Ein Hotelier in Brüssel lässt Wohnsitzlose neben gewöhnlichen Gästen übernachten. Damit gibt er seinen Besuchern völlig neue Perspektiven
Kouassi Kouadio erinnert sich noch gut an die Angst, die jeden Tag in ihm hochkroch, wenn die Wintersonne vom Abendhimmel verschwand. Es war die Angst vor der Kälte, vor den Schlägereien um einen trockenen Schlafplatz und vor der täglichen Frage, ob er wieder eine Nacht in den Straßen von Brüssel schlafen müsste. Wie seinen dreckigen Mantel trug der gebürtige Ivorer diese Angst überall mit sich herum. Bis er von Bekannten eine Geschichte hörte, die er einfach nicht glauben konnte. 'Ich hatte ja erst einmal nur diese Adresse', erzählt Kouadio: 23 Rue du Marché aux Fromages, mitten im Brüsseler Touristenviertel bei der Grand-Place. 'Dort sollte das Hotel Mozart stehen, wo Obdachlose unterkommen könnten, aber ich dachte, das wäre nur einer dieser Spitznamen, die wir einigen Schlafplätzen geben.' Dann stand er vor den golden umrahmten Glastüren, sah dahinter das warme Licht und die bunten Mosaike an der Wand - und traute sich nicht hinein.
'Mir war das suspekt', erzählt Kouadio, der in echt anders heißt. 'Deswegen habe ich gewartet, bis die nächsten Gäste reingingen, und bin denen unauffällig an die Rezeption gefolgt.' Dort stand Ahmed Ben Abderrahman, der Besitzer des Drei-Sterne-Hotels, und kramte bereits nach einem Schlüssel. 'Leute, die hier Hilfe suchen, sollen keine Berührungsängste haben und sich hier wohl fühlen, da stelle ich ihnen keine Fragen', erklärt Ben, wie den Chef hier alle nennen. 51 Obdachlose waren in den kalten Januar-Wochen bereits in dem Hotel untergekommen, viele zu zweit oder zu dritt in einem der 54 Zimmer. 'Aber meistens sind im Winter weniger zahlende Gäste hier, da hat sich auch für Kouassi ein Bett gefunden', erinnert er sich.
Vor allem im Winter ist das Leben auf der Straße hart. Im "Hotel Mozart" in Brüssel finden Menschen ohne Wohnung eine Unterkunft, sommers wie winters.
Zwei Bedingungen stellt der Besitzer an die Obdachlosen: Sie sollten jeden Tag duschen und frische Kleidung anziehen, die sie von Ben bekommen, der sie über Beziehungen günstig besorgt. Neu angezogen fallen die Menschen von der Straße in dem Hotel kaum auf. So sind auch die meisten Gäste verblüfft, wenn man sie auf die Obdachlosen im Hotel anspricht. 'Die hatte ich gar nicht bemerkt', sagt etwa Thierry Sarkission, der aus Marseille für eine Konferenz nach Brüssel gereist ist. 'Aber die Unterstützung für sie finde ich gut!'
Für Kouadio war es eine Erleichterung, seinen abgetragenen Mantel gegen eine neue Jacke zu tauschen. Denn damit legte er auch einen Teil seiner Unsicherheit ab. 'Hier im Hotel fühle ich mich geborgen', sagt er. An den öffentlichen Schlafplätzen der Stadt habe es immer Schlangen gegeben, in denen sich Betrunkene vordrängelten und Schlägereien provozierten. Wer dennoch einen Platz ergatterte, schlief mit bis zu 100 Menschen in einem Raum. Um 22 Uhr ging das Licht aus und um 6.30 Uhr wieder an, denn um 8 Uhr mussten alle vor der Türe sein und den Tag auf der Straße verbringen. 'Ich habe mich tagsüber öfter in Cafés zum Aufwärmen geflüchtet, aber das kostete Geld', erzählt Kouadio.
Für sein Bett und das Essen im Hotel muss er hingegen nichts bezahlen. Morgens teilen die Obdachlosen den Frühstücksraum mit den regulären Gästen, von Dezember bis Februar erhalten sie zudem ein warmes Abendessen. In diesen Monaten ist das Hotel-Restaurant abends für zahlende Gäste geschlossen. Dafür kann sonst jeder kommen, der Hunger hat. Bis zu 300 Menschen drücken dann oft in den Essensraum, sodass sich vor dem Eingang eine Menschentraube bildet. Vor allem junge Männer stehen dann dort, aber auch Frauen mit Kindern, alle angelockt von Wärme und Essen.
Für Ben ist das eine hektische Zeit. Er muss jeden Tag Lebensmittel kaufen, zusätzliches Küchenpersonal suchen und all die Ausgaben dafür begleichen, die sich schnell auf den Wert eines neuen Autos summieren. Da er für seine Hilfen keine Förderung von der Stadt oder anderen Stellen bekommt, stellt sich spätestens da die Frage: Warum macht er das?
'Ich bin Moslem, und der Islam ist eine Religion des Teilens', erklärt er. Doch gehe es ihm nicht nur um religiöse Fragen. 'Ein paar Freunde von mir haben viel Geld, aber keine Zeit und sie sind unglücklich', erzählt er. Wenn er in seinem Restaurant Essen an die Obdachlosen verteile, dann bekomme er zwar dafür keinen Cent. 'Aber die Leute zahlen mit Güte, und wenn ich am Abend rausgehe, dann bin ich glücklich über das, was ich getan habe.'
Es erscheint wie eine einfache Vorstellung des Glücks. Doch dahinter steckt eine kompliziertere Geschichte, die 1954 begann, als Ben in der marokkanischen Hafenstadt Tanger geboren wurde. Zunächst arbeitete er als Touristenführer, bis er im Alter von 19 Jahren wohlhabende Amerikaner traf. Die Familie aus Kalifornien schloss den Jungen ins Herz, nahm ihn mit nach Hause - und veränderte sein Leben.
In den USA lernte Ben neue Fremdsprachen, von denen er sieben fließend spricht. Er hatte auch Zeit für Hobbys wie Klavierunterricht bei dem Jazzmusiker George Cory - was ihn später inspirierte, ein Piano in die Eingangshalle seines Hotels zu stellen. Vor allem aber bekam er in Kalifornien einen Einblick in die Geschäftswelt. Dabei sah er, wie man geschickt ein Vermögen anhäuft - und wie wenig ihn die Welt der Reichen letztlich erfüllte. Somit verließ er das Land nach acht Jahren und ging mit neuem Wissen und etwas Geld nach Brüssel.
Zunächst startete er dort sein eigenes Restaurant und eröffnete dann das Hotel Mozart. Doch musste er auch feststellen, wie der Erfolg Beziehungen erschwert. 'Schau meine Tochter an', sagt er, 'jetzt ist sie mal aus Paris zu Besuch da und hat nicht mal Zeit, mit mir Mittagessen zu gehen.' In armen Ländern wie Marokko sehe er hingegen oft Familien, die nicht viel besitzen, aber bei den Mahlzeiten alle zusammen sitzen. Eine ähnliche Gemeinschaft fand Ben im Hotel Mozart. Einige seiner Mitarbeiter sind seit der Gründung vor 19Jahren mit dabei, und auch zu manchen Obdachlosen entwickelt er eine gewisse Freundschaft. Doch er sei vorsichtig: 'Ich will deren Probleme gar nicht alle hören, sonst werde ich verrückt.' Außerdem weiß er, dass sich die Gruppe jeden Frühling auflöst, wenn mit dem warmen Wetter wieder mehr Touristen kommen. Dann braucht Ben die Zimmer für zahlende Gäste. Auf Kouadio kommt diese Umstellung ebenfalls zu. Nach drei Monaten im Hotel wird er bald ausziehen.
Allerdings verdiente er über den Winter etwas Geld mit Gelegenheitsjobs und hatte im Hotel keine Ausgaben. Somit kann er sich bald die Miete für ein kleines Apartment mit einem Freund teilen. Noch wichtiger ist für ihn jedoch das Gefühl, 'nicht mehr jeden Tag draußen erniedrigt zu werden', wie er sagt. 'So werde ich meinen Teufelskreis hoffentlich durchbrechen.'
Kouassi Kouadio erinnert sich noch gut an die Angst, die jeden Tag in ihm hochkroch, wenn die Wintersonne vom Abendhimmel verschwand. Es war die Angst vor der Kälte, vor den Schlägereien um einen trockenen Schlafplatz und vor der täglichen Frage, ob er wieder eine Nacht in den Straßen von Brüssel schlafen müsste. Wie seinen dreckigen Mantel trug der gebürtige Ivorer diese Angst überall mit sich herum. Bis er von Bekannten eine Geschichte hörte, die er einfach nicht glauben konnte. 'Ich hatte ja erst einmal nur diese Adresse', erzählt Kouadio: 23 Rue du Marché aux Fromages, mitten im Brüsseler Touristenviertel bei der Grand-Place. 'Dort sollte das Hotel Mozart stehen, wo Obdachlose unterkommen könnten, aber ich dachte, das wäre nur einer dieser Spitznamen, die wir einigen Schlafplätzen geben.' Dann stand er vor den golden umrahmten Glastüren, sah dahinter das warme Licht und die bunten Mosaike an der Wand - und traute sich nicht hinein.
'Mir war das suspekt', erzählt Kouadio, der in echt anders heißt. 'Deswegen habe ich gewartet, bis die nächsten Gäste reingingen, und bin denen unauffällig an die Rezeption gefolgt.' Dort stand Ahmed Ben Abderrahman, der Besitzer des Drei-Sterne-Hotels, und kramte bereits nach einem Schlüssel. 'Leute, die hier Hilfe suchen, sollen keine Berührungsängste haben und sich hier wohl fühlen, da stelle ich ihnen keine Fragen', erklärt Ben, wie den Chef hier alle nennen. 51 Obdachlose waren in den kalten Januar-Wochen bereits in dem Hotel untergekommen, viele zu zweit oder zu dritt in einem der 54 Zimmer. 'Aber meistens sind im Winter weniger zahlende Gäste hier, da hat sich auch für Kouassi ein Bett gefunden', erinnert er sich.
Vor allem im Winter ist das Leben auf der Straße hart. Im "Hotel Mozart" in Brüssel finden Menschen ohne Wohnung eine Unterkunft, sommers wie winters.
Zwei Bedingungen stellt der Besitzer an die Obdachlosen: Sie sollten jeden Tag duschen und frische Kleidung anziehen, die sie von Ben bekommen, der sie über Beziehungen günstig besorgt. Neu angezogen fallen die Menschen von der Straße in dem Hotel kaum auf. So sind auch die meisten Gäste verblüfft, wenn man sie auf die Obdachlosen im Hotel anspricht. 'Die hatte ich gar nicht bemerkt', sagt etwa Thierry Sarkission, der aus Marseille für eine Konferenz nach Brüssel gereist ist. 'Aber die Unterstützung für sie finde ich gut!'
Für Kouadio war es eine Erleichterung, seinen abgetragenen Mantel gegen eine neue Jacke zu tauschen. Denn damit legte er auch einen Teil seiner Unsicherheit ab. 'Hier im Hotel fühle ich mich geborgen', sagt er. An den öffentlichen Schlafplätzen der Stadt habe es immer Schlangen gegeben, in denen sich Betrunkene vordrängelten und Schlägereien provozierten. Wer dennoch einen Platz ergatterte, schlief mit bis zu 100 Menschen in einem Raum. Um 22 Uhr ging das Licht aus und um 6.30 Uhr wieder an, denn um 8 Uhr mussten alle vor der Türe sein und den Tag auf der Straße verbringen. 'Ich habe mich tagsüber öfter in Cafés zum Aufwärmen geflüchtet, aber das kostete Geld', erzählt Kouadio.
Für sein Bett und das Essen im Hotel muss er hingegen nichts bezahlen. Morgens teilen die Obdachlosen den Frühstücksraum mit den regulären Gästen, von Dezember bis Februar erhalten sie zudem ein warmes Abendessen. In diesen Monaten ist das Hotel-Restaurant abends für zahlende Gäste geschlossen. Dafür kann sonst jeder kommen, der Hunger hat. Bis zu 300 Menschen drücken dann oft in den Essensraum, sodass sich vor dem Eingang eine Menschentraube bildet. Vor allem junge Männer stehen dann dort, aber auch Frauen mit Kindern, alle angelockt von Wärme und Essen.
Für Ben ist das eine hektische Zeit. Er muss jeden Tag Lebensmittel kaufen, zusätzliches Küchenpersonal suchen und all die Ausgaben dafür begleichen, die sich schnell auf den Wert eines neuen Autos summieren. Da er für seine Hilfen keine Förderung von der Stadt oder anderen Stellen bekommt, stellt sich spätestens da die Frage: Warum macht er das?
'Ich bin Moslem, und der Islam ist eine Religion des Teilens', erklärt er. Doch gehe es ihm nicht nur um religiöse Fragen. 'Ein paar Freunde von mir haben viel Geld, aber keine Zeit und sie sind unglücklich', erzählt er. Wenn er in seinem Restaurant Essen an die Obdachlosen verteile, dann bekomme er zwar dafür keinen Cent. 'Aber die Leute zahlen mit Güte, und wenn ich am Abend rausgehe, dann bin ich glücklich über das, was ich getan habe.'
Es erscheint wie eine einfache Vorstellung des Glücks. Doch dahinter steckt eine kompliziertere Geschichte, die 1954 begann, als Ben in der marokkanischen Hafenstadt Tanger geboren wurde. Zunächst arbeitete er als Touristenführer, bis er im Alter von 19 Jahren wohlhabende Amerikaner traf. Die Familie aus Kalifornien schloss den Jungen ins Herz, nahm ihn mit nach Hause - und veränderte sein Leben.
In den USA lernte Ben neue Fremdsprachen, von denen er sieben fließend spricht. Er hatte auch Zeit für Hobbys wie Klavierunterricht bei dem Jazzmusiker George Cory - was ihn später inspirierte, ein Piano in die Eingangshalle seines Hotels zu stellen. Vor allem aber bekam er in Kalifornien einen Einblick in die Geschäftswelt. Dabei sah er, wie man geschickt ein Vermögen anhäuft - und wie wenig ihn die Welt der Reichen letztlich erfüllte. Somit verließ er das Land nach acht Jahren und ging mit neuem Wissen und etwas Geld nach Brüssel.
Zunächst startete er dort sein eigenes Restaurant und eröffnete dann das Hotel Mozart. Doch musste er auch feststellen, wie der Erfolg Beziehungen erschwert. 'Schau meine Tochter an', sagt er, 'jetzt ist sie mal aus Paris zu Besuch da und hat nicht mal Zeit, mit mir Mittagessen zu gehen.' In armen Ländern wie Marokko sehe er hingegen oft Familien, die nicht viel besitzen, aber bei den Mahlzeiten alle zusammen sitzen. Eine ähnliche Gemeinschaft fand Ben im Hotel Mozart. Einige seiner Mitarbeiter sind seit der Gründung vor 19Jahren mit dabei, und auch zu manchen Obdachlosen entwickelt er eine gewisse Freundschaft. Doch er sei vorsichtig: 'Ich will deren Probleme gar nicht alle hören, sonst werde ich verrückt.' Außerdem weiß er, dass sich die Gruppe jeden Frühling auflöst, wenn mit dem warmen Wetter wieder mehr Touristen kommen. Dann braucht Ben die Zimmer für zahlende Gäste. Auf Kouadio kommt diese Umstellung ebenfalls zu. Nach drei Monaten im Hotel wird er bald ausziehen.
Allerdings verdiente er über den Winter etwas Geld mit Gelegenheitsjobs und hatte im Hotel keine Ausgaben. Somit kann er sich bald die Miete für ein kleines Apartment mit einem Freund teilen. Noch wichtiger ist für ihn jedoch das Gefühl, 'nicht mehr jeden Tag draußen erniedrigt zu werden', wie er sagt. 'So werde ich meinen Teufelskreis hoffentlich durchbrechen.'