, Großbritannien und den USA leiten. Entstanden ist sie aus dem Spendenfonds für die anwaltliche Verteidigung Edward Snowdens. Er ist auch ihr erster Nutznießer. Courage soll Mittel für die Verteidigung von Whistleblowern sammeln, Anwälte bereitstellen und Kampagnen durchführen, um den Schutz der Aufklärer zu sichern. Ein Startkapital hat man nicht. Courage sei „auf harte Arbeit und guten Willen“ angewiesen. Auf den guten Willen von Spendern also.

Ein „Notfallteam für die weltweite Demokratie“ solle die Organisation werden, so wünscht es sich Edward Snowden in einer Videobotschaft. Auch Julian Assange meldet sich per Skype aus London zu Wort. Die erste Publicitywelle ist wichtig, um den Schutz der Quellen zu sichern, um Ressourcen zu sammeln und wichtige Kontakte herzustellen, sagt Assange. Ebbt das Interesse ab, sei es oft zu spät.

Wie Harrisons Mitstreiter und Direktor des Londoner Centre for Investigative Journalism Gavin MacFadyen erklärt, soll es um Hilfe für journalistische Quellen verschiedenster Art, aber auch um ganz andere Arten von Whistleblowern gehen, nicht nur um die Kritiker des Überwachungsapparats. MacFadyen erinnert an den aus dem Film „Insider“ bekannten Fall von Jeffrey Wigand, jenem Forscher aus der Tabakindustrie, der Journalisten darüber informierte, dass Zigaretten abhängig machende Zusatzstoffe beigefügt wurden. Wigand, der seine Existenz verloren und schließlich als einfacher „Physiklehrer in North Carolina“ gearbeitet habe, habe man eine Pistolenkugel mit der Post geschickt. Auf höheren politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsebenen seien die Risiken noch größer. Leider erläutern die Courage-Gründer nicht genauer, wie dieser Schutz der bürgerlichen Existenz und gar des Lebens von Whistleblowern gewährleistet werden kann – über anwaltlichen Beistand und PR-Kampagnen hinaus.

Edward Snowden erfreue sich derzeit großer Solidarität, sagt sein deutscher Anwalt Wolfgang Kaleck, aber die werde er auch in einem, drei oder fünf Jahren noch brauchen. Man müsse sich, mahnt Kaleck, auf einen Langstreckenlauf einstellen.

Spannungen zwischen Kiew und Moskau eskalieren

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Die ukrainische Regierung droht mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Russland und einer kompletten Schließung der Grenzen zum Nachbarland. Das sagte der ukrainische Außenminister Andrij Deschtschyza in Kiew vor dem Gebäude der russischen Botschaft. Dort war es in der Nacht zum Sonntag zu Ausschreitungen nach Protesten gekommen. Diese richteten sich gegen den Abschuss einer ukrainischen Militärmaschine durch prorussische Separatisten bei Lugansk, bei dem 49 Soldaten starben.



Der Spielraum für friedliche Lösungen wird enger: Der ukrainische Außenminister Andrij Deschtschyza droht mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen und der Schließung der Grenzen zu Russland.

Deschtschyza war persönlich in der Nacht vor die Botschaft geeilt, um die Demonstranten zur Besonnenheit aufzurufen. Dort verkündete er, dass bei der für diesen Montag geplanten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats die Frage einer vollständigen Grenzschließung diskutiert werde. Er könne sich auch einen Abbruch der Beziehungen als Reaktion auf die fortwährende Unterstützung der Separatisten durch Moskau vorstellen, so der Minister. Moskau protestierte nach den Krawallen vor seiner Kiewer Botschaft gegen „die provozierenden Aktionen“ und die „Schändung“ der russischen Flagge.

Der neue Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, hatte am Samstag nach dem Abschuss der Militärmaschine in einer TV-Ansprache für den Sonntag landesweite Staatstrauer ausgerufen – und gleichzeitig Vergeltung angekündigt. Die Armee werde umgehend reagieren, so Poroschenko. Er habe den Befehl erteilt, die „Terroristen in die Enge zu treiben und die Grenzen zu Russland unter Kontrolle zu bringen“. Auch EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy forderte Russland vehement auf, die Grenzen zur Ukraine stärker zu kontrollieren. Es gebe keinen Zweifel, so Van Rompuy, dass die „bewaffneten Kämpfer, die Terror verbreiten, auswärtige Unterstützung genießen – Waffenlieferungen und Verstärkung durch ausländische Kämpfer eingeschlossen“. Russland trage eine Hauptverantwortung dabei sicherzustellen, „dass jegliche derartige Lieferungen und auswärtige Unterstützung über seine Grenzen hinweg sofort gestoppt werden“.

Nicht nur wegen der Kampfhandlungen in der Ostukraine wird der Ton zwischen Kiew und Moskau wieder schärfer. Auch die Verhandlungen über Gaslieferungen aus Russland kommen unter dem Eindruck der militärischen Eskalation nicht vom Fleck. Russland hatte für Wochenbeginn einen Lieferstopp angedroht. Die beiden Parteien trafen sich zwar am Sonntagabend noch einmal unter Vermittlung von EU-Energiekommissar Günther Oettinger – aber „ohne Ergebnis“, wie die ukrainische Regierung mitteilte.

Moskau fordert die Tilgung offener Rechnungen für geliefertes Gas, Kiew will erst einen Rabatt aushandeln. Der vom Kreml kontrollierte Energieriese Gazprom erwartet von der Ukraine die Zahlung von etwa 1,44 Milliarden Euro bis zu diesem Montag. Der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk hat die Behörden angewiesen, Vorkehrungen für einen möglichen Lieferstopp zu treffen. Ein solcher Lieferstopp hätte auch Auswirkungen auf mehrere EU-Staaten. 

Der Osten ist grün

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Normalerweise verlässt man einen Raum, um frische Luft zu atmen. In Peking träumt man vom Gegenteil: Eine internationale Architekturfirma schlägt gerade vor, über einem Park in Peking ein künstliches Zelt aufzuspannen. Darin ein für dortige Verhältnisse seltener Inhalt: Frischluft. Von Smog befreit, könnten Menschen darin flanieren und durchatmen, schwärmen die Planer. Auch angrenzende Einkaufszentren und Bürogebäude könne man an das Habitat anschließen – gegen Aufpreis natürlich.



Der Smog mindert die Lebensqualität in Peking.

So groß ist die Sehnsucht der urbanen Chinesen nach sauberer Luft mittlerweile, dass Geschäftsideen wie diese blühen. Ein chinesischer Künstler verkaufte schon Frischluft aus Frankreich in Marmeladengläsern; ein Reisebüro karrte Sauerstoff aus den Bergen in blauen Ballons verpackt in die Millionenmetropole Zhengzhou. Die Bewohner standen Schlange. „Ich konnte mein Baby in meinem Bauch spüren“, berichtete eine junge Frau freudig. Das Kind habe sich geregt, als sie die Bergluft atmete.

Wang Canfa kennt diese Sorgen der Chinesen sehr gut. Der Pekinger spaziert durch Freiburg im Breisgau, eine Sonnenbrille auf der Stirn, und schwärmt von den Blumen, dem blauen Himmel, der friedlichen Atmosphäre, dem deutschen Essen. Man könnte den 55-Jährigen mit seinem roten Rucksack und seiner beigen Jacke leicht mit einem Touristen verwechseln – doch Wang ist einer der einflussreichsten Umweltanwälte Chinas. Seit über fünfzehn Jahren zieht er für Opfer von Verschmutzung vor Gericht. Gegen Fabriken, die verschmutztes Abwasser ins Grundwasser pumpen; gegen Geschäftemacher, die Industriechemikalien in Hinterhöfen abladen; selbst gegen den chinesischen Staat hat Wang schon vor Gericht gewonnen. Das Time Magazine würdigte ihn für sein Werk als „Hero of the Environment“.

Der Professor für Umweltrecht der Universität Peking ist nicht nur entspannt, weil er auf Reisen in Europa ist. Sondern weil er glaubt, dass sich gerade einiges in seinem Heimatland ändert. „Im letzten Jahr sind so viele Angeklagte wegen Umweltvergehen verurteilt worden wie in den letzten zehn Jahren zusammen“, sagt Wang. Das ist zum Teil auch sein Verdienst: Mehr als 200 Anfragen erhält das von ihm gegründete „Zentrum für rechtliche Unterstützung von Verschmutzungsopfern“ pro Monat. Seine Mitarbeiter besorgen den Hilfesuchenden Anwälte, legen sich mit lokalen Parteikadern und Fabrikbesitzern an. Die Anwälte haben so etwa ein Tierversuchslabor in Peking gestoppt, eine Fabrik zum Wegzug aus einem Siedlungsgebiet gezwungen, von einer Papiermühle umgerechnet 500 000 Euro Schadenersatz erstritten. Für schwierige Fälle müssen die Juristen bis zu sieben Jahre lang kämpfen, um ein Urteil zu erreichen, sagt Wang.

Über Peking sagte ein Landwirtschafts-professor kürzlich, der Smog sei so dicht, dass die Photosynthese nicht mehr richtig funktioniere. Tomaten am Boden bräuchten zwei Monate statt zwanzig Tage, um zu reifen. Wangs Prozesse sind ein wenig wie diese Tomaten. Sie sind ständig bedroht vom Smog der Bürokratie und der Vetternwirtschaft, Parteifunktionäre beeinflussen Urteile häufig in ihrem Sinn. „Aber wir sensibilisieren die Menschen für den Weg der Gesetze“, sagt Wang. Die Fälle werden auf der Webseite oder in sozialen Netzwerken veröffentlicht.

Und seine Arbeit findet zunehmend Protektion von ganz oben. „Die rechtliche Situation von Opfern von Umweltverschmutzung hat sich verbessert“, sagt Wang optimistisch. Vor zehn Jahren sprach kaum jemand über Umweltsünden. Heute sei jeder durch das Internet über die aktuellen Feinstaubwerte informiert. Umweltbildung soll künftig per Gesetz in den nationalen Lehrplänen verankert werden. Im April beschloss der Volkskongress eine Reform des Umweltschutzgesetzes, zum ersten Mal seit 1989. Die Strafen für Umweltvergehen werden verschärft, auch Beamte können nun wegen Untätigkeit belangt werden. Whistleblower, die Vergehen öffentlich machen, sollen besser geschützt werden.

Denkt das Reich der Mitte beim Umweltschutz um? In jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, besonders bei der Energieversorgung. Billiger Strom aus Kohle war über Jahre der Motor des chinesischen Aufschwungs – jetzt will die Regierung den Ausbau der Kohlekraft erstmals abbremsen.

Sechs Provinzen wollen ihren Kohleverbrauch von sich aus verringern, weiteren Regionen will die Zentralregierung Obergrenzen vorsetzen. In zehn Provinzen sei der absolute Kohleverbrauch bereits gesunken, schreibt die Ostasien-Abteilung von Greenpeace in einer aktuellen Studie. Die Umweltschützer sprechen schon vom „Ende des chinesischen Kohlebooms“. Die Ankündigung von US-Präsident Barack Obama, die Emissionen aus Kohlekraftwerken um 30 Prozent zu senken, könnte auch China in der jetzigen Strategie weiter bestärken. Steuert das Reich der Mitte tatsächlich um, wären die Effekte global: Im vergangenen Jahrzehnt entsprang mehr als die Hälfte des globalen Anstiegs der CO2-Emissionen Chinas Kohleöfen. Alleine die Provinz Shandong verfeuert so viel Kohle wie Deutschland und Japan zusammen.
Von westlichen Beobachtern fast unbemerkt hat China nun auch einen eigenen Emissionshandel eingeführt. In sechs Städten oder Provinzen – Peking, Guangdong, Hubei, Shenzhen, Shanghai und Tianjin – müssen Unternehmen nun bezahlen, um CO2 in die Luft zu pusten. Selbst diese vereinzelten Pilotprojekte machen den chinesischen Emissionsmarkt nach der EU zum zweitgrößten der Welt; der Preis für eine Tonne Kohlendioxid liegt über dem der EU. „In China könnte der Emissionshandel den größten Einfluss haben“, schreibt Changhua Wu, die chinesische Direktorin der Klimaschutzorganisation Climate Group, in der New York Times.

Zunehmend investiert Peking auch in erneuerbare Energien. In der Gesamtbilanz bleiben sie mit rund zwei Prozent bescheiden, doch selbst das ist ein riesiger Schritt. Alleine die 2013 in China installierten Photovoltaik-Anlagen liefern so viel Strom wie ein Dutzend Atomreaktoren, vor der Küste entstehen große Windparks. An einer weiteren Front experimentieren die Energieunternehmen mit neuen CCS-Techniken (Carbon Dioxide Capture and Storage), mit denen Kohlendioxid aus Kraftwerken unterirdisch gespeichert werden soll. In vier Pilotanlagen wird das CCS-Verfahren schon getestet, elf weitere Großprojekte sind nach Informationen des World Resources Institutes in der Planungsphase.

Getrieben wird dieses umweltpolitische Umdenken kaum von Sorgen ums Weltklima. Die Umweltprobleme lähmen vielmehr den wirtschaftlichen Erfolg Chinas. Manchmal ist das buchstäblich zu verstehen: Wird der Smog zu dick, bleiben Flugzeuge am Boden kleben, neue Autobahnen stehen wegen der verkürzten Sichtweite leer. Die Reis- und Weizenernten könnten dramatisch fallen, warnen Klimaschützer, falls das Land nichts gegen die Erderwärmung unternimmt. Die Eliten haben genug von der verdorbenen Umwelt, manche Soziologen sprechen von der dritten großen Auswanderungswelle, die das Land in vier Jahrhunderten erlebt. Und auch die Expats, jene Klasse gut ausgebildeter Geschäftsführer, Berater und Jetsetter aus dem Westen, zieht es nicht mehr recht nach Fernost: In einer Umfrage der amerikanischen Handelskammer in Peking gab jede zweite von 365 befragten Firmen an, Bedenken über die Luftverschmutzung jagten ihre Führungskräfte davon oder hielten sie davon ab, überhaupt nach China zu kommen. Vor vier Jahren hielt noch weniger als jede fünfte Firma die Umweltverschmutzung für ein Hindernis, Bewerber zu finden.

„Besonders der Smog hat starke ökonomische Auswirkungen“, sagt Jost Wübbeke vom Mercator Institut für Chinastudien (Merics) in Berlin. Das Land habe daher ein starkes Interesse daran, den Kohleverbrauch zu reduzieren. Von einem Ende des Kohlebooms will Wübbeke aber noch nicht sprechen. „Der Verbrauch wächst langsamer, aber der Höhepunkt ist wohl erst 2020 erreicht.“ An Gesetzen, um Klima und Umwelt zu schützen, mangele es jedenfalls nicht, sagt der Umweltanwalt Wang Canfa. „Das Problem ist eher, dass nur ein Bruchteil der Paragrafen auch tatsächlich umgesetzt wird.“

Verantwortung zeigen, notfalls mit Gewalt

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Bundespräsident Joachim Gauck hat die Deutschen erneut aufgefordert, mehr Engagement bei internationalen Einsätzen zu zeigen, im äußersten Fall auch militärisch. Deutschland stehe an der Seite der Unterdrückten, sagte er Deutschlandradio Kultur. „Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.“ Gauck sagte, es habe „früher eine gut begründete Zurückhaltung der Deutschen“ gegeben, bei internationalen Einsätzen und Konfliktfällen aktiv zu werden. Heute sei das Land aber eine „solide und verlässliche Demokratie“, zu deren wachsender Verantwortung gehöre, den Einsatz militärischer Gewalt „als letztes Mittel nicht von vornherein zu verwerfen“.



Bundespräsident Joachim Gauck forderte im Deutschlandradio Kultur, Menschenrechte notfalls auch mit militärischer Gewalt zu erzwingen – und erntete prompt Kritik von vielen Seiten. 

Gaucks Äußerung, die er in weniger konkreter Form schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar vorgetragen hatte, stieß bei der Opposition im Bundestag auf scharfe Kritik. „Menschenrechte lassen sich nicht herbeibomben“, erklärte der außenpolitische Sprecher der Linkspartei, Jan van Aken. Gerade im Krieg kämen die Menschenrechte unter die Räder. Richtig sei lediglich, dass Deutschland „viel aktiver“ werden müsse, um auch international die Durchsetzung von Bürgerrechten und sozialer Gerechtigkeit zu unterstützen. Dies aber dürfe nicht militärisch geschehen. „Gaucks einseitiger Blick auf das Militärische ist hochgefährlich und vom Verfassungsauftrag der Bundeswehr in keiner Weise gedeckt“, so Jan van Aken. Ein Bundespräsident, der „quasi als Feldherr die Bundeswehr mit Hurra in alle Welt schicken“ wolle, stelle sich gegen die Bevölkerung und begebe sich ins Abseits.

Gauck hatte seine Bemerkungen am Ende einer dreitägigen Reise nach Norwegen gemacht. Dort war die norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg bei einer Pressekonferenz zu einem größeren internationalen Engagement Deutschlands befragt worden. Ihre Antwort: „Deutschland muss sein Verhältnis zur Welt normalisieren.“ Gauck war bei seinem Staatsbesuch immer wieder auf das Thema angesprochen worden, auch in einem Interview des Deutschlandradios. „Ich habe das Gefühl, dass unser Land eine Zurückhaltung, die in vergangenen Jahrzehnten geboten war, vielleicht ablegen sollte zugunsten einer größeren Wahrnehmung von Verantwortung, und da können wir von Norwegen zum Beispiel auch lernen“, sagte er. Norwegen habe sich in Friedensprozesse fernab des eigenen Landes eingebracht, etwa in Guatemala. „Das wünsche ich mir von Deutschland auch“.

Nun will Gauck seine Forderung nach mehr internationaler Präsenz aber keineswegs nur militärisch verstanden wissen. Vielmehr gehe es um ein ganzes Bündel diplomatischer, menschenrechtlicher und – als ultima ratio – auch militärischer Maßnahmen. Gefragt sei kein „deutsches Dominanzgebaren“ wie im vergangenen Jahrhundert. Vielmehr könnten Konflikte in aller Welt nur im engen Verbund der EU- und Nato-Staaten gelöst werden, wie dies derzeit etwa in der Ukraine versucht werde. Nicht immer und überall komme die Diplomatie am Ende ans Ziel. „So wie wir eine Polizei haben und nicht nur Richter und Lehrer, so brauchen wir international auch Kräfte, die Verbrecher oder Despoten, die gegen ihr eigenes Volk oder gegen ein anderes mörderisch vorgehen, zu stoppen“, sagte Gauck. „Und dann ist als letztes Mittel manchmal auch gemeinsam mit anderen eine Abwehr von Aggression erforderlich.“ 

Praktikant oder Profi?

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cMünchen – Als Erstes entschuldigt sich Andreas Hofer, 23, für den Anzug. So sehe er nicht immer aus. Der Student kommt gerade von einem Termin bei Siemens zurück ins Hauptquartier von Academy Consult, Münchens größter studentischer Unternehmensberatung. Auch am Abend herrscht hier noch reger Betrieb. Die leeren Bierkästen in der Küche deuten jedoch darauf hin, dass „Überstunden“ hier schon mal anders verbracht werden als bei McKinsey und Co.



Ein Unternehmen, das sich von Studenten ohne Praxiserfahrung beraten lässt: der internationale Baukonzern Bilfnger.

Wenn die Academy Consultans in Unternehmen auftauchen, sorgen sie gern für Verwirrung. Der Verein gibt bereits Studienanfängern die Gelegenheit, sich ins Businessoutfit zu werfen und Projekte in Firmen umzusetzen. Was klingt wie jugendlicher Größenwahn ist ein funktionierendes Geschäftsmodell: Die studentische Unternehmensberatung blickt auf rund 300 Projekte in knapp 15 Jahren zurück.

Es gibt sie also: Firmen, die sich von Studenten ohne Praxiserfahrung sagen lassen wollen, wie sie es besser machen können. Eines dieser Unternehmen ist der internationale Dienstleistungs- und Baukonzern Bilfinger. Bereits acht Mal hat die Firma in den vergangenen Jahren auf die Dienste von Academy Consult zurückgegriffen. Ein Faktor sei natürlich der Preis, sagt Michael Schmitz, Leiter der Abteilung Corporate Human Ressources. Viel wichtiger ist jedoch aus seiner Sicht, wie viel man für sein Geld bekomme. „Meine Erfahrung ist ausnahmslos“, sagt Schmitz, „dass die vermeintlich mangelnde Erfahrung der studentischen Berater durch ihre Flexibilität und Verantwortungsbereitschaft mehr als kompensiert wird.“

Während laut Schmitz Academy Consult gerade bei kleineren Projekten durchaus mit den Leistungen der großen Beraterfirmen mithalten könne, betonen die Vorstandsmitglieder Andreas Hofer, 23, und Michael Kastner, 20, selbst andere Stärken: einen frischen Blick, kein eingefahrenes Schubladendenken und die Nähe zur aktuellen Forschung. Ein weiterer Wettbewerbsvorteil: Sie werden häufig mit dem Praktikanten verwechselt. Nicht ganz ernst genommen zu werden, kann für Consultants ein Vorteil sein: „Für die Angestellten in den Firmen sind wir nicht der arrogante Berater“, erklärt Michael, „sondern ein interessierter Student.“ Dadurch seien die Mitarbeiter ihnen gegenüber offener, sprächen öfter Verbesserungswürdiges an, als sie es gegenüber den Anzugträgern von McKinsey oder der Boston Group tun würden.

Rund einhundert Studierende engagieren sich derzeit bei Academy Consult, darunter auch Lehramtsanwärter und sogar eine Theaterwissenschaftlerin: Elfi Harrasser. Die 23-Jährige sieht die studentische Unternehmensberatung als ideale Ergänzung zu ihrem eher wirtschaftsfernen Studienfach – später möchte sie im Kulturmanagement arbeiten. Bei ihrem ersten Projekt für den Verein unterstützte sie einen Singer-Songwriter bei der Vermarktung seines Albums. Neben etablierten Unternehmen berät Academy Consult auch häufiger kleine Start-Ups oder Personen, die sich die Tagessätze etablierter Berater nicht leisten können.

Bezahlt wird nur die Arbeit an externen Projekten mit Unternehmen – Academy Consult selbst darf als eingetragener gemeinnütziger Verein keinen Gewinn erwirtschaften. Alles, was sich hinter den Kulissen abspielt, etwa im Bereich Marketing oder Recruiting, erfolgt deshalb auf ehrenamtlicher Basis. Einige der Probeprojekte, die Einsteiger bei Academy Consult absolvieren, um ihre Fähigkeiten zu beweisen, unterstützen soziale Projekte. So entwickelten die Neuzugänge des vergangenen Jahres für die Caritas eine Imagekampagne zum Thema „Leben im Alter“.

Um bei Academy Consult aufgenommen zu werden, müssen sich die Studenten bewerben. Ausschlaggebend ist allerdings nicht ihr Notenschnitt, sondern ihre Motivation. Um Geld zu verdienen, sei eine Werksstudentenstelle wahrscheinlich lukrativer, wirft Andreas ein. Und auch dem Lebenslauf sei mit einem Praktikum mehr geholfen. „Aber hier bin ich Chef für 20 Leute und habe Umsatzverantwortung“, sagt der Maschinenbau-Student, gewählter Vorstand des Bereichs Kundenbetreuung. „Im Praktikum bin ich dagegen die Hilfskraft vom Dienst.“

Auch Michael, 20, der den Bereich Marketing betreut, weiß: Die Chance, ein Team aus 19 Leuten zu koordinieren, wird er nicht wieder haben. Seine erste Firma gründete er bereits in der Schule: Bei einem Schülerunternehmenswettbewerb gewann sein Lifestyle-Planer bayernweit den ersten Preis, er verkaufte 4000 Hefte. Am interessantesten findet er – wie auch Andreas – später selbst eine eigene Firma zu gründen. Laut den Organisatoren zeigt die Erfahrung: Nur rund ein Drittel der Alumni gehen nach dem Studium in die Unternehmensberatung. Genauso hoch sei die Quote an Absolventen, die später selbst ein Unternehmen gründen.

Nach dem Studium in einer Unternehmensberatung zu arbeiten, könne sich Andreas dagegen nur zeitweise vorstellen – nicht als „Endstation“. Das sei ihm zu intensiv. „Man muss sich irgendwann entscheiden, ob man arbeiten oder leben möchte“, sagt er – und nach einer Pause: „Und warum sollte ich die besten Jahre meines Lebens verbrennen?“

Nachrichten aus dem Netz

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Zum Beispiel Claus Kleber. Der Moderator des „Heute-Journals“ ist jetzt auch „auf Twitter“, wie man so sagt. Und dort twittert Kleber, der sonst mit viel professoraler Gravitas im Fernsehstudio doziert, Dinge wie: „Crazy!“, „Tipps, anybody?“, „U’ll C“ oder „Sonst: Hölle.“ Sowieso haben seine Sätze selten mehr als zwei Wörter, Kleber meistert die Kunst der Verknappung, die durch die 140-Zeichen-Grenze von Twitter geboten ist. Die Leute finden das großartig – nach nicht mal einer Woche hat der Mann, der von den alten Medien kam, mehr als 16000 Follower.



Ein Meister der Verknappung: Claus Kleber ist seit ein paar Tagen auf Twitter unterwegs – und hat schon jetzt mehr als 16000 Follower.

Zum Beispiel die CIA. Auch der amerikanische Geheimdienst hat seit Kurzem eine Repräsentanz auf Twitter. Ganz im bekannten Schlapphutstil lautete die erste Botschaft: „Wir können weder bestätigen noch dementieren, dass dies unser erster Tweet ist.“ Große Lacher allenthalben, mehr als 50000 Mal wurde der Gag retweetet. Zuletzt noch die Berliner Polizei. Die twitterte vorvergangenes Wochenende 24 Stunden lang einen jeden ihrer Einsätze. „Mann streift ohne Hose durch #Mitte“ und ähnliche Tweets bescherten 20000 neue Follower.

Lange Zeit fanden die Public-Relations-Abteilungen auf Twitter gar nicht statt. Sie waren zwar angemeldet, aber viel zu sehr darum bemüht, keine Fehler zu machen, ja nichts Kontroverses oder Missverständliches zu senden. Oder sie bezahlten Geld, um ihre Tweets in der Timeline der Nutzer sichtbar zu machen – was sich nicht großartig von konventioneller Werbung unterscheidet. Doch im Jahr 2014 können die Twitter-Accounts von Exekutiv-Organen und großen Konzernen klingen, als stammten sie von pubertierenden Teenagern. Sie streuen schwer dechiffrierbare Abkürzungen und Emoticons in die Nachrichten, sie nutzen den Zugriff auf das scheinbar unbegrenzte Arsenal beliebig remixbarer Memen. Und sie scheuen sich nicht, meckernde Kunden auch mal anzupflaumen. Weil die Erfahrung zeigt, dass unbeteiligte Beobachter das sehr komisch finden – und es dementsprechend gern teilen.

Doch egal ob Claus Kleber, CIA oder Polizei – alle drei sind auch beispielhaft für ein größeres Dilemma: Schnell drängt sich der Verdacht der Anbiederung beim neuen Publikum im Netz auf. Der erste Unmut über die Usurpation durch die Social-Media-Abteilungen regt sich bereits. In Zeiten, in denen jene – früher mal so vage definierten – „Social Media“ an manchen Universitäten schon als Aufbau-Studiengang gelehrt werden, bekommen die Plattformen, die sich angeblich durch authentische Botschaften und direktes Feedback auszeichnen, ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Von vielen Nutzern werden Twitter oder Facebook als Terrain wahrgenommen, auf dem die Konventionen der Mainstream-Kultur nicht gelten, in dem die Gesetze von Meinungsmacht und Manipulation außer Kraft gesetzt waren. Schon seit langer Zeit ist Ironie das vorherrschende Stilmittel im sozialen Netz und Sarkasmus im Zweifelsfall die beste Reaktion auf so gut wie jeden Input. Wenn die Unternehmen nun den hippen Diskurs kapern, schreibt etwa Kate Losse im Online-Magazin The New Inquiry, werde es Zeit für einen wertkonservativen Backlash. Wenigstens das hat sich also auch im Netz nicht geändert: Uncool ist das neue Cool. 

Den Macho ins Grübeln bringen

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Die 15-jährigen Jungen „behandeln mich ohne Respekt“, sagt die Lehrerin Mitte fünfzig, schmale Brille, hennarote Haare. „Wenn ein männlicher Kollege in die Klasse geht, wird er aber respektiert.“ Da nicken ein paar Frauen in der Runde. „Neulich hat mich ein Schüler eine Schlampe genannt“, sagt eine andere. Auch das überrascht keinen in der Runde. 15 Lehrerinnen und Lehrer sind an diesem Vormittag zu der Fortbildung von „Heroes“ ins Haus der Bildungsgewerkschaft GEW in Berlin gekommen. Sie unterrichten vor allem Jugendliche aus türkisch- oder arabischstämmigen Familien, in denen archaische Ehr- und Geschlechtervorstellungen verbreitet sind. Und sie wollen lernen, wie sie besser mit ihnen umgehen können. Sie sitzen im Halbkreis auf Stühlen, Notizblöcke auf den Knien, und berichten. Dinge, die man eher selten so hört.



Türkischstämmige Jugendliche sollen integriert werden. Manche Lehrerinnen fühlen sich allerdings hilflos gegenüber frauenfeindlichem Verhalten.

„Ich sehe bei den Jungen aber auch eine große Unsicherheit“, sagt eine junge Lehrerin. Daher das Machoverhalten. „Oder sie verstecken sich hinter dem Ehrbegriff“, sagt einer der zwei männlichen Teilnehmer, ein jungenhafter Typ mit Strubbelfrisur. „Aber, wie bricht man das auf?“, fragt er. „Wie kommt man an sie heran?“

Dabei helfen wollen Yilmaz Atmaca und Ahmad Mansour. Sie sitzen an einem kleinen Tisch, zwei Laptops vor sich, mit denen sie Filme und Folien an die Wand projizieren. In erster Linie sollen die Lehrer an diesem Tag die Welt muslimischer Jugendlicher kennenlernen und verstehen. Sie analysieren Musikvideos und kurze Filme, reden von Erfahrungen. Der Schlüssel zum Verständnis ist der traditionelle Ehrbegriff, der auf der Jungfräulichkeit der Töchter beruht. Mit ihm wachsen die meisten Schüler auf, er bestimmt ihr Verhalten.

Der Psychologe Ahmad Mansour und der Theaterpädagoge Yilmaz Atmaca wissen, wovon sie reden. Sie kennen dieses Denken aus ihrer alten Heimat. Mansour ist palästinensischer Israeli und lebt seit neun Jahren in Berlin, Atmaca wuchs in der Türkei auf und kam vor 20 Jahren nach Deutschland. Seit sieben Jahren engagieren sie sich mit dem Projekt „Heroes“, zu deutsch: Helden, gegen Unterdrückung im Namen der Ehre. Sie arbeiten mit muslimischen Jugendlichen, halten Vorträge und machen Fortbildungen in Jugendeinrichtungen und bei der Polizei. Die Lehrerfortbildung bieten sie bundesweit an.

Darin sezieren sie den Ehrbegriff und erklären, welche Folgen er vor allem für Jungen hat: Er mache sie zu ständigen Bewachern ihrer Schwestern, lasse keine eigene Meinung zu und verunsichere sie. Das alles überspielten sie mit Machoverhalten und einem besonderen Stolz auf ihre Ehre. Aber wie können Lehrer damit umgehen?

Das üben sie nun in einem Rollenspiel. Mansour übernimmt die Rolle des Jugendlichen. Der 37-Jährige trägt dunkle Jeans, ein weißes, eng anliegendes Hemd und einen kurzen Bart. „Also, ich bin Muslim und für mich ist es sehr wichtig, dass die Frauen in meiner Familie ehrenhaft bleiben“, sagt er, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. „Wir sind eben anders, wir wollen Jungfrauen heiraten.“ Kurze Stille, erschrockene Blicke. „Ich bin Ihr Schüler, reden Sie mit mir!“, ruft er. „Ich würde dem Schüler jetzt Fragen stellen“, sagt eine junge Frau, „versuchen, mit ihm in den Dialog zu treten: Warum denkst du so?“ „Na, weil ich das so von meinen Eltern und von meiner Religion mitbekommen habe“, kontert Mansour. „Und ich finde das gut.“

„In meiner Klasse denken 23 von 25 Schülern so“, wirft eine Frau aufgeregt ein. „Aber ich kann das doch nicht akzeptieren. Ich arbeite für den deutschen Staat und der vertritt bestimmte Werte.“ Eine andere meint, dass sie sich auf so ein Gespräch nicht einlassen würde. „Das verhärtet die Fronten nur noch mehr.“ Fast alle stimmen zu. Nur die junge Lehrerin aus dem Rollenspiel findet „das entstandene Gespräch wertvoll, weil die Schüler so über ihre Vorstellungen von Ehre nachdenken“.

Zur Überraschung der anderen Besucher sagen auch Mansour und Atmaca, dass man da ansetzen müsse: bei Gesprächen auf Augenhöhe und interessiertem Nachfragen. „Das bedeutet ja nicht, dass ich dem Schüler recht gebe“, sagt Atmaca. „Er soll aber die Möglichkeit bekommen, sich zu erklären.“ Die Lehrer sollten nicht darauf bestehen, recht zu haben. Wenn man ständig sage, „wir leben in Deutschland, hier gibt es Gesetze, und du hast dich anzupassen“ – dann sei das keine Begegnung auf Augenhöhe, sondern ein Machtspiel, so Atmaca. Und das führe dann zu den bekannten Reaktionen: Aggressivität oder Ablehnung. Weitaus besser sei es nachzufragen, sich nicht verunsichern zu lassen, ganz egal, ob ein Schüler Hitler toll findet, weil der Juden getötet hat, oder seine deutschen Mitschüler Schweinefleischfresser nennt. Warum denkst du so? Woher kommt das? Wenn ein Lehrer diese Fragen stellt, dann redeten die Schüler eher – oder „sie denken sogar darüber nach“.

Die Lehrer hören interessiert zu, sagen aber, dass sie sich oft hilflos und allein gelassen fühlten, von ihren Schulleitern zum Beispiel. Und von der Politik sowieso. Auch Mansour und Atmaca räumen ein, dass noch viel passieren müsse. Den ersten Schritt könnten die Lehrer aber jetzt schon tun: ihren Schülern mal auf Augenhöhe begegnen, so Ahmad Mansour. „Denn so lange wir die Debatten auf der Wir-ihr-Ebene führen, werden wir nichts schaffen.“

Zahl doch, was du willst!

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Nürnberg – Auf der Theke stehen die ersten offenen Weinflaschen, die Lichterketten sind angeschaltet, der DJ hält sich mit den Beats noch zurück und sorgt für ein unaufdringliches Hintergrundrauschen. In der Nürnberger Weinerei, einer kleinen Kellerbar am Prinzregentenufer, wartet man darauf, dass der Samstagabend beginnt. Ein paar Studenten sind bereits da, zwei Mädchen in dunklem Blazer und Blumenstrickjacke nippen an ihren Gläsern. Wie viel sie der Wein kosten wird, ist noch unklar – die Gäste werden am Ende des Abends selbst entscheiden, was sie zahlen. Denn in der Weinerei gilt das Prinzip: Pay what you want, bezahle, was du willst.



In einigen Lokalen in deutschen Großstädten, den USA, Australien oder Indien entscheiden die Kunden über die Bezahlung.

Einen Gleichgewichtspreis aus Angebot und Nachfrage wie in ökonomischen Lehrbüchern gibt es hier nicht, die Kunden haben die volle Entscheidungsmacht. In den vergangenen Jahren hat das Modell an Popularität gewonnen. Nicht nur in deutschen Großstädten, auch in den USA, Australien oder Indien setzten einige Gastronomen auf das Prinzip „Pay what you want“. Dabei verspricht das Konzept auf den ersten Blick eher wenig Erfolg: Warum sollen Menschen angemessen für etwas zahlen, wenn sie genauso gut nichts bezahlen können, oder zumindest sehr wenig?

Die Betreiber der Weinerei stellen sich diese Frage nicht mehr. Seit zwölf Jahren funktioniert für sie das Bezahlmodell, das sich ganz auf die Loyalität der Kunden verlässt. „Zwei Euro zahlt man beim Eintritt für das leere Glas an Miete, pro eingeschenktem Wein geben die meisten Gäste durchschnittlich etwa zwei bis 2,50 Euro“, erzählt Ulrich Schultze. Er ist Vorsitzender des Nürnberger Vereins „Gesellschaft zur Förderung von Kunst und Kultur in Europa“, der hinter der Weinerei steht. Mit 2,50 Euro lägen die Kunden zwar unter dem Marktpreis für ein Glas, das koste in der Innenstadt deutlich mehr. Doch es reiche, um unter dem Strich so viel einzunehmen, dass die Weinerei sich selbst trägt. Man muss dazusagen: Da der Verein gemeinnützig ist und Schultze und seine Mitarbeiter ehrenamtlich arbeiten, fallen keine Lohnkosten an.
Zwei Gehälter könne man von den Einnahmen aber sicherlich finanzieren, meint Schultze, der unter der Woche als Architekt arbeitet. Die Weinerei schreibe seit ihrer Eröffnung schwarze Zahlen, wie viel das Team genau im Jahr einnimmt, will der 47-Jährige nicht sagen. Dass jemand tatsächlich keinen Cent bezahle, passiere jedoch so gut wie nie.

Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch immer seinen eigenen Nutzen maximieren möchte, könnte man das überraschend finden. Marcus Kunter überrascht es nicht. Der Betriebswirtschaftler forscht an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen zu „partizipativen Preismodellen“ und weiß: „Wenn man einer anderen Person in die Augen sehen muss, das heißt, wenn man nicht anonym ist, trauen sich vielleicht ein bis zwei Prozent ohne Bezahlung zu gehen. Der Rest wagt das nicht, sei es aus Scham oder aus Furcht vor einem schlechten Gewissen“.

Es ist kein Zufall, dass das Modell vor allem in der Gastronomie beliebt ist. Hier reden die Menschen viel miteinander, diesen sozialen Kit braucht es. Denn wenn niemand sieht, wie wenig man zahlt, huschen die meisten eben doch schnell an der Kasse vorbei – im Internet mache es allein schon einen Unterschied, ob man seine Daten angeben müsse oder nicht, sagt Kunter: „Wer im Internet einen beliebigen Preis verlangt und volle Anonymität gewährt, fährt damit meistens schlecht“.

Wer sein Gegenüber aber direkt auffordert, sich für einen Betrag zu entscheiden, kann profitieren. Ju-Young Kim von der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat gemeinsam mit Kollegen herausgefunden, dass „Pay what you want“ in den meisten Fällen kurzfristig zu einem höheren Umsatz führt. Nicht unbedingt, weil sich alle Kunden so fair verhalten und einen angemessenen Preis zahlen, sondern vor allem, weil die Preisfreiheit so viele neue Kunden anzieht. „Der Zustrom kompensiert, dass andere im Zweifelsfall nur wenig geben“, sagt Kim.

Die zwei Studentinnen, die gerade ihr erstes Glas Wein in der Hand halten, gehören zu letzterer Gruppe. Sie sind hergekommen, um für wenig Geld noch viel zu trinken, bevor es in den Club geht. Sie behaupten zwar, dass sie das Konzept unterstützen und immer angemessen zahlen, doch sie erwähnen im nächsten Satz, dass es für fünf Gläser Wein etwa fünf Euro sind. Ein paar Tische weiter hat gerade eine größere Gruppe Platz genommen, alle etwa um die 20 Jahre alt, alle das erste Glas Wein in der Hand. Einer von ihnen erzählt, dass er meistens mehr als in anderen Bars mit festen Preisen gebe. Er sei sich bewusst, dass die Weinerei nur so überleben könne, deswegen zahle er auch entsprechend. Ein Grund, warum das Modell bei großen Konzernen wie beispielsweise Burger King wohl weniger gut funktionieren würde – die haben es doch nicht nötig, würden sich die Kunden denken. Ein soziales Image dagegen kann die Preise nach oben treiben.

„Als sich das Konzept nach der Eröffnung in der Stadt herumsprach, kamen eine Zeit lang so viele Leute, dass es schwer war, überhaupt die Kontrolle zu behalten“, erzählt Betreiber Schultze. Mittlerweile ist der Hype etwas zurückgegangen, auf den Ledersofas mischt sich jedes Wochenende Stammpublikum mit immer wieder neuen Gästen. Ob sie alle im Schnitt heute weniger oder mehr als vor zwölf Jahren zahlen, kann Schultze nicht sicher sagen.

Studien zu „Pay-what-you-want“-Modellen sind meist auf kurze Frist angelegt, ob das Modell auch über Jahre hinweg funktioniert, ist deshalb schwer zu belegen. Betriebswirtschaftlerin Ju-Young Kim stellte zwar fest, dass in einem persischen Restaurant in Frankfurt die gezahlten Preise nach einem Jahr sogar gestiegen waren. Mittlerweile allerdings, nach acht Jahren „Pay what you want“, sind die Gäste dort zahlungsmüde geworden: „Während sie früher im Schnitt noch etwa 6,50 Euro gaben, sind es heute um die zwei Euro weniger“, erzählt der Inhaber des Restaurants Kish, Pourya Feily. Er hat dafür eine einfache Erklärung: Seine Gäste haben heute eben weniger Geld.

Markus Kunter von der Hochschule Aachen würde dagegen anders argumentieren: „Mittel- bis langfristig sinkt die Zahlungsmoral meist ab“, sagt er. Pourya Feily gewährt seinen Gästen sowieso nur mittags beim Buffet die volle Preisautonomie, abends stehen feste Preise in der Speisekarte. Die Idee: Leute, die mittags vom niedrigen Preis angezogen werden und denen das Essen schmeckt, kommen irgendwann auch abends und zahlen dann mehr. Noch funktioniert das trotz der gesunkenen Beträge am Mittag, noch will Feily sein Konzept nicht aufgeben.

Auch in der Weinerei hat man nicht vor, in Zukunft fixe Preise vorzuschreiben. Wobei man hier in all den Jahren vor allem eines gelernt hat: Viele leer getrunkene Weingläser füllen noch keine Kasse. Mit steigendem Alkoholpegel werden es meist weniger Münzen, die die Gäste aus ihrem Geldbeutel holen. Wenn weniger getrunken wird, geben die Leute im Schnitt mehr. Wohl ein wichtiger Unterschied zu anderen Bars. Denn wenn Schultze nach einer langen Nacht die Weinerei zuschließt und ein ruhiges Wochenende hinter sich lässt – dann war das für ihn nicht unbedingt ein schlechtes. In der nächsten Zeit steht allerdings ein anderes Thema im Vordergrund, denn die Weinerei verlässt im Juli das Prinzregentenufer. Die Betreiber haben woanders Räume gefunden und nehmen das zum Anlass, um in den Ausstellungsräumen „Fotos, Kram und Zeugs aus den letzen Jahren und Jahrzehnten unseres Kulturwohnzimmers“ zu zeigen, wie es auf der Homepage heißt. Und natürlich wird gefeiert. Wie viel Geld bei der Abschiedsparty wohl zusammenkommen wird?

Ende eines Traums

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Barcelona – Schon 120 Euro machen Clara Barzolavera jeden Monat Sorgen. So viel kostet das Essen für ihre zwei Söhne im Kindergarten. Jeden Monat hat sie Angst, die nicht zahlen zu können. „Die Kinder“, sagt die 40-jährige Frau mit den langen schwarzen Haaren und den Augenringen, „leiden am meisten unter der Situation.“ Sie streichelt ihrem zweijährigen Sohn über den Kopf. Vor einigen Jahren haben sie und ihr Mann eine Wohnung gekauft. Er hatte einen gut bezahlten Job in der Baubranche, sie ging putzen. Über 1000 Euro Rate zahlten sie monatlich für ihre 65-Quadratmeter-Wohnung in einem Randbezirk Barcelonas, bis ihr Mann vor drei Jahren seine Arbeit verlor und sie die Raten nicht mehr zahlen konnten. Wenig später lag der Räumungsbescheid im Briefkasten. „Ich hatte große Angst“, sagt sie. Damals war sie schwanger mit dem Sohn, der heute auf ihrem Schoß sitzt.



Spanien gehört zu den Ländern Europas mit der höchsten Armutsgefährdung und den größten Einkommensunterschieden.

Schicksale wie die von Clara Barzolavera gibt es Tausende in Spanien. Nach der Jahrhundertwende hatten viele von ihnen Kredite aufgenommen, die nach der Einführung des Euro günstig geworden waren. Als 2007 das Überangebot an Wohnungen deutlich wurde, als der Bauboom endete und die Immobilienblase platzte, waren viele doppelt betroffen: Sie verloren ihre Jobs in der Baubranche und konnten die Raten nicht mehr zahlen. Das spanische Recht verschärfte ihre Lage. Wenn nur eine Rate ausgefallen war, durften die Banken schon die Kreditzinsen erhöhen. Fielen mehrere Raten aus, wurden die Wohnungen zwangsgeräumt. Dabei wurden oft nur 50 Prozent des ursprünglichen Wohnungswertes auf die Schulden angerechnet. Das Rest des Darlehens blieb den ehemaligen Besitzern, aber mit erhöhten Zinsen. Über eine halbe Million Fälle gab es bis Ende 2013. In manchen Wochen nahm sich aus Verzweiflung mehr als ein Dutzend Menschen das Leben. Im ganzen Land setzt sich die Bürgerbewegung Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) für die Opfer der Zwangsräumungen ein.

In Barcelona hat die Bürgerbewegung ihren Sitz im wenig betuchten Stadtteil Encants. „Stop“ ist auf ein Metalltor in einer Seitenstraße gemalt. Das dem Verkehrszeichen nachempfundene Schild ist längst ihr Markenzeichen. An den Wänden hängen Plakate von Demonstrationen: „Mein Haus ist kein Geschäft, es ist ein Grundrecht“. Etwa 700 Räumungsfälle behandelt die PAH derzeit allein in Barcelona. Es ist ein Montagnachmittag, wie jede Woche treffen sich Betroffene, die meisten über 40 Jahre alt. Zur Begrüßung geben sich manche stumm die Hand wie bei einer Beerdigung. Andere schauen sich erst um, neugierig, skeptisch, müde.

Auch Clara Barzolavera kam vor zwei Jahren hierher, als sie nicht weiter wusste. Sie war schwanger, hatte Schwierigkeiten mit ihrem Mann und wusste, sie würde die Wohnung verlieren. „Da sagte eine Frau zu mir: Hierher kommst du nicht zum Heulen, hierher kommst du, um zu kämpfen.“ Die Organisation stellt weder Anwälte noch Geld. Sie kämpft mit Information und mit der Unterstützung durch die Gemeinschaft. Fast täglich erläutern Freiwillige den Opfern ihre Rechte. Auch an diesem Montag gehen viele Finger hoch. Ein Mann aus der ersten Reihe hat am Vortag seinen Räumungsbescheid bekommen und will wissen, was er jetzt tun muss. Von allen Seiten prasseln Ratschläge auf ihn ein. Ein Mann weiß, dass sich der Rausschmiss verzögert, wenn man Strom und Wasser weiter bezahlt. Was noch wichtiger ist als ihre Ratschläge: Die PAH-Besucher können von Erfolgen berichten. Stolz steht ein älterer Herr auf und erzählt, dass er einen Verhandlungstermin mit der Bank ergattert hat. Ein Etappensieg, viele klatschen, sichtbar erleichtert ob einer guten Nachricht.

Die PAH arbeitet mit der Macht der Gruppe. Steht irgendwo eine Räumung an, stellen sich viele Mitglieder vor die Wohnung oder die Bank, jeden Tag werden neue Termine bekanntgegeben. Ist ein Fall besonders hart, laden sie Reporter ein. „Das Einzige, was wir bei den Banken zerstören können, ist das Image“, erklärt Carlos Macías Caparrós, ein junger Mann mit Vollbart und Brille. Dem 29-Jährigen und den anderen Freiwilligen geht es um Selbsthilfe. Wer weiß, was er darf, lässt sich nicht von Formularen und Bankvokabular einschüchtern, so die Logik. Wer spürt, wie ihm die Gruppe geholfen hat, hilft anderen. Ein Experiment mit Erfolg: In einigen Provinzen setzen sich Bürgermeister gegen Zwangsräumungen ein und Urteile des Europäischen Gerichtshofes wie des Menschenrechts-Gerichtshofs bestätigten, dass einige Räumungen unrechtmäßig waren. Ein Bürgerbegehren zur Änderung der Gesetze, das 1,5 Millionen Spanier unterzeichnet hatten, ist zwar gescheitert. Doch öfter als früher akzeptieren Banken inzwischen die Wohnung als einzigen Ausgleich für den geplatzten Kredit.

Als Clara Barzolavera im Januar 2012 den Räumungsbescheid bekommt, hält auch sie sich an den Rat Betroffener. Sechsmal erscheint sie mit Dokumenten bei der Bank. Sie will erreichen, dass die Rückgabe der Wohnung für das Streichung der Kreditschulden ausreicht. „Jedes Mal wurde ich ausgelacht.“ Schließlich campieren sie, ihr Mann und andere Unterstützer vor der Bank. Drei Mal. Als sie droht, „es werde etwas Schlimmes geschehen“, ist es soweit: Im Dezember 2013 kann sie den Schlüssel übergeben. Der Kredit ist erledigt.

Ihre Odyssee ist damit aber nicht zu Ende. Mehrere Monate kommt die Familie bei einem Freund unter, zu Viert in einem Zimmer ohne Strom und Wasser. Bis der zweijährige Sohn krank wird. „Ich wollte ihn nicht zum Arzt bringen, weil ich Angst hatte, die Behörden könnten mir die Kinder nehmen.“ Ihr Mann bekommt Arbeitslosenhilfe, aber auch die wird bald auslaufen. Clara Barzolaveras Putzgehalt reicht nicht, und Unterstützung vom Amt bekommt sie nicht: „Dort hat man mir gesagt: Wäre ich auch arbeitslos, könnte man mir helfen. So nicht.“ Clara Barzolavera und ihr Mann helfen sich selbst: Im Sommer finden sie eine leere Wohnung, die einer Bank gehört. Als die Nachbarn im Urlaub sind, brechen sie die Tür auf und ziehen ein. Notwehr. Oft geht es nicht anders.

Wenn Menschen in Valencia, Madrid oder Barcelona ihr Eigentum räumen, sind sie ihre Probleme nicht los. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf. Denn obwohl über drei Millionen Wohnungen im Land leer stehen, weigern sich viele Banken, sie an Arbeitslose oder Geringverdiener zu vermieten. Noch immer stottern Spanier Kredite ab für leere Wohnungen und finden selbst keine Bleibe. Und finden sie eine, können die Eigentümer sie schnell wieder rausschmeißen. Das spanische Mietrecht ist noch strenger als das Hypothekenrecht.

Deshalb steigt die Zahl derer, die zur PAH kommen. Einige, die wegen der Räumung ihres Eigentums schon einmal hier waren, sind nun auch aus einer Mietwohnung geflogen.. „Die sind doppelt traumatisiert“, sagt Carlos Macías Caparrós. Die Initiative erkundet mittlerweile, welche leer stehenden Häuser Banken gehören, und bringt dort Wohnungslose unter; in Barcelona sind es derzeit 1180 Menschen. Danach verhandeln sie mit den Banken, um das illegale Mietverhältnis zu legalisieren und eine Sozialmiete auszuhandeln. „Die Banken wurden mit Steuergeld gerettet, also gehören die Wohnungen ohnehin den Menschen“, findet Carlos Macías Caparrós.

Auch Clara Barzolavera könnte bald wieder vor dem Berater sitzen. Gerade versucht sie, wieder einen normalen Alltag zu finden: Die Söhne gehen in die Krippe, ihr Mann sucht Arbeit. Doch sie ist nervös: Die Familie hat 1035 Euro monatlich, damit kann sie nur das Lebensnotwendige kaufen. Sie ist auf ihre neue, besetzte Wohnung angewiesen. „Wir könnten jeden Tag rausgeschmissen werden“, sagt sie. Doch voller Angst ein Jahr warten, wie beim letzten Mal, wird sie diesmal nicht. Drei Mal in der Woche geht sie zu Treffen der PAH.Gleichzeitig versucht sie, für ihre besetzte Wohnung bei der Eigentümerbank eine Sozialmiete auszuhandeln. „Erst das wäre ein echter Sieg“, sagt sie.

Eine gewisse Grundverrücktheit

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Diese Worte Sigmund Freuds sind heute aktueller denn je: „Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, dass die Psychoanalyse“, so schrieb deren Begründer, „von der Medizin geschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde“ – dort „im Kapitel Therapie“ als eine unter mehreren konkurrierenden Techniken. Just diese Befürchtung ist eingetroffen: Mit dem Aufstieg zum kassenlizensierten Heilverfahren einher ging ein enormer Bedeutungsverlust der Psychoanalyse, die – wie Freud 1927 weiterschrieb – „ein besseres Schicksal“ verdient hätte: „Als
‚Tiefenpsychologie‘, Lehre vom seelisch Unbewussten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen.“ Das ist nicht wenig.



Willkommen auf der Couch: Hier behandelte Sigmund Freud seine Patienten.

Der Anspruch auf die Rolle einer universalen Deutungsmacht über die Moderne ist vergleichbar nur dem originären Impuls des Marxismus, mit dem die Freudsche Psychoanalyse das Ziel der Emanzipation des Menschengeschlechts teilt – und des frühen Marx’ „kategorischen Imperativ“, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Hier wie dort steht am Anfang die Erkenntnis, wonach die Menschen nicht Herr im eigenen Hause sind.

Die Biologisierung gehirnphysiologischer Prozesse und die dramatische Zunahme jener Tendenz, normales menschliches Unbehagen und Unglück zu pathologisieren und ihm rein medikamentös zu begegnen, sind nicht die einzigen Gründe für den Bedeutungsschwund der Psychoanalyse sowohl als therapeutische Option als auch im Blick auf ihr kulturelles, intellektuelles und wissenschaftliches Ansehen. Durch Trivialisierung und Banalisierung sind die psychoanalytischen Begriffe zur Karikatur ihrer selbst geworden, sind ihre originären kulturkritischen Antriebe unkenntlich geworden. Ihre Vertreter selbst sind daran nicht unschuldig, denn seit den Anfängen vor mehr als hundert Jahren herrscht unter ihnen der sektiererische Geist priesterlichen Kasten-, Kader- und Proselytenwesens mit strengen Ritualen der Initiation und Inklusion sowie im Gegenzug der Exklusion aller Abweichungen von der Orthodoxie. Als eine dissidente Wissenschaft sui generis bringt die Psychoanalyse kraft ihrer Unabgeschlossenheit – Freud war sie „work in progress“ – fortwährend ihre eigenen Dissidenten und Grenzgänger hervor. Im Umgang mit diesen ist sie allerdings selbst nicht frei von jenen autoritären Anmaßungen, destruktiven Aggressionen und rituellen Zwangshandlungen, deren Aufklärung und Therapie sie sich doch verschrieben hat.

Der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke gehört zur raren und unverwüstlichen Sorte derer, die sich solcher selbstaufklärerischen Potenziale bewusst sind und ihr eigenes Dissidententum auch dafür einsetzen, die Dissidenz anderer zu rehabilitieren. Diesem personifizierten Stachel im Fleisch einer – nach eigenen Worten – „zur Ideologie von Verbänden herabgestuften Psychoanalyse“ wurde jetzt zur Feier von Nitschkes 70.Geburtstag ein Symposion im Kreise von Kollegen, Freunden und Weggefährten zuteil. Das Thema: Grenzgänger und Grenzgänge in der Geschichte der Psychoanalyse. Bertram von der Stein, der Gastgeber vom Düsseldorfer Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie, wollte diesen Fokus noch weiter ausgedehnt wissen, denn „eine gewisse Grundverrücktheit“ gehöre zur psychoanalytischen Ausbildung einfach dazu.

Vorträge über die Popstars unter den Renegaten wie Otto Gross (Albrecht Götz von Olenhusen), Wilhelm Reich (Andreas Peglau) und Georg Groddeck (Galina Hristeva) nahmen die Auswüchse des Vereinslebens als zwanghafte Wiederholungen patriarchalischer Familienstrukturen unter die Lupe und legten die blinden Flecken der Disziplin frei, deren Folgen noch heute in undurchsichtigen Vereinsstrukturen fortleben. Wilhelm Reichs Untersuchung über die „Massenpsychologie des Faschismus“ und sein politisches Engagement berührten den kritischsten Punkt in der Geschichte der Disziplin: das von Freud geduldete, wenn nicht geforderte politische Abstinenzgebot, das für nichtjüdische Psychoanalytiker dann zum wohlfeilen Alibi eines Überwinterns wurde, das weder frei von opportunistischer Anpassung noch von Anbiederung an das NS-Regime war.

Die Zerstörung jener Legende, wonach in Deutschland und Österreich zurückgebliebene Zunftvertreter per se auf der Seite des Widerstands gestanden hätten und die Psychoanalyse als solche – und nicht nur ihre jüdischen Vertreter – unter Verfolgung gelitten hätte, trug Helmut Dahmer, dem damaligen Herausgeber des publizistischen Flaggschiffs Psyche, in den 80er-Jahren den Ruf des „Nestbeschmutzers“ ein. Die Zurückgebliebenen rächten sich durch Verdrängung und Vergessen aber auch an jenen exilierten jüdischen Psychoanalytikern, die sich wie die Wienerinnen Else Pappenheim und Marie Langer dem politischen Abstinenzgebot vor und nach 1933 energisch widersetzt hatten. Aus ihrem argentinischen Exil musste Langer in den 70er-Jahren erneut fliehen, als eine Todesschwadron ihr nach dem Leben trachtete. Von beider Briefwechsel berichtete der Grazer Historiker Karl Fallend.

Den Anspruch auf eine „Restitution der Psychoanalyse“ durch „Provenienzforschung“ und durch Rückbesinnung auf das vergessene „Junktim von Therapie und Kulturkritik“ vertrat Helmut Dahmer entschieden: In der „Medizinisierung“ der Psychoanalyse, ihrer Blindheit gegenüber der sozialen und politischen Außenwelt wirke das in die Nachkriegsära übertragene „heimliche Schweigeprogramm“ noch immer fort. Demgegenüber aktuell bleibe Freuds Projekt einer „Kultur, die keinen mehr unterdrückt“. Restitution der Psychoanalyse bedarf aber auch der Revision ihrer Irrtümer: Passé ist, wie Brigitte Boothe aus Zürich mit Humor und Ironie ausführte, die für die Psychoanalyse einst „geradezu peinliche Weiblichkeit“ im Sinne vermeintlich biologisch bedingter Versehrtheit und Vulnerabilität. Körperlich behindert fühlten sich heute eher Männer, wenn sie nicht schwanger werden könnten.

Ein lohnendes Terrain für eine kulturtheoretisch restituierte Psychoanalyse bietet die Erforschung der Fremdenfeindlichkeit. Oliver Decker, Ko-Autor der Leipziger Studie über aus der Mitte der Gesellschaft kommende rechtsextreme Einstellungen, revidierte das Konzept des „autoritären Charakters“ unter nachpatriarchalischen Verhältnissen. „Stabiler“ geworden sei die „Mitte“ im Jahr 2014 nur deshalb, weil unter der ökonomischen Insellage dieses Landes der Wohlstand als „narzisstische Plombe“ fungiere, worunter fremdenfeindliche Ressentiments verdeckt blieben und zurückgehalten werden. Gegenüber singulären Gruppen wie Asylbewerbern, Sinti und Roma sowie Muslimen ließen die Deutschen in ihrer Mehrheit aber einem „sekundären Autoritarismus“ freien Lauf. Im Flottieren dessen, was Freuds Traumlehre „sekundäre Bearbeitung“ nannte, sei jener beim Setzen entsprechender Impulse auch mit „sekundärem Antisemitismus“ kompatibel. Unter schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen könne dieser wiederum die Plombe bersten lassen.

Im Dunstkreis der Zigarettenschmuggler

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Es hätte frischer Fisch aus Griechenland sein sollen, aber das war nur die Tarnladung. Zöllner hatten einen guten Riecher, als sie den Lastwagen auf der A8 anhielten. Nachdem sie den Fisch beiseite geräumt hatten, entdeckten die Beamten die tatsächliche Ladung: In Kühlboxen hinter dem Fisch lagerten exakt 7286400 Stück unversteuerte und unverzollte Zigaretten der Marke „Jing Ling“. Allein die hinterzogene Tabaksteuer für diese Ladung betrug knapp eine Million Euro. Der Lkw-Fahrer wurde verhaftet, die Zigaretten mit dem klingenden Namen stellte der Zoll sicher. Den Fisch, dachten die Beamten, könnten sie dem Tierpark Hellabrunn überlassen, aber da waren sie zu optimistisch. Die Tiere wollten das Zeug nicht fressen, so frisch war die Tarnladung offenbar nicht gewesen. Der Fisch musste schließlich entsorgt werden.



Beschlagnahmte Zigaretten werden beim Zoll eingelagert und später zerstört.

Beschlagnahmte Zigaretten zerstört der Zoll grundsätzlich. Während ein Ermittlungsverfahren läuft, müssen die Stangen aber zunächst eingelagert werden. Beim Zollfahndungsamt an der Landsberger Straße liegen deshalb meist Tausende Schachteln Zigaretten im Keller. Es gibt keine Ware, die so häufig nach Deutschland geschmuggelt wird. „Vom Volumen her sind Zigaretten unser Hauptproblem“, sagt Chefermittler Siegfried Wittwer. Und damit meint der Münchner Fahnder nicht die Urlauber, die zwei Stangen zu viel aus dem Ausland mit nach Hause nehmen und am Flughafen im Erdinger Moos am Zoll vorbei mogeln wollen. Wenn Wittwer über Zigarettenschmuggel spricht, dann redet er von hoch spezialisierten Banden, organisierter Kriminalität und Geldwäsche. Zigaretten sind für Schmuggler so interessant, weil die Gewinnspanne so hoch, für Medien und Öffentlichkeit der Drogenschmuggel aber spektakulärer ist. Zigaretten stehen nicht so im Fokus. „Dabei hat der Handel Dimensionen“, sagt Wittwer, „die man sich gar nicht vorstellen kann.“

Bis zu 20 Euro Gewinn machen die Täter pro geschmuggelter Stange Zigaretten. Da können pro Lkw-Ladung schnell mal ein paar hunderttausend Euro herausspringen. Der geschätzte Steuerausfall wegen Zigarettenschmuggels in Deutschland betrug 2013 geschätzt 4,3 Milliarden Euro. Obwohl die Gesetze immer strikter werden, rauchen die Menschen in der Europäischen Union etwa 420 Milliarden Zigaretten im Jahr. „30 Prozent davon sind nicht legal hergestellt oder legal versteuert“, sagt Wittwer. Die Marke Jing Ling zum Beispiel, die mit der Tarnladung Fisch in einem Lkw lagerte, gibt es hier offiziell gar nicht. Die Schachtel der Zigaretten aus Kaliningrad sieht aus wie die von der Marke „Camel“, statt eines Kamels aber ist eine Bergziege das Logo. In Deutschland gibt es für Jing Ling weder Werbung noch legale Vertriebswege. Die Zigaretten der Marke werden rein als Schmuggelware hergestellt und wechseln nur unter der Theke den Besitzer. Trotzdem gehören sie zu den Top Ten der meistgerauchten Zigaretten der Republik.

Doch bis Schmuggler überhaupt erst auf die Idee kamen, eigene Zigaretten herzustellen, war es ein weiter Weg. „Das Geschäft hat in den vergangenen Jahren einigen Wandel durchlaufen“, sagt Wittwer. Zu Beginn des Europäischen Binnenmarkts 1993 nutzten die Schmuggler zunächst einmal den Vorteil, den ihnen der neue Wirtschaftsraum bot. Sie merkten schnell, dass deutsche Zöllner sich zwar gut mit Dokumenten aus den Nachbarstaaten wie Österreich oder Frankreich auskannten. Die Stempel der Zollkollegen aus Spanien aber hatten deutsche Zöllner bis dahin so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Also besorgten sich die Täter gefälschte spanische Dokumente für ihre Lastwagen und gelangten auf ihrem Weg nach München oder zu anderen deutschen Zielorten relativ problemlos über die Grenze. Sie machten ein Riesengeschäft, in einem Lkw transportierten sie gut zehn Millionen Zigaretten, was einem Wert von 1,8 Millionen Euro entspricht. Die deutschen Behörden kamen den Schmugglern auf die Schliche, aber da hatten viele von ihnen die Transportwege schon in den Osten verlagert, wo sie viel billiger einkaufen können.

„Was Händler in Kirgisien zum Beispiel an Zigaretten kauften, da hätte jeder Einwohner 100 Zigaretten pro Tag rauchen müssen“, sagt Wittwer. Die Zigaretten aber wurden nicht alle dort verbraucht, sondern auf dunklen Wegen nach Deutschland oder andere westeuropäische Länder gebracht, wo die Preise hoch sind. Dort veräußerten sie ihre Ware mit hübscher Gewinnspanne.

Den EU-Staaten reichte es jetzt, sie nahmen die Tabakhersteller in die Pflicht. Im Jahr 2004 unterzeichnete Philipp Morris International als größter Tabakhersteller der Welt einen Vertrag, wonach das Unternehmen innerhalb von zwölf Jahren 1,25Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung des Schmuggels spendierte. Noch viel wichtiger aber war ein anderer Passus des Papiers: Philipp Morris verpflichtete sich, bei jeder verkauften Tabakladung den Abnehmer anzugeben. Andere große Tabakhersteller machen inzwischen dasselbe. Fliegt eine Schmuggelladung auf, können die Behörden also den ersten Abnehmer dieser Ware ausfindig machen – die Unternehmen verkaufen nie wieder etwas an ihn. Überhaupt haben die Tabakhersteller ziemlich hochgerüstet, sie verfügen heute über ein dichtes Netzwerk an Informanten und Detektiven, um Schmuggler zu entlarven. Es geht ums Image und darum, Strafzahlungen zu vermeiden. Es geht aber auch um die Markenidentität. Denn die Banden, die illegal mit Zigaretten handeln, gingen aufgrund des Drucks immer mehr dazu über, Zigaretten zu fälschen.

Die Schachteln sehen täuschend echt aus. Ganz vorne dabei bei diesem Trend waren die Chinesen, der Zoll stellte 2006 im Hamburger Hafen auf einen Schlag 110 Container sicher, jeder bis obenhin gefüllt mit gefälschten Zigaretten. Der Wert einer Container-Ladung betrug etwa 15000 Euro. Die Tabakhersteller unterhalten so etwas wie forensische Teams, die sichergestellte Ware untersuchen und sofort erkennen, was Original und was Fälschung ist.

Die Schmuggler hatten es plötzlich mit zwei Gegnern zu tun, mit Ermittlern wie den Zollfahndern in München, aber nun auch mit den Unternehmen. Also fanden sie einen Ausweg: Sie produzierten selbst. Es braucht nur zwei Maschinen, eine für die Herstellung der Zigaretten und eine für die Verpackung. Dazu ein paar Arbeiter. In einer Woche lassen sich so zehn Millionen Zigaretten herstellen. „Das begann in der EU so etwa im Jahr 2003“, sagt Wittwer. „Diese Ware ist allein für den Schmuggel gedacht.“ Die Täter produzieren zahlreiche Marken mit verschiedenen Fantasienamen in mehreren Ländern, dann machen die Zigaretten eine halbe Weltreise, etwa über Ägypten und Malaysia, um in die EU eingeführt zu werden – als Futtermittel oder Saubohnen deklariert.

Die geschmuggelten Zigaretten verteilen die Schmuggler an Leute, denen sie vertrauen. Die verkaufen die Ware dann am Arbeitsplatz oder im Sportklub. „In einem Werk von großen Firmen zum Beispiel“, sagt Wittwer, „das ist ein Riesenmarkt mit vielen Abnehmern.“ Seine Fahnder hatten schon Schmuggler, die Kleinanzeigen in Zeitungen schalteten und sich als Pizzaboten tarnten. Die „Lieferung frei Haus“ war dabei nur der Code, dass es gar nicht um Pizza, sondern um Zigaretten geht. Zu ermitteln ist so etwas nur schwierig. Früher benutzten die Täter noch Telefon oder Fax, so dumm ist heute kaum mehr einer. Die Schmuggler transportieren die Zigaretten inzwischen auch in viel kleineren Mengen über die Grenze, nicht mehr in riesigen Lkw-Ladungen. So verteilen sie das Risiko und mindern den Verlust, wenn der Zoll mal einen Transport hochgehen lässt. Die Gewinne reinvestieren die Schmuggler in ihre Ausstattung und Logistik, sie bezahlen korrupte Helfer. Und sie waschen das Geld, bringen es so in den legalen Wirtschaftskreislauf und gewinnen an Macht und Einfluss. Die Mafia und Terrorgruppen haben den Markt für sich entdeckt, mit Zigaretten lässt sich leichter Geld machen als mit Drogen.

Die Fahnder versuchen vor allem, den Schmugglern über Geldflüsse auf die Spur zu kommen. Für die Verfolgung von Steuerhinterziehung, wozu auch der Zigarettenschmuggel gehört, unterstehen Siegfried Wittwer beim Zollfahndungsamt München 53 Mitarbeiter. Der Chefermittler selbst ist gut vernetzt, er arbeitete lange beim Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung „Olaf“. Zusammen mit den anderen Münchner Fahndern will er nicht nur Transporte und die Handlanger erwischen. Die Ermittler versuchen, an die Strippenzieher des Schmuggels heranzukommen, weshalb die Verfahren oft langwierig sind. „Wenn wir einen Häuptling kriegen, sind viele Indianer blind“, sagt Wittwer. Die Täter, die in einer Organisation in verschiedenen Hierarchiestufen zusammenarbeiten, kennen sich oft gar nicht. So können die Ermittler nachhaltig Strukturen zerstören.

Anfang dieses Jahres haben die Münchner Zollfahnder in einer lange vorbereiteten Aktion 19 Wohnungen, Arbeitsstätten und Lagerräume einer Bande in Bayern durchsucht und gegen 24 Tatverdächtige Haftbefehl erlassen. Der Steuerschaden beläuft sich auf mindestens 350000 Euro. In einem anderen Fall kontrollierten sie einen Lastwagen aus Griechenland, der Papierrollen für Zeitungsdruckereien geladen hatte. Die Rollen waren innen hohl und vollgestopft mit Zigaretten. Die Schmuggelware ist sichergestellt. Auch diese Zigaretten liegen nun im Keller des Zollfahndungsamts an der Landsberger Straße und warten darauf, zerstört zu werden.

Unterwegs in Richtung Schicksal

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In der ersten Einstellung schwenkt die Kamera über eine riesige, nächtlich erleuchtete Baugrube. Ein Arbeiter in Helm, Schutzweste und Gummistiefeln verlässt die Baustelle, steigt in einen Geländewagen und fährt los. An der ersten Ampel blinkt er links, scheint dann aber in eine kurze Agonie zu verfallen. Er reagiert nicht, als es grün wird, hinter ihm hupt zweimal drohend ein Lastwagen, schließlich setzt er den Blinker rechts und biegt ab.



"No Turning Back" zeigt 85 Minuten Autofahrt. Star des Films neben Tom Hardy: Die Freisprechanlage.

Erst nach und nach begreift man, wie groß die Entscheidung war, die da gefallen ist. Ein Mann hat seine Wahl getroffen, für die einzige Möglichkeit, mit der er leben kann. Und wird dabei doch sein Glück, seinen Ruf und seine Existenz aufs Spiel setzen. Die nächsten anderthalb Stunden werden die Hölle für ihn, aber er wird nicht umkehren. Die Filmgeschichte ist voll von Männern, die vor irgendetwas davonfahren – dieser hier ist in die Gegenrichtung unterwegs.

Ähnlich entschlossen ist auch Steven Knight, der Autor und Regisseur. Er wird bei diesem Mann bleiben, der nun über die Autobahn von Birmingham nach London fährt und dafür exakt die anderthalb Stunden braucht, die der Film dauert. Im Wesentlichen wird man sein Gesicht sehen, ein wenig Straßenverkehr, nächtliche Lichter. Andere Menschen aber kommen nur als Stimmen am Telefon vor. Mehr ist da nicht. Es wird keinen Unfall geben und keine Explosionen, keinen Terroranschlag und keine Staatskrise, keine Aliens und keine Superhelden. Nur diesen einen Mann und seine Verantwortung. Für seinen Job, seine Familie – und für den Fehler, den er begangen hat. Und doch ist „No Turning Back – Locke“ schicksalhaft spannend, fast wie ein antikes Drama.

Denn kaum ist der BMW auf der Autobahn, kommt die Freisprechanlage zum Einsatz. Sie wird ein echter Star dieses Films. Ivan Locke, so heißt der Mann, telefoniert nun fast ununterbrochen, während das Ausmaß seines Dilemmas erkennbar wird. Schnell ist klar, dass er auf dem Weg zu einer Geburt ist, und das Kind ist seins. Aber offenbar kennt er die Mutter kaum, sie ist auch fast schon zu alt, um Kinder zu haben, dazu eine sehr fragile, furchtsame Person. Nach einem verunglückten One-Night-Stand sieht sie in dieser Schwangerschaft ihre letzte Chance. Ivan Locke aber ist Familienvater, er liebt seine Frau und seine beiden Söhne, und man glaubt ihm, wenn er beteuert, dass dies in all den Jahren sein einziger Fehltritt war.
Was nun die Albträume von Familienvätern betrifft, ist das in der Tat so ziemlich der Super-GAU: Auf stillere Weise fast so peinigend wie die Kaninchen meuchelnde Glenn Close in „Fatal Attraction“, die den Machos der Achtzigerjahre den Schreck ihres Lebens beschert hat. Nur dass hier, das macht die Sache noch quälender, nicht einmal wirkliche Attraktion im Spiel war.

Ivan Locke hat nun beschlossen, dieser Frau keine Lügen von Liebe und Zuneigung zu erzählen, aber trotzdem für das Kind da zu sein, auch bei der Geburt. Weil er ein anständiger Mensch sein möchte. Und weil er nicht wie sein eigener Vater werden will, den er als Kind und Jugendlicher nicht kannte – und dafür immer gehasst hat. Wie hoch der Preis für Anständigkeit sein kann, das begreifen er und alle anderen, die in seinem Leben eine Rolle spielen, allerdings erst in dieser Nacht.

Denn wie es der Teufel will, fallen die Wehen – zwei Monate zu früh – exakt mit dem bisher wichtigsten Job seiner Karriere zusammen. Er ist Bauleiter auf Englands größter Baustelle, am nächsten Morgen um fünf Uhr fünfundvierzig werden Transporter aus allen Teilen des Landes anrollen, um 355 Tonnen Frischbeton in die Grundfesten seines Wolkenkratzers zu pumpen – bei solchen Zahlen ist Locke exakt.

Weil er aber seine Entscheidung getroffen hat, wird er in diesem Moment, in dem tausend Dinge schiefgehen können, nicht dabei sein. Eine Ansage, auf die sein Assistent und sein Chef erst ungläubig und fassungslos reagieren, schließlich mit nackter Panik. Erkennbar gibt es nur einen Menschen im ganzen britischen Königreich, der die Verantwortung des morgigen Tages tragen kann, und der fährt gerade in die falsche Richtung.

Wie er nun gefeuert wird und beschließt, seinen Assistenten am Telefon trotzdem durch die nötigen Vorbereitungen zu lotsen, während immer neue Probleme auftauchen; wie seine Frau auf die Enthüllung reagiert, dass er sie betrogen hat und noch einmal Vater wird; wie seine Söhne ihn bitten, heimzukommen; und wie die Fremde, die sein Kind gebären wird, am Telefon zunehmend jede Fassung verliert – das ist schon die ganze Handlung des Films. Aber sie erzeugt trotzdem mehr Druck, als ein einzelner Mensch innerhalb von anderthalb Stunden ertragen kann.

Ivan Locke jedoch starrt in den Abgrund, der sich da vor ihm auftut, und bleibt ruhig – getrieben von einem unerschütterlichen Glauben daran, dass man selbst die Apokalypse durchstehen kann, wenn man nur die Nerven nicht verliert. Man versteht, warum er der beste Bauleiter Englands geworden ist, und begreift den Film immer mehr als eine Art Titanenkampf: Hat das Schicksal, in all seiner Willkür und Bösartigkeit, hier endlich einmal einen würdigen Gegner gefunden?

Jedenfalls würde man nicht darauf wetten, dass dieser Mann zerbrechen wird – und das liegt zuallererst an Tom Hardy. Man kennt ihn als Muskelschurken Bane aus „The Dark Knight Rises“, nächstes Jahr wird er Mel Gibson als „Mad Max“ beerben. Einer dieser britischen Alphamänner, etwa in der Tradition Richard Burtons. Allerdings setzt Hardy seine Mittel sparsam ein, arbeitet vor allem mit der Stimme, der man stundenlang zuhören könnte. Diese Performance lässt wenig Zweifel daran, dass er zu den Großen seiner Generation gehören wird.

Die Frage schließlich, ob ein Film im Innenraum eines BMW-Geländewagens entstehen kann und trotzdem die Kraft hat, das ganze Leben zu umfassen, muss man nach „No Turning Back“ mit einem klaren Ja beantworten. Steven Knight, der als Autor für Stephen Frears und David Cronenberg bekannt wurde, hat seine Geschichte brillant geschrieben und inszeniert, und er beweist einmal mehr, wie sehr die Suggestionskraft des Kinos gerade dann wächst, wenn sie sich die härtesten Beschränkungen auferlegt.

Locke, GB 2013 – Regie und Buch: Steven Knight. Kamera: Haris Zambarloukos. Schnitt: Justine Wright. Musik: Dickon Hinchliffe. Mit Tom Hardy, Ruth Wilson, Andrew Scott. Studiocanal, 85 Minuten.

Superbanane

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Der Begriff des „genmanipulierten“ Lebensmittels provoziert in Deutschland meist Ablehnung oder sogar Abscheu. Was aber, wenn es um das Wohl von Kindern in den Entwicklungsländern geht? Zumindest Forscher denken da oft, sie hätten keine andere Wahl, als in den biotechnologischen Werkzeugkasten zu greifen.



Ab 2020 könnten gentechnisch veränderte Kochbananen in Uganda angebaut werden.

Das jüngste Produkt dieser Bemühungen wird nun sechs Wochen lang an Menschen getestet. Mit Unterstützung der Bill & Melinda Gates Stiftung haben Wissenschaftler eine afrikanische Kochbanane entwickelt, die große Mengen von gelb-orangem Betacarotin enthält, einem Provitamin, das der Körper in Vitamin A umwandelt. Normale Kochbananen sind nahrhaft, enthalten aber nur wenig Betacarotin. Erst mit weiteren Genen anderer Bananen gelang es James Dale von der Technischen Universität in Queensland, Australien, die blasse Frucht in eine Superbanane zu verwandeln. Die Tests werden zeigen, wie das zusätzliche Provitamin vom Körper aufgenommen wird. Falls die Vitamin-A-Versorgung durch die Pflanze verbessert werden kann, soll sie von 2020 an in Uganda angebaut werden. Kochbananen sind in dem Land die wichtigste Ackerfrucht, nirgends auf der Welt wird mehr davon geerntet.

Zugleich gehört Uganda zu den Vitamin-A-Mangelgebieten der Erde. Betroffen sind vor allem die Jüngsten. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation leiden 250 Millionen Schulkinder weltweit an einem Vitamin-A-Mangel. Mindestens 350000 von ihnen erblinden, fast doppelt so viele sterben jedes Jahr. Die „Superbanane“ oder auch „Goldene Banane“ ist deshalb nicht der erste Versuch, durch genetisch veränderte Feldfrüchte Kinderleben zu retten. Es gibt den Goldenen Mais, goldene Süßkartoffeln, rotes Palmöl. Am bekanntesten dürfte der „Goldene Reis“ sein. Vor 14 Jahren stellten Forscher ihn vor, längst sollte das Gentech-Getreide große Flächen in Südostasien bewachsen.

Wer aber den Reis auf den Feldern sucht, ist lange unterwegs. Nur die Philippinen und Bangladesch haben sich auf Freilandversuche eingelassen, die dann von Gentechnik-Gegnern zerstört oder bedroht wurden. Und das ist nicht der einzige Widerstand. Selbst Forscher warnen vor theoretischen Überdosierungen an Vitamin A, dem Auslaugen der Reisfelder, der Ablenkung von den allgemeinen Ernährungsproblemen und deren Ursachen. Noch immer ist nicht absehbar, ob Asiens Kinder jemals gelbe Reiskörner in ihren Schüsseln finden werden. Sterben aber tun sie weiterhin.

Rückschläge rauben dem Australier Dale nicht den Optimismus. „Golden Rice war bahnbrechend für uns“, sagt er. „Eines Tages wird dieser Reis verfügbar sein und die Last des Vitamin-A-Mangels schultern helfen.“ Immerhin weiß der Forscher die Regierung in Kampala auf seiner Seite. „Die Nationale Forschungsorganisation wird das Projekt selbst umsetzen. Wir steuern nur die technische Hilfe bei“, sagt der Biotechnologe. Erste Feldversuche in Afrika laufen seit drei Jahren. Dale zählt zudem auf die Empathie der Menschen. Genetisch veränderte Pflanzen seien nicht der Feind. „Ich glaube fest daran, dass das Mitgefühl für die Ärmsten der Armen auf dieser Welt die Oberhand gewinnt.“
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