John Bird gründete in London die Obdachlosenzeitung 'The Big Issue'. Das Konzept wurde unendlich oft kopiert. Jetzt ist auch das grundanaloge Geschäftsmodell auf der Suche nach einer digitalen Zukunft
Der Pate trägt ein schwarzes Hemd zu dunklen Ledersandalen, der Pate hat eine Vision und wenn er darüber spricht, dann spricht im Saal sonst keiner mehr. Denn nach einer Vision suchen sie hier alle.
Es ist der zweite Tag der INSP-Konferenz, einer Konferenz für Straßenzeitungen aus der ganzen Welt. Blätter also, die von Obdachlosen auf der Straße verkauft werden, um ihnen ein Einkommen und eine Aufgabe zu verschaffen. 120 solche Zeitungen aus 41 Ländern sind bei INSP organisiert, Zeitungsmacher aus Europa, aus Nord- und aus Südamerika, aus Australien oder Taiwan sind nach München gekommen. Um sich einer Frage zu stellen, die vielen von ihnen noch sehr fern erscheint und doch eines Tages auch für sie alles entscheiden könnte: Wie soll eine Zeitung, deren einzige Bestimmung es im Grunde ist, von einem Obdachlosen persönlich an einen Käufer übergeben zu werden, mit der Digitalisierung umgehen?
Straßenverkäufer in Hamburg – die Vorlage für die deutschen Obdachlosenzeitungen kommt aus London.
Der Mann, von dem sich vor allem die Jüngeren im Raum Antworten erwarten, der sich sichtlich gefällt in der Rolle des Paten, am Rand und doch über der Veranstaltung, heißt John Bird. Sein 15-Minuten-Referat ist als einziger Vortrag in drei Tagen mit einem Foto im Programmheft angekündigt. Auf John Bird, der 1991 in London mit Hilfe des Geldes der Firma Body Shop The Big Issue gründete, geht hier alles zurück. Die Idee, dass professionelle Journalisten eine Zeitung machen, die dann von Obdachlosen verkauft wird, wurde in mehr als 40 Länder übernommen. Doch seine Vision einer digitalen Zukunft, um die es ja auch ständig in den großen Verlagen geht, ist noch nicht viel mehr als eine von vielen wackligen Ideen.
Man gerät, das zeigt die Konferenz, bei der Zukunftssuche schnell an die Frage nach dem Selbstverständnis der Macher, und das liegt zum Teil so weit auseinander wie Taiwan und Bremen. Suchen sich die Leser einen Verkäufer am Straßenrand, weil sie jede Woche ihre Zeitung lesen wollen? Dann müsste man diese Inhalte doch auch digital zu Geld machen können. Oder wird die Zeitung hauptsächlich deshalb gekauft, weil man dem Verkäufer um die Ecke etwas Gutes tun will? Dann könnten die Obdachlosen am U-Bahnhof im Falle des Zeitungstodes vielleicht ja auch Zahnbürsten verkaufen. Und welche Themen sollen in so einer Zeitung vorkommen?
John Bird, der Straßenzeitungspate, hat die Frage nach dem Selbstverständnis in seinem Heft schon unzählige Male beantwortet. 1996 zum Beispiel, als George Michael in The Big Issue sein erstes Interview nach sechs schweigsamen Jahren gab; als das Magazin in den Neunzigerjahren ein exklusives Interview mit Tony Blair bekam, der damals noch Oppositionsführer war; als Bird Stings Ehefrau eine Ausgabe des Hefts betreuen oder Premier David Cameron eine Kolumne schreiben ließ. Die Verkaufszahlen in den ersten Jahren waren für ein solches Heft extrem hoch, die Auflage lag bei 280000 Stück. Und jeder dieser Scoops brachte mehr verkaufte Hefte.
Immer wieder hat man John Bird vorgeworfen, im Grunde ein kapitalistisches Modell zu betreiben, den sozialen Aspekt nicht ausreichend im Blick zu haben. Andere Magazine, Real Change aus Seattle etwa, sind sehr stolz auf das, was sie anwaltlichen Journalismus nennen. Journalismus, der sich für die gute Sache einsetzt. Bird sagt, die Zielgruppe derer, die ein Magazin kaufen, um nur Artikel über Obdachlose zu lesen, sei zu klein, um den Verkäufern damit ein Auskommen zu garantieren.
John Bird, 67, verheiratet mit einer sehr jungen, sehr schönen Frau und Vater von zwei kleinen Kindern, John Bird, der selbst jahrelang auf der Straße lebte, im Gefängnis saß, um 1968 politisch wurde und an den Marxismus als Lösung aller Ungerechtigkeit glaubte, spielt heute nach den Regeln des Medienmarktes. Sein Heft, das immer noch mehr ein Publikumsmagazin war als ein soziales Projekt, verkauft heute nur noch 60 Prozent seiner einstigen Auflage. Fragt man ihn danach, sagt John Bird, man finde nicht mehr so viele Verkäufer wie früher. Dass ein Heft, das mit den Titeln der anderen Verlage voll um Leser und Geschichten konkurriert, vom Medienwandel mehr betroffen sein könnte als eines, das vor allem den Verkäufer und die gute Sache betont, liegt aber auch nahe.
Obdachlosenzeitungen im Allgemeinen haben (noch) kein ernsthaftes Auflagenproblem. 25,4 Millionen Blätter werden aktuell in einem Jahr verkauft, knapp ein Prozent weniger als im Vorjahr. Die Münchner Straßenzeitung Biss hatte 2012 eines ihrer besten Jahre überhaupt und verkaufte insgesamt 458000 Stück. Von einer Printkrise kann man da nicht sprechen, viel hängt auch von den einzelnen Städten und den Verkäufern ab. Was bleibt, ist trotzdem die Frage, ob die für einen guten Zweck verkaufte Straßenzeitung tatsächlich das einzige Printprodukt ist, das es sich leisten kann, den Medienwandel zu ignorieren.
Wie also könnte sie aussehen, die digitale Zukunft einer so grundanalogen Geschäftsidee?
Auch in den klassischen Verlagen ringt man seit Jahren um den richtigen Umgang damit, und trotz der schwierigen Suche nach einem rentablen Geschäftsmodell sieht man in den geringen Vertriebskosten einer App verglichen mit einer gedruckten Zeitung auch einen Vorteil. Für die Straßenzeitung ist das anders. Denn was hat ein obdachloser Zeitungsverkäufer davon, wenn sich jemand zuhause eine digitale Ausgabe von Biss auf sein Ipad lädt?
Es gibt Ideen, eine Lösung gibt es nicht. In Südafrika haben hat die dortige Straßenzeitung bereits 5000 digitale Abonnenten. Doch der Verkauf geht an den Verkäufern vorbei, der Erlös fließt direkt in die - natürlich gemeinnützige - Stiftung der Zeitung. Aber um Geld zu bekommen, ohne es selbst zu verdienen, dafür braucht dann wieder niemand eine Straßenzeitung. In Manchester kann man bei den Straßenverkäufern ein kleines Kärtchen erstehen, auf dem man einen Code freirubbelt. Mit dem lässt sich dann ein PDF von Big Issue in the North herunterladen. Im Grunde natürlich ein irrer Anachronismus.
John Bird, bei seinem Visionsreferat, erzählt von seinem neuen digitalen Magazin: Answers of the Big Issue. Darin porträtieren Obdachlose als Bürgerjournalisten soziale Projekte, die zum Ausgleich Abos von The Big Issue abschließen. Soziales Corporate Publishing sozusagen, und Print wird querfinanziert. Dann sagt John Bird noch, man müsse den Armen helfen, sich selbst zu helfen. Der Saal jubelt. Auf diese Vision haben sie sich schon vor Jahren geeinigt.
Der Pate trägt ein schwarzes Hemd zu dunklen Ledersandalen, der Pate hat eine Vision und wenn er darüber spricht, dann spricht im Saal sonst keiner mehr. Denn nach einer Vision suchen sie hier alle.
Es ist der zweite Tag der INSP-Konferenz, einer Konferenz für Straßenzeitungen aus der ganzen Welt. Blätter also, die von Obdachlosen auf der Straße verkauft werden, um ihnen ein Einkommen und eine Aufgabe zu verschaffen. 120 solche Zeitungen aus 41 Ländern sind bei INSP organisiert, Zeitungsmacher aus Europa, aus Nord- und aus Südamerika, aus Australien oder Taiwan sind nach München gekommen. Um sich einer Frage zu stellen, die vielen von ihnen noch sehr fern erscheint und doch eines Tages auch für sie alles entscheiden könnte: Wie soll eine Zeitung, deren einzige Bestimmung es im Grunde ist, von einem Obdachlosen persönlich an einen Käufer übergeben zu werden, mit der Digitalisierung umgehen?
Straßenverkäufer in Hamburg – die Vorlage für die deutschen Obdachlosenzeitungen kommt aus London.
Der Mann, von dem sich vor allem die Jüngeren im Raum Antworten erwarten, der sich sichtlich gefällt in der Rolle des Paten, am Rand und doch über der Veranstaltung, heißt John Bird. Sein 15-Minuten-Referat ist als einziger Vortrag in drei Tagen mit einem Foto im Programmheft angekündigt. Auf John Bird, der 1991 in London mit Hilfe des Geldes der Firma Body Shop The Big Issue gründete, geht hier alles zurück. Die Idee, dass professionelle Journalisten eine Zeitung machen, die dann von Obdachlosen verkauft wird, wurde in mehr als 40 Länder übernommen. Doch seine Vision einer digitalen Zukunft, um die es ja auch ständig in den großen Verlagen geht, ist noch nicht viel mehr als eine von vielen wackligen Ideen.
Man gerät, das zeigt die Konferenz, bei der Zukunftssuche schnell an die Frage nach dem Selbstverständnis der Macher, und das liegt zum Teil so weit auseinander wie Taiwan und Bremen. Suchen sich die Leser einen Verkäufer am Straßenrand, weil sie jede Woche ihre Zeitung lesen wollen? Dann müsste man diese Inhalte doch auch digital zu Geld machen können. Oder wird die Zeitung hauptsächlich deshalb gekauft, weil man dem Verkäufer um die Ecke etwas Gutes tun will? Dann könnten die Obdachlosen am U-Bahnhof im Falle des Zeitungstodes vielleicht ja auch Zahnbürsten verkaufen. Und welche Themen sollen in so einer Zeitung vorkommen?
John Bird, der Straßenzeitungspate, hat die Frage nach dem Selbstverständnis in seinem Heft schon unzählige Male beantwortet. 1996 zum Beispiel, als George Michael in The Big Issue sein erstes Interview nach sechs schweigsamen Jahren gab; als das Magazin in den Neunzigerjahren ein exklusives Interview mit Tony Blair bekam, der damals noch Oppositionsführer war; als Bird Stings Ehefrau eine Ausgabe des Hefts betreuen oder Premier David Cameron eine Kolumne schreiben ließ. Die Verkaufszahlen in den ersten Jahren waren für ein solches Heft extrem hoch, die Auflage lag bei 280000 Stück. Und jeder dieser Scoops brachte mehr verkaufte Hefte.
Immer wieder hat man John Bird vorgeworfen, im Grunde ein kapitalistisches Modell zu betreiben, den sozialen Aspekt nicht ausreichend im Blick zu haben. Andere Magazine, Real Change aus Seattle etwa, sind sehr stolz auf das, was sie anwaltlichen Journalismus nennen. Journalismus, der sich für die gute Sache einsetzt. Bird sagt, die Zielgruppe derer, die ein Magazin kaufen, um nur Artikel über Obdachlose zu lesen, sei zu klein, um den Verkäufern damit ein Auskommen zu garantieren.
John Bird, 67, verheiratet mit einer sehr jungen, sehr schönen Frau und Vater von zwei kleinen Kindern, John Bird, der selbst jahrelang auf der Straße lebte, im Gefängnis saß, um 1968 politisch wurde und an den Marxismus als Lösung aller Ungerechtigkeit glaubte, spielt heute nach den Regeln des Medienmarktes. Sein Heft, das immer noch mehr ein Publikumsmagazin war als ein soziales Projekt, verkauft heute nur noch 60 Prozent seiner einstigen Auflage. Fragt man ihn danach, sagt John Bird, man finde nicht mehr so viele Verkäufer wie früher. Dass ein Heft, das mit den Titeln der anderen Verlage voll um Leser und Geschichten konkurriert, vom Medienwandel mehr betroffen sein könnte als eines, das vor allem den Verkäufer und die gute Sache betont, liegt aber auch nahe.
Obdachlosenzeitungen im Allgemeinen haben (noch) kein ernsthaftes Auflagenproblem. 25,4 Millionen Blätter werden aktuell in einem Jahr verkauft, knapp ein Prozent weniger als im Vorjahr. Die Münchner Straßenzeitung Biss hatte 2012 eines ihrer besten Jahre überhaupt und verkaufte insgesamt 458000 Stück. Von einer Printkrise kann man da nicht sprechen, viel hängt auch von den einzelnen Städten und den Verkäufern ab. Was bleibt, ist trotzdem die Frage, ob die für einen guten Zweck verkaufte Straßenzeitung tatsächlich das einzige Printprodukt ist, das es sich leisten kann, den Medienwandel zu ignorieren.
Wie also könnte sie aussehen, die digitale Zukunft einer so grundanalogen Geschäftsidee?
Auch in den klassischen Verlagen ringt man seit Jahren um den richtigen Umgang damit, und trotz der schwierigen Suche nach einem rentablen Geschäftsmodell sieht man in den geringen Vertriebskosten einer App verglichen mit einer gedruckten Zeitung auch einen Vorteil. Für die Straßenzeitung ist das anders. Denn was hat ein obdachloser Zeitungsverkäufer davon, wenn sich jemand zuhause eine digitale Ausgabe von Biss auf sein Ipad lädt?
Es gibt Ideen, eine Lösung gibt es nicht. In Südafrika haben hat die dortige Straßenzeitung bereits 5000 digitale Abonnenten. Doch der Verkauf geht an den Verkäufern vorbei, der Erlös fließt direkt in die - natürlich gemeinnützige - Stiftung der Zeitung. Aber um Geld zu bekommen, ohne es selbst zu verdienen, dafür braucht dann wieder niemand eine Straßenzeitung. In Manchester kann man bei den Straßenverkäufern ein kleines Kärtchen erstehen, auf dem man einen Code freirubbelt. Mit dem lässt sich dann ein PDF von Big Issue in the North herunterladen. Im Grunde natürlich ein irrer Anachronismus.
John Bird, bei seinem Visionsreferat, erzählt von seinem neuen digitalen Magazin: Answers of the Big Issue. Darin porträtieren Obdachlose als Bürgerjournalisten soziale Projekte, die zum Ausgleich Abos von The Big Issue abschließen. Soziales Corporate Publishing sozusagen, und Print wird querfinanziert. Dann sagt John Bird noch, man müsse den Armen helfen, sich selbst zu helfen. Der Saal jubelt. Auf diese Vision haben sie sich schon vor Jahren geeinigt.