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Der lange Weg zur Wahrheit

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Die wichtigsten Fragen und Antworten zum NSU-Prozess, der an diesem Montag beginnt


Der Tag, an dem Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt starben, liegt schon anderthalb Jahre zurück. In einem Wohnmobil nahmen sie sich das Leben. So endete am 4. November 2011 nach einem Banküberfall in Eisenach die Verbrechensserie des 'Nationalsozialistischen Untergrunds' (NSU), dem die Ankläger zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle zurechnen. Nach dem Tod ihrer Freunde fuhr Beate Zschäpe vier Tage mit der Bahn durch die Republik, bis sie sich am 8. November 2011 stellte. Sie sitzt seitdem in Untersuchungshaft. An diesem Montag beginnt nun in München endlich der Prozess gegen Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des NSU. Es dürfte einer der größten Terrorprozesse in der deutschen Geschichte werden.



Das OLG München.

Was wird zu Beginn des Prozesses geschehen?
Der Vorsitzende Richter muss zunächst die Anwesenheit der Prozessbeteiligten feststellen. Das kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Es gibt fünf Angeklagte mit insgesamt einem Dutzend Verteidigern. Dazu kommen aus den Reihen der Opfer und ihrer Angehörigen etwa 80 Nebenkläger, die eigene Anwälte mitbringen. Voraussichtlich werden nicht alle an jedem Verhandlungstag im Gerichtssaal sein.

Wie bei jedem Strafprozess muss am Anfang der Staatsanwalt, in diesem Fall ein Bundesanwalt, den Anklagesatz verlesen, also eine Zusammenfassung der Vorwürfe gegen die Angeklagten. Das sind allein 35 Seiten. Anschließend können sich die Angeklagten dazu äußern - oder schweigen. Es ist möglich, dass es zu diesem spannenden Moment am ersten Verhandlungstag noch gar nicht kommt. Erwartet wird 'ein Antragsgewitter', wie es der Anwalt Sebastian Scharmer am Sonntag ausdrückte. Beispielsweise könnten Verteidiger und Nebenkläger die Enge im Gerichtssaal thematisieren. Möglicherweise wird - nach dem Ärger bei der Zulassung von Medienvertretern und einem Streit über Sicherheitskontrollen für Anwälte - dem Richter sogar Befangenheit unterstellt. Als nächste Verhandlungstage sind Dienstag und Mittwoch festgesetzt.

Was wird Beate Zschäpe vorgeworfen, welche Strafe ist möglich?
Die Ankläger sehen Beate Zschäpe in der Rolle eines NSU-Mitglieds, das für alle Verbrechen des NSU mitverantwortlich ist. Die 38-Jährige ist daher unter anderem angeklagt wegen Mittäterschaft bei zehn Morden - auch wenn nicht sie selbst, sondern Böhnhardt und Mundlos die tödlichen Schüsse auf die Opfer abgefeuert haben sollen. Zschäpe soll am 4. November 2011 zudem die Wohnung des Trios in Zwickau in Brand gesteckt und dabei den Tod von Menschen in Kauf genommen haben. Sie ist daher zusätzlich wegen besonders schwerer Brandstiftung und versuchten Mordes angeklagt. Allein für die Brandstiftung könnte Zschäpe mit mindestens fünf Jahren Haft bestraft werden. Verurteilt das Gericht sie als Mittäterin bei der NSU-Mordserie, bekäme sie in jedem Falle eine lebenslängliche Haftstrafe. Denkbar wäre aber auch, dass sie nicht wegen Mittäterschaft, sondern wegen Beihilfe zu den Morden verurteilt wird. Und natürlich ist auch noch möglich, dass sich die Beweise am Ende als nicht tragfähig erweisen oder neue Tatsachen ans Licht kommen und das Gericht zu einem ganz anderen Ergebnis gelangt als derzeit die Anklagebehörde.

Mehrere Anwälte von Nebenklägern erklärten am Sonntag, ihnen gehe es nicht darum, in möglichst kurzer Zeit maximale Strafen zu erreichen. Wichtig sei vor allem 'maximale Aufklärung'.

Wird Zschäpe weiter schweigen?
Bisher spricht viel dafür, dass Zschäpe sich nicht äußert. Dann muss das Gericht in einem mühsamen Indizienprozess die Vorwürfe prüfen. Denkbar wäre aber, dass Zschäpes Verteidiger eine Erklärung abgeben, in der sie nicht nur die Anklageschrift angreifen, sondern auch eine alternative Version von Zschäpes Rolle im Zusammenleben mit Mundlos und Böhnhardt andeuten. Das könnte zum Beispiel darauf hinauslaufen, dass Zschäpe zwar durch das gemeinsame Untertauchen auch emotional mit den beiden Männern verstrickt gewesen sei - dass sie aber nichts oder nicht alles von den Taten ihrer Freunde gewusst oder diese nicht gutgeheißen habe. Nicht ausgeschlossen ist zudem, dass sich Zschäpe im Verlauf des langen Prozesses doch noch dazu entschließt zu reden.

Wer sind die vier weiteren Angeklagten?
Der frühere Thüringer NPD-Funktionär Ralf Wohlleben ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Der 38-Jährige soll das Trio nach seinem Untertauchen 1998 unterstützt und später auch geholfen haben, die Ceska 83 zu beschaffen - jene Waffe, mit der die NSU-Terroristen in den Jahren 2000 bis 2006 acht Männer mit türkischen und einen Mann mit griechischen Wurzeln töteten (beim zehnten Mord, 2007 an der Polizistin Michèle Kiesewetter, verwendeten die Täter andere Waffen). Wohlleben hat bisher nicht zur Sache ausgesagt. Dagegen legte Carsten S. ein Geständnis ab. Auch er ist, weil er die Ceska besorgt haben soll, wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Der 33-Jährige hat sich schon vor Jahren aus der Neonazi-Szene gelöst und ist von seiner Vergangenheit eingeholt worden.

Als mutmaßliche NSU-Unterstützer müssen sich zudem André E. und Holger G. verantworten. Der 38-jährige G. soll dem Trio durch Ausweispapiere geholfen und ihm eine weitere Waffe besorgt haben. Er hat dazu eine umfangreiche Aussage gemacht. André E. hingegen hält sich bedeckt. Gemeinsam mit seiner Frau Susann soll er bis zuletzt in Zwickau sehr eng mit dem Trio gewesen sein. Der 33-Jährige ist angeklagt wegen Beihilfe zu einem Raubüberfall und einem Sprengstoffanschlag.

Gibt es nicht noch mehr NSU-Helfer?
Nach dem Untertauchen bekam das Trio von etlichen Neonazis Hilfe, beispielsweise durch Spenden oder das Vermitteln einer Unterkunft. Eine Mitwisserschaft bei den NSU-Verbrechen belegt das allerdings noch nicht. Zudem sind viele Aktionen strafrechtlich verjährt. Außer gegen die fünf Angeklagten ist gegen neun weitere Beschuldigte ermittelt worden. Für eine Anklage hat es bei ihnen nicht gereicht. Möglicherweise gibt es zudem noch weitere Helfer oder sogar Tatbeteiligte, die bislang nicht bekannt sind. Diesen Verdacht hegen viele Antifa-Aktivisten und auch manche Nebenkläger. Sie hoffen, dass vor Gericht Hinweise dazu bekannt werden.

Bekommt das Gericht Hilfe von den Untersuchungsausschüssen?
Vertreter der Behörden sitzen nicht auf der Anklagebank. Aber sowohl die Seite der Angeklagten als auch die Seite der Nebenkläger werden das Versagen des Staates und die zwielichtige Rolle der V-Männer thematisieren. Dabei kann das Gericht auch auf Erkenntnisse aus den Untersuchungsausschüssen zurückgreifen. Die Arbeit der Parlamentsgremien in Berlin, Erfurt, Dresden und München ist noch nicht abgeschlossen. Es sind dort teilweise skandalöse Zustände beim Einsatz von V-Männern in der Neonazi-Szene ans Licht gekommen.

Allerdings hat sich bisher kein Beleg dafür finden lassen, dass Behörden von den NSU-Verbrechen gewusst und sie gedeckt hätten. In einer gemeinsamen Erklärung kündigten sieben Anwälte von Nebenklägern am Sonntag an, es müsse vor Gericht auch um die folgenden Fragen gehen: Welchen Anteil hatten die Behörden am langjährigen Bestand des NSU? Wurde der NSU durch V-Männer unterstützt?

Wie streng sind die Sicherheitsmaßnahmen?
Für den NSU-Prozess gelten scharfe Sicherheitsauflagen. Etwa 500 Polizisten sollen im Einsatz sein und das Gericht absichern. Am Montagvormittag wird vor dem Gebäude eine Demonstration erwartet. Alle Besucher des Prozesses werden intensiv kontrolliert. Sogar die Rechtsanwälte sollen sich körperlichen Durchsuchungen unterziehen. Befürchtet wird, dass Verteidiger, womöglich auch ohne ihr Wissen, gefährliche Gegenstände in den Saal schmuggeln könnten. Mehrere Verteidiger wollen sich das aber nicht gefallen lassen und verlangen Gleichbehandlung: Auch die Richter, Bundesanwälte, Polizisten und Justizbediensteten müssten dann eine Durchsuchung über sich ergehen lassen.

Warum ist der Prozess in München?

Für Terrorprozesse sind die Staatsschutz-Senate der Oberlandesgerichte zuständig. Es kamen nur wenige Orte infrage, außer München zum Beispiel Düsseldorf oder Stuttgart. Zu Bayern gab es einen besonders starken Bezug, denn fünf der zehn NSU-Morde wurden in Bayern verübt: drei in Nürnberg, zwei in München.

Wie lange wird der Prozess dauern?
Das Gericht hat bereits 85 Verhandlungstage angesetzt - bis Januar 2014. Gerechnet wird aber mit einer Dauer von mehr als zwei Jahren. Die Bundesanwaltschaft hat mehr als 600 Zeugen und Sachverständige benannt, unter ihnen Polizisten, der frühere V-Mann Tino Brandt, Zschäpes Mutter, frühere Nachbarn und Bekannte des NSU-Trios. Die anderen Prozessbeteiligten können ebenfalls Beweisanträge stellen - die Liste der Zeugen kann noch länger werden.

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