New York und der Müll - ein Drama, das seit Jahrhunderten gespielt wird und kein Ende findet. Jetzt will Bürgermeister Michael Bloomberg in einem letzten großen Akt die Recyclingquote verdoppeln
Die kleine Frau mit den asiatischen Gesichtszügen mag 70 Jahre alt sein. Sie trägt blaue, weite Arbeitskluft und hat sich die rosa Baseball-Mütze gegen die Abendsonne vor die Augen gezogen. Vor ihr ein Einkaufswagen, auf den drei riesige Plastiksäcke gebunden sind - größer als sie selbst und vollgestopft mit leeren Plastik-, Cola- und Bierflaschen. Das wacklige Gefährt schiebt sie die Straße hinunter, durchwühlt die Mülltonnen vor jedem Haus und wirft, was sie an Flaschen und Dosen findet, in den Wagen. Jeden Montagabend taucht die Frau in Park Slope, einem relativ wohlhabenden Teil Brooklyns auf, denn dienstags kommt die Müllabfuhr und entsprechend viel gibt es zu sammeln.
Blick auf Brooklyn
Die Frau ist eine von schätzungsweise 5000 "Cannern". Diese Lumpensammler der Moderne sind meist illegale Einwanderer, Obdachlose oder Arbeiter, die von ihrem Lohn nicht leben können. Basis ihrer Arbeit ist das "Flaschengesetz" des Staates New York, das alle Flaschen, die Cola, Bier oder andere sprudelnde Getränke enthalten, mit fünf Cent Pfand belegt; Supermärkte sind verpflichtet, sie zurückzunehmen. Das Pfand ist zu niedrig, als dass Normalverdiener sich dafür interessieren würden, es ist aber hoch genug für die Canner.
Nach Schätzungen der Hilfsorganisation "Picture the Homeless" kommt einer immerhin auf durchschnittlich 40 Dollar am Tag, muss dafür aber auch zwölf Stunden arbeiten und quälend lange Wege zurücklegen. Inzwischen haben die Canner das Interesse Hollywoods geweckt: In diesem Jahr wurden die Filmemacher Jon Alper und Matthew O"Neill mit ihrer Canner-Dokumentation "Redemption" ("Einlösung" oder "Erlösung") für den Oskar nominiert.
Die Canner sind ein klassisches Beispiel dafür, wie sich die informelle Ökonomie eines ungelösten Problems annimmt. Alle Metropolen kämpfen mit Abfallbergen. Aber kaum irgendwo sonst im reichen Teil der Erde ist dieser Kampf so sichtbar wie in New York. Jeden Abend türmen sich schwarze Abfallsäcke vor den Restaurants, unablässig donnern die Müllautos durch die Schluchten Manhattans. In den Straßen sammelt sich der Müll ebenso wie zwischen den U-Bahn- Gleisen, wo er Tausende von Ratten nährt. Regengüsse spülen immer wieder Plastik, Pappe und Lebensmittel ins Meer. Nach einer Rechnung des Sierra Clubs, einer angesehenen Umweltorganisation, produziert jeder New Yorker im Durchschnitt 496 Kilo Hausmüll im Jahr, mehr als doppelt so viel, wie ein durchschnittlicher Münchner schafft (230 Kilo). Nicht weniger als 2023 Müllautos sind ständig unterwegs. In den kommenden zehn Jahren muss die Stadt für mehr als eine Milliarde Dollar Lkw kaufen.
New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg plant nun kurz vor Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit noch einmal einen großen Wurf, um das Müllproblem zu entschärfen. Nach dem Programm, das er Ende Juli vorstellte, soll New York seine Recycling-Quote bis 2017 verdoppeln. "Unser Ziel ist einfach: "Recycle Everything", sagt Bloomberg. Alles soll demnächst recycelt werden - nicht nur Flaschen, sondern Plastik jeder Art, Küchenabfälle aus Restaurants und Haushalten sowie Altkleider.
In einer Metropole, die sich so sehr mit ihrem Müll befassen muss, ist es nur konsequent, dass sich die Stadtreinigung auch Grundsatzfragen widmet. Das New Yorker "Department of Sanitation" ist die größte Müllverwaltung der Welt und beschäftigt - ohne Gehalt - einen eigenen "anthroplogist-in-residence". Die Anthropologin vom Dienst heißt Robin Nagle, ist 52 Jahre alt und im Hauptberuf Professorin an der New York University. Ihr Büro ist im Souterrain eines historischen Gebäudes am Washington Square. Nagle ist eine drahtige, durchtrainierte Frau mit muskulösen Oberarmen. Das mit den Muskeln ist wichtig, denn sie hat 2004 und 2005 mehrere Monate richtig bei der Müllabfuhr gearbeitet. Demnächst will sie das wieder tun.
Wobei "richtig" bedeutet: nicht als privilegierte Forscherin, sondern als normale Arbeiterin mit festen Dienstzeiten und normalem Stundenlohn. "Glauben Sie mir, auf dem Müllauto werden Sie fit", sagt sie. Über ihre Erfahrungen hat Nagle ein Buch geschrieben mit dem Titel "Picking Up". Es ist voller schöner Geschichten über New York und seinen Müll; außerdem enthält es ein Glossar über den Slang der Müllwerker. Zum Beispiel "Mongo": Mit dem Wort bezeichnen die Müllmänner und -frauen wertvolle Gegenstände, die sie im Abfall finden. Eigentlich ist es verboten, den Müll nach Nützlichem zu durchsuchen, aber alle tun es. Ein Kollege von Nagle namens Ray Kurtz entdeckte einmal im wohlsituierten Müllbezirk Manhattan 7 eine schwarz-goldene Hose von Armani, vollkommen unbenutzt und sauber. Das Preisschild hing noch dran: 1325 Dollar. Auch so kann sich Reichtum äußern. Nagle und Kurtz erwogen kurz, das edle Teil in einen Armani-Laden zu bringen und wegen Nicht-Gefallens das Geld zu kassieren, aber dazu reichte ihr "Mumm" nicht aus, wie sie schreibt. Für Nagle selbst war die Hose zu klein, also schenkte Kurtz sie schließlich der Kellnerin in seinem Lieblings-Restaurant.
Robin Nagles Obsession mit Müll begann, als sie noch ein Kind war. Mit ihrem Vater, einem anglikanischen Pfarrer, campte sie in den Adirondacks, dem riesigen Naturpark im Norden des Bundesstaats New York. "Der Zeltplatz war wunderbar, eine Art Utopia - nur dass direkt dahinter eine wilde Müllkippe war. Ich war zutiefst schockiert und wütend. Was haben die Leute gedacht, habe ich mich gefragt. Dass jemand kommt und hinter ihnen sauber macht?"
Die Frage beschäftigt Nagle bis heute: Was denken die Leute eigentlich? "In der Stadt ist es dasselbe wie in der Wildnis: Irgendjemand muss sauber machen. Warum ignorieren wir das? Und was sind die Konsequenzen, wenn wir es ignorieren?" Als Anthropologin vom Dienst versucht sie nun, gegen diese Ignoranz vorzugehen. Sie will ein Müll-Museum gründen und erreichen, dass die New Yorker ihre 7200 Müllwerker und deren Leistung würdigen. Die Stadt feiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Polizisten (Kosenamen: "New Yorks Finest") und Feuerwehrmänner ("New Yorks Bravest"), vergisst aber meistens seine Müllarbeiter (Nagle: "New Yorks Strongest"). Dabei seien diese mindestens ebenso wichtig für das Überleben der Stadt. "Und der Beruf des Müllwerkers ist weit gefährlicher als der des Polizisten."
Abfall ist unangenehm, er stinkt, sieht hässlich aus und schadet der Gesundheit. "Die Leute wollen das Problem überdecken und dann vergessen." Das überträgt man dann auf die Leute, die mit dem Abfall zu tun haben. Das sei ein allgemein-menschliches Muster, sagt Nagle, aber in New York besonders ausgeprägt. Und das hat unmittelbar politische Konsequenzen: Beim Thema Müll stehen die Fakten der Wahrnehmung der Öffentlichkeit entgegen. "Niemand wird populär, wenn er eine differenzierte Diskussion über die Fakten führt."
Ein sehr schönes Beispiel für das "politische Spiel mit dem Müll", wie Nagle es nennt, ist an Manhattans East Side zu besichtigen. Auf Höhe der 91. Straße, türmen sich direkt am East River Trümmer und Bauschutt. Hier ist die "Marine Transfer Station" geplant, ein zehnstöckiger Betonkasten, in dem Manhattans Dreck von Müllautos auf Frachtkähne verladen werden soll, die ihn dann in die Verbrennungsanlage nach New Jersey bringen. Aus verständlichen Gründen wehren sich die Anwohner gegen das hässliche Projekt - sie fürchten Kolonnen von Müllautos, Dreck, Staub und Gestank. Für die Allgemeinheit wäre die neue Station ein Segen: weniger Lkw-Fahrten, weniger Dieselverbrauch, weniger Kohlendioxid- Ausstoß.
Das Pikante daran: Der Bauplatz liegt in einem der reichsten Wohnbezirke der Vereinigten Staaten - und das hat durchaus Methode. Früher wurde alles, was stinkt und lärmt, in arme und schwarze Bezirke verlegt, jetzt sollen auch gut gestellte Weiße einen Teil der Last tragen. Aber wie will man damit Wahlen gewinnen? Am 5. November wird in New York ein neuer Bürgermeister gewählt und der demokratische Bewerber Bill Thompson jedenfalls hat sich schon einmal vehement gegen das Projekt gestellt. Seine Konkurrentin Christine Quinn hat den Mut, die Marine Transfer Station weiter zu unterstützen, und zwar mit folgendem Argument: Wer die Anlage verhindere, der perpetuiere den "Umwelt-Rassismus" in New York. Das hat insofern eine komische Note, als Thompson schwarz ist, Quinn dagegen weiß. Das Spiel mit dem Müll muss nicht logisch sein.
Allerdings kann das politische Spiel auch einmal gut ausgehen, wie zum Beispiel auf Staten Island. In dem oft vergessenen fünften Stadtbezirk New Yorks liegt die zweitgrößte Grünfläche der Stadt: Mit 890 Hektar ist der Freshkills Park fast drei Mal so groß wie der Central Park. Vom "Südberg" hat man einen phantastischen Blick auf New Jersey und Manhattan.
"Wir stehen auf Müll", sagt Ranger Michael Callery, der am Wochenende Besucher durch den Freshkills Park führt. Wüsste man es nicht, man würde nicht glauben, dass hier bis 2001 die größte Müllkippe der Welt war: Die Hügel erinnern an eine Prärie- Landschaft, unten hat sich ein Rest ursprünglicher Natur erhalten: Salzmarschen und ein Auenwald. Am Rande nistet ein Fischadler-Pärchen. Nur Rohre und Pumpen, die über die Hügel verstreut sind, lassen die Geschichte der Landschaft ahnen. Der alte Müll fault immer noch, er produziert Methan und das wird abgepumpt, zu Stadtgas gereinigt, mit dem dann ein paar tausend Haushalte in Staten Island kochen und ihre Wohnung heizen.
Bis vor zwölf Jahren nahm Freshkills den größten Teil des New Yorker Mülls auf.
Wer Bilder aus den neunziger Jahren sieht, der versteht, warum manche Besucher an den Eingang zur Hölle dachten: Freshkills war eine stinkende, faulende Einöde, die Überbleibsel der Zivilisation reichten bis an den Horizont. Ein Platz, an dem sich nur Ratten und Raubmöwen wohl fühlten. Eingerichtet wurde sie 1947, zunächst als Provisorium. Wie es mit Provisorien so geht, blieb es bis zum 21. März 2001 insgesamt 54 Jahre lang in Betrieb. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde die Kippe noch einmal kurz geöffnet, um die Trümmer des World Trade Center aufzunehmen, danach endgültig geschlossen.
Seit 2008 baut die Stadt das Gelände zu einem riesigen Naherholungsgebiet aus, das, sobald es sicher ist, nach und nach der Öffentlichkeit übergeben werden soll. Schon wegen seiner Größe und vielen technischen Neuerungen könnte die ehemalige Kippe ein Vorbild für andere sein. Eines wird hier allerdings nicht entstehen: Wohnungen. "Der Park ist vor Besiedlung geschützt", erklärt Ranger Callery, "denn die Müllberge setzen sich immer noch, hier kann nichts gebaut werden."
Dass die größte Müllkippe der Welt so enden würde, war keinesfalls ausgemacht.
Die Einwohner von Staten Island protestierten jahrelang gegen den Gestank, die Müllautos und die Müllschiffe, allerdings ohne großen Erfolg. Als 1985 die Müllkippe Fountain Avenue in Brooklyn schloss - sie wurde berühmt, weil dort angeblich die Mafia ihre Mordopfer entsorgte -, blieb Freshkills als einzige Deponie der Metropole. Das verstärkte bei den Staten Islandern das ohnehin vorhandene Gefühl, von der Politik vernachlässigt zu werden, angeblich weil ihr kleinbürgerlicher Stadtteil im Gegensatz zum Rest New Yorks nicht demokratisch, sondern republikanisch dominiert ist. Man kann ihnen den Verdacht nicht verdenken. Das Aus für die Müllkippe wurde 1996 beschlossen, als - eine große historische Ausnahme - sowohl der Gouverneur (George Pataki) als auch der Bürgermeister New Yorks (Rudy Giuliani) Republikaner waren.
Was für die Natur und die Menschen auf Staten Island gut ist, trifft die Stadtkasse schwer: Seit 2001 muss New York seinen gesamten Müll in andere Bundesstaaten exportieren. Am nächsten liegt noch die Müllverbrennungsanlage im benachbarten New Jersey. Das weiteste Ziel ist die Müllkippe von Bishopville in South Carolina. Ein Güterzug muss 1200 Kilometer nach Süden zurücklegen, ehe er dort ankommt. Das ist, als würde die Stadt Hamburg ihren Müll in Verona entsorgen. Allein für den Transport des Mülls musste die Stadtreinigung im vergangenen Jahr 309 Millionen Dollar zahlen. Ihr Budget hat sich seit 1997 von unter 600 Millionen auf 1,34 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt. Und ressourcenschonend ist das alles auch nicht.
Müllkippe und Müllexport sind aber immer noch viel besser, als das, was früher einmal New Yorker Praxis war. Seit ihren Anfängen 1624 hat die Stadt das Problem wiederholt und lange ignoriert - vielleicht weil immer wieder Wellen extrem unterschiedliche Einwanderer nach New York kamen, die ganz andere Sorgen hatten. Im frühen 19. Jahrhundert ließ man den Müll oft einfach auf den Straßen liegen - so lange, bis schwere Gelbfieber- und Choleraepidemien die Stadtverwaltung eines besseren belehrten. Danach kippte man, wie in anderen Küstenstädte auch, den Müll einfach ins Meer. Die Praxis hatte verheerende Folgen: Sie zerstörte die Fischgründe und Austernbänke vor New York und beschädigte Schiffe. Außerdem hatte der Müll die unangenehme Eigenschaft, zurückzukommen. "Es ist sicher nicht angenehm", so schrieb das Magazin Harper"s Weekly 1892, "wenn man als Schwimmer auf den Körper eines toten Pferdes aufläuft oder einem der Kadaver einer Katze über das Gesicht streicht, während man unter der Brandung hindurch taucht." Erst 1934 stoppte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten diese Praxis.
Jetzt soll Recycling das Problem lösen. Die Stadt stellte eigens einen "Nachhaltigkeitsreferenten" ein - es ist ein junger Unternehmer namens Ron Gonen - und ließ in Brooklyn eine hypermoderne Recycling-Anlage errichten. Entworfen hat die Anlage die in Köln geborene Stararchitektin Annabelle Selldorf. New York wird jetzt mit Biotonnen vollgestellt, Schulen werden zu Vorbildern für die Mülltrennung und sogar Altkleider, mit denen auch die Heilsarmee nichts mehr anfangen kann, gelten jetzt als wiederverwertbar. Und weil der Müll-Export so teuer ist, lohnt sich Recycling für die Stadt auch. 60 Millionen Dollar wird das Sanitation Department jedes Jahr an Deponiekosten sparen.
Trotzdem ist Bloombergs Aussage "Recycle Everything" ein krasser Euphemismus. Tatsächlich ist die Recycling-Quote New Yorks während der Amtszeit Bloombergs, dessen grünem Image zum Trotz, beständig gesunken: von 35,1 Prozent 2002 auf 16,6 Prozent. Wenn die Rate bis 2017 verdoppelt wird, wie Bloomberg das plant, wird sie immer noch niedriger als vor zwölf Jahren sein. San Francisco erreicht bereits heute fast 80 Prozent. Wie so vieles in New York hat auch das bisherige Recycling-Desaster mit der Geschichte zu tun. Die Stadtverwaltung stoppte nach den Terroranschlägen 2011 die Mülltrennung, um Geld zu sparen. Das war eine sehr kurzsichtige Entscheidung: Die Bürger waren verwirrt, zweifelten am Sinn des Ganzen, weshalb sich die Recyclingraten nie wieder erholten, auch nachdem 2004 das bisherige Programm wieder eingeführt wurde. Auch das ist New York.
Robin Nagle, die Anthropologin, macht sich unterdessen Sorgen, dass das Recycling zu viel politische Energie bindet. "Daheim bin ich eine fanatische Recyclerin", sagt sie. "Aber Müll sammeln kann nicht alles sein." Nur ein Drittel allen Abfalls New Yorks ist Hausmüll, der Rest ist Abfall aus Industrie, Baustellen und Krankenhäusern. "Das Wiederverwerten von Hausmüll ist wichtig, aber es wird nicht den Planeten retten. Den Leuten etwas anderes zu erzählen, ist nicht nur gefährlich. Es ist kriminell."
Die kleine Frau mit den asiatischen Gesichtszügen mag 70 Jahre alt sein. Sie trägt blaue, weite Arbeitskluft und hat sich die rosa Baseball-Mütze gegen die Abendsonne vor die Augen gezogen. Vor ihr ein Einkaufswagen, auf den drei riesige Plastiksäcke gebunden sind - größer als sie selbst und vollgestopft mit leeren Plastik-, Cola- und Bierflaschen. Das wacklige Gefährt schiebt sie die Straße hinunter, durchwühlt die Mülltonnen vor jedem Haus und wirft, was sie an Flaschen und Dosen findet, in den Wagen. Jeden Montagabend taucht die Frau in Park Slope, einem relativ wohlhabenden Teil Brooklyns auf, denn dienstags kommt die Müllabfuhr und entsprechend viel gibt es zu sammeln.
Blick auf Brooklyn
Die Frau ist eine von schätzungsweise 5000 "Cannern". Diese Lumpensammler der Moderne sind meist illegale Einwanderer, Obdachlose oder Arbeiter, die von ihrem Lohn nicht leben können. Basis ihrer Arbeit ist das "Flaschengesetz" des Staates New York, das alle Flaschen, die Cola, Bier oder andere sprudelnde Getränke enthalten, mit fünf Cent Pfand belegt; Supermärkte sind verpflichtet, sie zurückzunehmen. Das Pfand ist zu niedrig, als dass Normalverdiener sich dafür interessieren würden, es ist aber hoch genug für die Canner.
Nach Schätzungen der Hilfsorganisation "Picture the Homeless" kommt einer immerhin auf durchschnittlich 40 Dollar am Tag, muss dafür aber auch zwölf Stunden arbeiten und quälend lange Wege zurücklegen. Inzwischen haben die Canner das Interesse Hollywoods geweckt: In diesem Jahr wurden die Filmemacher Jon Alper und Matthew O"Neill mit ihrer Canner-Dokumentation "Redemption" ("Einlösung" oder "Erlösung") für den Oskar nominiert.
Die Canner sind ein klassisches Beispiel dafür, wie sich die informelle Ökonomie eines ungelösten Problems annimmt. Alle Metropolen kämpfen mit Abfallbergen. Aber kaum irgendwo sonst im reichen Teil der Erde ist dieser Kampf so sichtbar wie in New York. Jeden Abend türmen sich schwarze Abfallsäcke vor den Restaurants, unablässig donnern die Müllautos durch die Schluchten Manhattans. In den Straßen sammelt sich der Müll ebenso wie zwischen den U-Bahn- Gleisen, wo er Tausende von Ratten nährt. Regengüsse spülen immer wieder Plastik, Pappe und Lebensmittel ins Meer. Nach einer Rechnung des Sierra Clubs, einer angesehenen Umweltorganisation, produziert jeder New Yorker im Durchschnitt 496 Kilo Hausmüll im Jahr, mehr als doppelt so viel, wie ein durchschnittlicher Münchner schafft (230 Kilo). Nicht weniger als 2023 Müllautos sind ständig unterwegs. In den kommenden zehn Jahren muss die Stadt für mehr als eine Milliarde Dollar Lkw kaufen.
New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg plant nun kurz vor Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit noch einmal einen großen Wurf, um das Müllproblem zu entschärfen. Nach dem Programm, das er Ende Juli vorstellte, soll New York seine Recycling-Quote bis 2017 verdoppeln. "Unser Ziel ist einfach: "Recycle Everything", sagt Bloomberg. Alles soll demnächst recycelt werden - nicht nur Flaschen, sondern Plastik jeder Art, Küchenabfälle aus Restaurants und Haushalten sowie Altkleider.
In einer Metropole, die sich so sehr mit ihrem Müll befassen muss, ist es nur konsequent, dass sich die Stadtreinigung auch Grundsatzfragen widmet. Das New Yorker "Department of Sanitation" ist die größte Müllverwaltung der Welt und beschäftigt - ohne Gehalt - einen eigenen "anthroplogist-in-residence". Die Anthropologin vom Dienst heißt Robin Nagle, ist 52 Jahre alt und im Hauptberuf Professorin an der New York University. Ihr Büro ist im Souterrain eines historischen Gebäudes am Washington Square. Nagle ist eine drahtige, durchtrainierte Frau mit muskulösen Oberarmen. Das mit den Muskeln ist wichtig, denn sie hat 2004 und 2005 mehrere Monate richtig bei der Müllabfuhr gearbeitet. Demnächst will sie das wieder tun.
Wobei "richtig" bedeutet: nicht als privilegierte Forscherin, sondern als normale Arbeiterin mit festen Dienstzeiten und normalem Stundenlohn. "Glauben Sie mir, auf dem Müllauto werden Sie fit", sagt sie. Über ihre Erfahrungen hat Nagle ein Buch geschrieben mit dem Titel "Picking Up". Es ist voller schöner Geschichten über New York und seinen Müll; außerdem enthält es ein Glossar über den Slang der Müllwerker. Zum Beispiel "Mongo": Mit dem Wort bezeichnen die Müllmänner und -frauen wertvolle Gegenstände, die sie im Abfall finden. Eigentlich ist es verboten, den Müll nach Nützlichem zu durchsuchen, aber alle tun es. Ein Kollege von Nagle namens Ray Kurtz entdeckte einmal im wohlsituierten Müllbezirk Manhattan 7 eine schwarz-goldene Hose von Armani, vollkommen unbenutzt und sauber. Das Preisschild hing noch dran: 1325 Dollar. Auch so kann sich Reichtum äußern. Nagle und Kurtz erwogen kurz, das edle Teil in einen Armani-Laden zu bringen und wegen Nicht-Gefallens das Geld zu kassieren, aber dazu reichte ihr "Mumm" nicht aus, wie sie schreibt. Für Nagle selbst war die Hose zu klein, also schenkte Kurtz sie schließlich der Kellnerin in seinem Lieblings-Restaurant.
Robin Nagles Obsession mit Müll begann, als sie noch ein Kind war. Mit ihrem Vater, einem anglikanischen Pfarrer, campte sie in den Adirondacks, dem riesigen Naturpark im Norden des Bundesstaats New York. "Der Zeltplatz war wunderbar, eine Art Utopia - nur dass direkt dahinter eine wilde Müllkippe war. Ich war zutiefst schockiert und wütend. Was haben die Leute gedacht, habe ich mich gefragt. Dass jemand kommt und hinter ihnen sauber macht?"
Die Frage beschäftigt Nagle bis heute: Was denken die Leute eigentlich? "In der Stadt ist es dasselbe wie in der Wildnis: Irgendjemand muss sauber machen. Warum ignorieren wir das? Und was sind die Konsequenzen, wenn wir es ignorieren?" Als Anthropologin vom Dienst versucht sie nun, gegen diese Ignoranz vorzugehen. Sie will ein Müll-Museum gründen und erreichen, dass die New Yorker ihre 7200 Müllwerker und deren Leistung würdigen. Die Stadt feiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Polizisten (Kosenamen: "New Yorks Finest") und Feuerwehrmänner ("New Yorks Bravest"), vergisst aber meistens seine Müllarbeiter (Nagle: "New Yorks Strongest"). Dabei seien diese mindestens ebenso wichtig für das Überleben der Stadt. "Und der Beruf des Müllwerkers ist weit gefährlicher als der des Polizisten."
Abfall ist unangenehm, er stinkt, sieht hässlich aus und schadet der Gesundheit. "Die Leute wollen das Problem überdecken und dann vergessen." Das überträgt man dann auf die Leute, die mit dem Abfall zu tun haben. Das sei ein allgemein-menschliches Muster, sagt Nagle, aber in New York besonders ausgeprägt. Und das hat unmittelbar politische Konsequenzen: Beim Thema Müll stehen die Fakten der Wahrnehmung der Öffentlichkeit entgegen. "Niemand wird populär, wenn er eine differenzierte Diskussion über die Fakten führt."
Ein sehr schönes Beispiel für das "politische Spiel mit dem Müll", wie Nagle es nennt, ist an Manhattans East Side zu besichtigen. Auf Höhe der 91. Straße, türmen sich direkt am East River Trümmer und Bauschutt. Hier ist die "Marine Transfer Station" geplant, ein zehnstöckiger Betonkasten, in dem Manhattans Dreck von Müllautos auf Frachtkähne verladen werden soll, die ihn dann in die Verbrennungsanlage nach New Jersey bringen. Aus verständlichen Gründen wehren sich die Anwohner gegen das hässliche Projekt - sie fürchten Kolonnen von Müllautos, Dreck, Staub und Gestank. Für die Allgemeinheit wäre die neue Station ein Segen: weniger Lkw-Fahrten, weniger Dieselverbrauch, weniger Kohlendioxid- Ausstoß.
Das Pikante daran: Der Bauplatz liegt in einem der reichsten Wohnbezirke der Vereinigten Staaten - und das hat durchaus Methode. Früher wurde alles, was stinkt und lärmt, in arme und schwarze Bezirke verlegt, jetzt sollen auch gut gestellte Weiße einen Teil der Last tragen. Aber wie will man damit Wahlen gewinnen? Am 5. November wird in New York ein neuer Bürgermeister gewählt und der demokratische Bewerber Bill Thompson jedenfalls hat sich schon einmal vehement gegen das Projekt gestellt. Seine Konkurrentin Christine Quinn hat den Mut, die Marine Transfer Station weiter zu unterstützen, und zwar mit folgendem Argument: Wer die Anlage verhindere, der perpetuiere den "Umwelt-Rassismus" in New York. Das hat insofern eine komische Note, als Thompson schwarz ist, Quinn dagegen weiß. Das Spiel mit dem Müll muss nicht logisch sein.
Allerdings kann das politische Spiel auch einmal gut ausgehen, wie zum Beispiel auf Staten Island. In dem oft vergessenen fünften Stadtbezirk New Yorks liegt die zweitgrößte Grünfläche der Stadt: Mit 890 Hektar ist der Freshkills Park fast drei Mal so groß wie der Central Park. Vom "Südberg" hat man einen phantastischen Blick auf New Jersey und Manhattan.
"Wir stehen auf Müll", sagt Ranger Michael Callery, der am Wochenende Besucher durch den Freshkills Park führt. Wüsste man es nicht, man würde nicht glauben, dass hier bis 2001 die größte Müllkippe der Welt war: Die Hügel erinnern an eine Prärie- Landschaft, unten hat sich ein Rest ursprünglicher Natur erhalten: Salzmarschen und ein Auenwald. Am Rande nistet ein Fischadler-Pärchen. Nur Rohre und Pumpen, die über die Hügel verstreut sind, lassen die Geschichte der Landschaft ahnen. Der alte Müll fault immer noch, er produziert Methan und das wird abgepumpt, zu Stadtgas gereinigt, mit dem dann ein paar tausend Haushalte in Staten Island kochen und ihre Wohnung heizen.
Bis vor zwölf Jahren nahm Freshkills den größten Teil des New Yorker Mülls auf.
Wer Bilder aus den neunziger Jahren sieht, der versteht, warum manche Besucher an den Eingang zur Hölle dachten: Freshkills war eine stinkende, faulende Einöde, die Überbleibsel der Zivilisation reichten bis an den Horizont. Ein Platz, an dem sich nur Ratten und Raubmöwen wohl fühlten. Eingerichtet wurde sie 1947, zunächst als Provisorium. Wie es mit Provisorien so geht, blieb es bis zum 21. März 2001 insgesamt 54 Jahre lang in Betrieb. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde die Kippe noch einmal kurz geöffnet, um die Trümmer des World Trade Center aufzunehmen, danach endgültig geschlossen.
Seit 2008 baut die Stadt das Gelände zu einem riesigen Naherholungsgebiet aus, das, sobald es sicher ist, nach und nach der Öffentlichkeit übergeben werden soll. Schon wegen seiner Größe und vielen technischen Neuerungen könnte die ehemalige Kippe ein Vorbild für andere sein. Eines wird hier allerdings nicht entstehen: Wohnungen. "Der Park ist vor Besiedlung geschützt", erklärt Ranger Callery, "denn die Müllberge setzen sich immer noch, hier kann nichts gebaut werden."
Dass die größte Müllkippe der Welt so enden würde, war keinesfalls ausgemacht.
Die Einwohner von Staten Island protestierten jahrelang gegen den Gestank, die Müllautos und die Müllschiffe, allerdings ohne großen Erfolg. Als 1985 die Müllkippe Fountain Avenue in Brooklyn schloss - sie wurde berühmt, weil dort angeblich die Mafia ihre Mordopfer entsorgte -, blieb Freshkills als einzige Deponie der Metropole. Das verstärkte bei den Staten Islandern das ohnehin vorhandene Gefühl, von der Politik vernachlässigt zu werden, angeblich weil ihr kleinbürgerlicher Stadtteil im Gegensatz zum Rest New Yorks nicht demokratisch, sondern republikanisch dominiert ist. Man kann ihnen den Verdacht nicht verdenken. Das Aus für die Müllkippe wurde 1996 beschlossen, als - eine große historische Ausnahme - sowohl der Gouverneur (George Pataki) als auch der Bürgermeister New Yorks (Rudy Giuliani) Republikaner waren.
Was für die Natur und die Menschen auf Staten Island gut ist, trifft die Stadtkasse schwer: Seit 2001 muss New York seinen gesamten Müll in andere Bundesstaaten exportieren. Am nächsten liegt noch die Müllverbrennungsanlage im benachbarten New Jersey. Das weiteste Ziel ist die Müllkippe von Bishopville in South Carolina. Ein Güterzug muss 1200 Kilometer nach Süden zurücklegen, ehe er dort ankommt. Das ist, als würde die Stadt Hamburg ihren Müll in Verona entsorgen. Allein für den Transport des Mülls musste die Stadtreinigung im vergangenen Jahr 309 Millionen Dollar zahlen. Ihr Budget hat sich seit 1997 von unter 600 Millionen auf 1,34 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt. Und ressourcenschonend ist das alles auch nicht.
Müllkippe und Müllexport sind aber immer noch viel besser, als das, was früher einmal New Yorker Praxis war. Seit ihren Anfängen 1624 hat die Stadt das Problem wiederholt und lange ignoriert - vielleicht weil immer wieder Wellen extrem unterschiedliche Einwanderer nach New York kamen, die ganz andere Sorgen hatten. Im frühen 19. Jahrhundert ließ man den Müll oft einfach auf den Straßen liegen - so lange, bis schwere Gelbfieber- und Choleraepidemien die Stadtverwaltung eines besseren belehrten. Danach kippte man, wie in anderen Küstenstädte auch, den Müll einfach ins Meer. Die Praxis hatte verheerende Folgen: Sie zerstörte die Fischgründe und Austernbänke vor New York und beschädigte Schiffe. Außerdem hatte der Müll die unangenehme Eigenschaft, zurückzukommen. "Es ist sicher nicht angenehm", so schrieb das Magazin Harper"s Weekly 1892, "wenn man als Schwimmer auf den Körper eines toten Pferdes aufläuft oder einem der Kadaver einer Katze über das Gesicht streicht, während man unter der Brandung hindurch taucht." Erst 1934 stoppte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten diese Praxis.
Jetzt soll Recycling das Problem lösen. Die Stadt stellte eigens einen "Nachhaltigkeitsreferenten" ein - es ist ein junger Unternehmer namens Ron Gonen - und ließ in Brooklyn eine hypermoderne Recycling-Anlage errichten. Entworfen hat die Anlage die in Köln geborene Stararchitektin Annabelle Selldorf. New York wird jetzt mit Biotonnen vollgestellt, Schulen werden zu Vorbildern für die Mülltrennung und sogar Altkleider, mit denen auch die Heilsarmee nichts mehr anfangen kann, gelten jetzt als wiederverwertbar. Und weil der Müll-Export so teuer ist, lohnt sich Recycling für die Stadt auch. 60 Millionen Dollar wird das Sanitation Department jedes Jahr an Deponiekosten sparen.
Trotzdem ist Bloombergs Aussage "Recycle Everything" ein krasser Euphemismus. Tatsächlich ist die Recycling-Quote New Yorks während der Amtszeit Bloombergs, dessen grünem Image zum Trotz, beständig gesunken: von 35,1 Prozent 2002 auf 16,6 Prozent. Wenn die Rate bis 2017 verdoppelt wird, wie Bloomberg das plant, wird sie immer noch niedriger als vor zwölf Jahren sein. San Francisco erreicht bereits heute fast 80 Prozent. Wie so vieles in New York hat auch das bisherige Recycling-Desaster mit der Geschichte zu tun. Die Stadtverwaltung stoppte nach den Terroranschlägen 2011 die Mülltrennung, um Geld zu sparen. Das war eine sehr kurzsichtige Entscheidung: Die Bürger waren verwirrt, zweifelten am Sinn des Ganzen, weshalb sich die Recyclingraten nie wieder erholten, auch nachdem 2004 das bisherige Programm wieder eingeführt wurde. Auch das ist New York.
Robin Nagle, die Anthropologin, macht sich unterdessen Sorgen, dass das Recycling zu viel politische Energie bindet. "Daheim bin ich eine fanatische Recyclerin", sagt sie. "Aber Müll sammeln kann nicht alles sein." Nur ein Drittel allen Abfalls New Yorks ist Hausmüll, der Rest ist Abfall aus Industrie, Baustellen und Krankenhäusern. "Das Wiederverwerten von Hausmüll ist wichtig, aber es wird nicht den Planeten retten. Den Leuten etwas anderes zu erzählen, ist nicht nur gefährlich. Es ist kriminell."