Wie weit haben sich die Demokratien in Europa und in den USA voneinander entfernt? Historiker diskutierten in München über die transatlantische Demokratie und das Problem populistischer Bewegungen.
Die Symptome mehren sich, die Diagnose lautet immer häufiger "Demokratiemüdigkeit". Hat die westliche Demokratie ihre beste Zeit schon hinter sich, wie Colin Crouch mit seiner These der "Postdemokratie" behauptet? Wahlkampfdebatten sind demnach nur noch PR-Spektakel. Politik wird von Eliten gemacht, hinter verschlossenen Türen und im Interesse großer Unternehmen. Im wachsenden Krisendiskurs brodelt Unzufriedenheit und Enttäuschung. Zuletzt gab der Soziologe Harald Welzer im Spiegel bekannt, die nächste Wahl boykottieren zu wollen. Fundamentale Zweifel werden insbesondere in Europa größer, in den USA dagegen - so meint man - herrscht noch immer ein grundlegendes Vertrauen in die Demokratie. Haben sich Europa und Amerika in unterschiedliche Richtungen entwickelt? Kann von einer transatlantischen Demokratie überhaupt noch die Rede sein? Diesen Fragen stellten sich jetzt Historiker und Politikwissenschaftler in München.
Populismus, Manipulation, Lobbyismus - Ist die Demokratie in der Krise?
Die klassische repräsentative Demokratie habe sich transformiert, erklärt Paul Nolte von der FU Berlin, der zur Tagung am Münchner Historischen Kolleg eingeladen hatte, wo er gerade als Stipendiat zu Gast ist. Die Demokratie sei heute fließender, beweglicher. Mit den Protestbewegungen sind neue Formen der Partizipation entstanden. Fragen des Konsums und Boykottaktionen haben an Wichtigkeit gewonnen. Zudem ist das System stark von der Justiz, zum Beispiel von Verwaltungsgerichten geprägt. Und es sind oft nicht Bürger, die sich im Eigeninteresse an politischen Konflikten beteiligen, sondern Anwälte, die die Interessen anderer vertreten.
Nicht ein Gespenst, nein, mehrere Gespenster gehen um, in Europa wie in Nordamerika: Eines ist die Krise der repräsentativen Demokratie, ein anderes der Populismus. Die einen sehen darin eine Deformation der Demokratie, die anderen ein nützliches Korrektiv, das das System periodisch therapiert. Jan-Werner Müller (Princeton) räumt erst einmal mit Missverständnissen auf: Populismus ist weder mit einer gesellschaftlichen Klasse noch mit Ressentiments oder Vereinfachungen gleichzusetzen. Populisten nehmen in der Regel eine klare Trennung vor. Da wird das reine, unschuldige, hart arbeitende Volk von zwei Gruppen abgegrenzt, die offenbar nicht dazu gehören: der korrupten Elite und der Unterschicht. In Amerika wirkten die liberalen Eliten zum Beispiel mit afroamerikanischen Minderheiten zusammen; dagegen steht der reine, der echte Amerikaner.
Solchen Oppositionen liegt die Annahme zugrunde, so Müller, dass es einen common sense gebe und dass dieser einen allgemeinen Willen bestimme, der von einer Partei repräsentiert wird, die nicht nur die 99 Prozent für sich beansprucht: "We are the 100 percent." Die Definition von Demokratie als "organized uncertainty" ist dem Populisten fremd, weil ihm nichts ungewiss ist. Dass populistische Bewegungen nicht unbedingt nur Protestbewegungen sind, sondern durchaus Regierungsverantwortung tragen können, zeigt das Beispiel Ungarn. Viktor Orbáns Regime betreibe Massenklientelpolitik nach dem Motto: "Wir gehören wahrhaftig zum Volk!" Der Fall Berlusconi beweise indessen, das auch nicht immer eine Bewegung hinter Populisten stehen muss. Ebenso wenig forderten sie immer mehr direkte Demokratie. Viel eher entspricht dem Populismus eine responsive Form der Repräsentation, die auf das antwortet, was das Volk angeblich will.
Populismus, Manipulation, Lobbyismus - Probleme, die auf beiden Seiten des Atlantiks bekannt sind. Und doch scheint es Unterschiede zu geben: Der Historiker Volker R. Berghahn von der Columbia University in New York hält die Spannung zwischen europäischem Pessimismus und amerikanischem Optimismus für sehr stark. Skepsis und Abneigung waren in den USA denkbar groß, als Deutschland noch für Militarismus stand, das Kaiserreich amerikanisches Feindbild war und alle Einsprengsel deutscher Kultur ausradiert werden sollten: aus dem Hamburger wurde das Liberty Sandwich, aus Sauerkraut Liberty Cabbage, wie Thomas Welskopp (Universität Bielefeld) berichtet. Zur Zeit Roosevelts wuchs das Interesse an Europa, vor allem an den kooperativen Unternehmen Schwedens. So floss die kooperative Idee in die Sozialgesetzgebung des New Deal ein und war eine Inspirationsquelle für das Federal Project Number One, das amerikanische Schriftsteller und Künstler wie Steinbeck oder Pollock unterstützte, so Kiran Klaus Patel von der Universität Maastricht.
Die transatlantischen Beziehungen waren und sind eng, Konflikte haben sie sogar vertieft. Für beide Seiten war die Demokratie nach 1945 nicht nur ein Regierungssystem, sondern auch ein "way of life", der bestimmte Formen, Stile und Emotionen beinhaltete. Und eine bedeutende Antithese: für die USA zum Kommunismus, für die Europäer zur faschistischen Vergangenheit. Ob aber die ideelle Klammer des "Westens" auch in Zukunft hält, das ist angesichts globaler Machtverschiebungen ungewiss.
Die Symptome mehren sich, die Diagnose lautet immer häufiger "Demokratiemüdigkeit". Hat die westliche Demokratie ihre beste Zeit schon hinter sich, wie Colin Crouch mit seiner These der "Postdemokratie" behauptet? Wahlkampfdebatten sind demnach nur noch PR-Spektakel. Politik wird von Eliten gemacht, hinter verschlossenen Türen und im Interesse großer Unternehmen. Im wachsenden Krisendiskurs brodelt Unzufriedenheit und Enttäuschung. Zuletzt gab der Soziologe Harald Welzer im Spiegel bekannt, die nächste Wahl boykottieren zu wollen. Fundamentale Zweifel werden insbesondere in Europa größer, in den USA dagegen - so meint man - herrscht noch immer ein grundlegendes Vertrauen in die Demokratie. Haben sich Europa und Amerika in unterschiedliche Richtungen entwickelt? Kann von einer transatlantischen Demokratie überhaupt noch die Rede sein? Diesen Fragen stellten sich jetzt Historiker und Politikwissenschaftler in München.
Populismus, Manipulation, Lobbyismus - Ist die Demokratie in der Krise?
Die klassische repräsentative Demokratie habe sich transformiert, erklärt Paul Nolte von der FU Berlin, der zur Tagung am Münchner Historischen Kolleg eingeladen hatte, wo er gerade als Stipendiat zu Gast ist. Die Demokratie sei heute fließender, beweglicher. Mit den Protestbewegungen sind neue Formen der Partizipation entstanden. Fragen des Konsums und Boykottaktionen haben an Wichtigkeit gewonnen. Zudem ist das System stark von der Justiz, zum Beispiel von Verwaltungsgerichten geprägt. Und es sind oft nicht Bürger, die sich im Eigeninteresse an politischen Konflikten beteiligen, sondern Anwälte, die die Interessen anderer vertreten.
Nicht ein Gespenst, nein, mehrere Gespenster gehen um, in Europa wie in Nordamerika: Eines ist die Krise der repräsentativen Demokratie, ein anderes der Populismus. Die einen sehen darin eine Deformation der Demokratie, die anderen ein nützliches Korrektiv, das das System periodisch therapiert. Jan-Werner Müller (Princeton) räumt erst einmal mit Missverständnissen auf: Populismus ist weder mit einer gesellschaftlichen Klasse noch mit Ressentiments oder Vereinfachungen gleichzusetzen. Populisten nehmen in der Regel eine klare Trennung vor. Da wird das reine, unschuldige, hart arbeitende Volk von zwei Gruppen abgegrenzt, die offenbar nicht dazu gehören: der korrupten Elite und der Unterschicht. In Amerika wirkten die liberalen Eliten zum Beispiel mit afroamerikanischen Minderheiten zusammen; dagegen steht der reine, der echte Amerikaner.
Solchen Oppositionen liegt die Annahme zugrunde, so Müller, dass es einen common sense gebe und dass dieser einen allgemeinen Willen bestimme, der von einer Partei repräsentiert wird, die nicht nur die 99 Prozent für sich beansprucht: "We are the 100 percent." Die Definition von Demokratie als "organized uncertainty" ist dem Populisten fremd, weil ihm nichts ungewiss ist. Dass populistische Bewegungen nicht unbedingt nur Protestbewegungen sind, sondern durchaus Regierungsverantwortung tragen können, zeigt das Beispiel Ungarn. Viktor Orbáns Regime betreibe Massenklientelpolitik nach dem Motto: "Wir gehören wahrhaftig zum Volk!" Der Fall Berlusconi beweise indessen, das auch nicht immer eine Bewegung hinter Populisten stehen muss. Ebenso wenig forderten sie immer mehr direkte Demokratie. Viel eher entspricht dem Populismus eine responsive Form der Repräsentation, die auf das antwortet, was das Volk angeblich will.
Populismus, Manipulation, Lobbyismus - Probleme, die auf beiden Seiten des Atlantiks bekannt sind. Und doch scheint es Unterschiede zu geben: Der Historiker Volker R. Berghahn von der Columbia University in New York hält die Spannung zwischen europäischem Pessimismus und amerikanischem Optimismus für sehr stark. Skepsis und Abneigung waren in den USA denkbar groß, als Deutschland noch für Militarismus stand, das Kaiserreich amerikanisches Feindbild war und alle Einsprengsel deutscher Kultur ausradiert werden sollten: aus dem Hamburger wurde das Liberty Sandwich, aus Sauerkraut Liberty Cabbage, wie Thomas Welskopp (Universität Bielefeld) berichtet. Zur Zeit Roosevelts wuchs das Interesse an Europa, vor allem an den kooperativen Unternehmen Schwedens. So floss die kooperative Idee in die Sozialgesetzgebung des New Deal ein und war eine Inspirationsquelle für das Federal Project Number One, das amerikanische Schriftsteller und Künstler wie Steinbeck oder Pollock unterstützte, so Kiran Klaus Patel von der Universität Maastricht.
Die transatlantischen Beziehungen waren und sind eng, Konflikte haben sie sogar vertieft. Für beide Seiten war die Demokratie nach 1945 nicht nur ein Regierungssystem, sondern auch ein "way of life", der bestimmte Formen, Stile und Emotionen beinhaltete. Und eine bedeutende Antithese: für die USA zum Kommunismus, für die Europäer zur faschistischen Vergangenheit. Ob aber die ideelle Klammer des "Westens" auch in Zukunft hält, das ist angesichts globaler Machtverschiebungen ungewiss.