In seinem Roman "Straße der Diebe" verliert sich Mathias Énard mit seinem Helden zwischen Tanger und Barcelona
Wenn eine gut erzählte Geschichte schon einen guten Roman ergäbe, wäre dies ein ganz hervorragender Roman. Dies ist leider nicht der Fall. Mathias Énard, der mit seinem monumentalen Werk "Zone" und dann mit dem reizvoll minimalistischen "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" die Randformen des Romans ausprobiert hat, wollte sich hier offenbar im konventionelleren Register eines Zeitspiegels zwischen Thriller und kritischer Auseinandersetzung versuchen. Arabischer Frühling und spanische "Indignados", Terroranschlag in Marrakesch und Liquidierung Osama bin Ladens in Pakistan, afrikanische Flüchtlingsleichen auf den Stränden Europas und Migrantenschicksale an der Bruchkante der europäischen Sozialkrise werden in diesem Buch aufgeboten.
Der Autor Mathias Énard
Die Geschichte des jungen Marokkaners Lakhdar, der auf seinem Lebensweg von Tanger nach Barcelona an den Abgründen dieser Aktualität vorbeistolpert, ist aber so brav auf das chronologische Handlungsraster gefädelt, dass Hauptsache und Hintergrund, Anekdote und Weltgeschehen seltsam durchhängen. Wohl ist das Buch - zugleich Schelmenroman, Krimi und zeitgeschichtliches Feature - unterhaltsam und spannend. Die unerwarteten Durchblicke und originellen Figuren gehen aber unter im Ballast von Standard und Klischee. Trotz der literarischen Spiegeleffekte von Ibn Battuta bis Mohamed Choukri und Nagib Machfus blättern die Romanszenen von der weltpolitischen Unterlage wie Bildminiaturen unter zu schnell getrocknetem Lack.
Lakhdar und sein Freund Bassam gehören zu den jungen Zukunftswaisen, die auf den Felshängen von Tanger den ausfahrenden Schiffen nachschauen, von Weggehen, Erfolg und europäischen Mädchen träumen - ein Motiv, das nach Tahar Ben Jellouns "Verlassen" und Boualem Sansals "Harraga" schon ein literarischer Topos geworden ist. Lakhdar, wegen einer Liebesaffäre mit seiner Cousine von der Familie verstoßen, ist beim Herumhängen zwischen Tanger und Casablanca auf den Geschmack des Lesens gekommen. Bei einer "Muslimischen Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts" findet er Unterschlupf. Er frönt zwar weiterhin seinem Laster der Krimilektüre, lässt sich aber auch zur Schlägertour gegen "gotteslästerliche" Buchhandlungen mitnehmen.
Die Bekanntschaft mit einer spanischen Studentin bringt dem Wunsch nach Weggehen dann weiteren Auftrieb. Über unwahrscheinliche Zwischenstationen kommt der junge Mann bis nach Barcelona in die Carrer Robadors, die Straße der Diebe, Nutten und sonstiger Nachtgestalten, die dem Roman den Titel gibt. Lakhdars spanische Freundin Judit hat da zwar etwas weniger Zeit für ihn, sie ist bei den "Empörten" engagiert und hat überdies auch noch andere Probleme. Dafür melden sich, bedrohlich verändert, Lakhdars verschollener Freund Bassam und sein ehemaliger Mentor, Cheikh Nouredine, aus der "Muslimischen Gruppe" zurück.
Das alles ergäbe Stoff für einen Roman, bei dem man stockt, sich wundert, aus gewohnten Denkbildern fällt. Solche Momente kommen aber zu spärlich und zu spät. Dem Autor scheint es zunächst eher aufs wirksame Erzählen angekommen zu sein. Wie die Hauptfigur aus ihren Klischeeträumen von "Ärschen, Blondinen, schnellen Schlitten, Whisky und Knete" innert zwei Jahren zur Liebe für klassische arabische Literatur, zur Vertiefung in Koransuren und zum aufrichtigen Bedürfnis nach Beten gelangt, bleibt schleierhaft. Interessant ist zwar, dass die Leute aus der "Islamischen Gruppe" nicht als zähnefletschende Fundamentalisten auftreten, sondern als weltgewandte Drahtzieher eines skrupellosen politischen Geschäfts zwischen Saudi-Arabien und Europa, beziehungsweise als deren gestresste Handlanger. Doch bleibt ihre Darstellung schemenhaft.
Die Habenichtse von Globalisierung und Emigration wiederum, die in der Carrer Robadors per Internet und SMS ihre Verbindungsnetze spinnen, wirken konventionell und die in die Romanhandlung eingestreuten Weltereignisse wie die Tötung Osama bin Ladens bleiben bloße Aktualitätskulisse. Zu den wenigen originellen Figuren gehört jener Senor Cruz, für den Lakhdar zeitweilig arbeitet: ein Mann, der für die spanischen Behörden an den Stränden Flüchtlingsleichen einsammelt und den Angehörigen zurückbringt, zu sechzig Euro pro Stück und Verwahrungstag. Er ist ein seltsames Wesen, das die Toten respektiert, zugleich in seiner Freizeit aber stundenlang auf Youtube sich Folterszenen reinzieht, bis er dem Ganzen auf grässliche Weise ein Ende setzt.
Er wolle nichts weiter als die Freiheit zu reisen, Geld zu verdienen, zu vögeln, zu beten, zu sündigen oder Krimis zu lesen, wenn er Lust dazu habe, sagt Lakhdar und beklagt sich über die Islamisten, "die uns unsere Religion stehlen", wie auch über die arabische Linke, "die immer einem Streik hinterherhinkt". Dieser Individualismus führt den jungen Mann am Schluss zu einer großen Tat zwischen Heroismus und Wahnsinn, die nach der Inkohärenz des Vorhergehenden aber anekdotisch verglüht.
Es ist dem in Barcelona lebenden Énard leider nicht gelungen, seinen scharfen Sinn für Zeitprobleme, sein tiefes Verständnis für die arabische Welt und sein großes Erzähltalent bündig zusammenzubringen. Was ein grandioses Buch hätte werden können, bleibt ein guter, gut lesbarer Roman, nicht zuletzt dank der soliden Übersetzung, die den dünnen Faden zwischen Thriller und Zeitporträt nie reißen lässt.
Mathias Énard: Straße der Diebe. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Carl Hanser Verlag, München 2013. 350 Seiten, 19,90 Euro.
Wenn eine gut erzählte Geschichte schon einen guten Roman ergäbe, wäre dies ein ganz hervorragender Roman. Dies ist leider nicht der Fall. Mathias Énard, der mit seinem monumentalen Werk "Zone" und dann mit dem reizvoll minimalistischen "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" die Randformen des Romans ausprobiert hat, wollte sich hier offenbar im konventionelleren Register eines Zeitspiegels zwischen Thriller und kritischer Auseinandersetzung versuchen. Arabischer Frühling und spanische "Indignados", Terroranschlag in Marrakesch und Liquidierung Osama bin Ladens in Pakistan, afrikanische Flüchtlingsleichen auf den Stränden Europas und Migrantenschicksale an der Bruchkante der europäischen Sozialkrise werden in diesem Buch aufgeboten.
Der Autor Mathias Énard
Die Geschichte des jungen Marokkaners Lakhdar, der auf seinem Lebensweg von Tanger nach Barcelona an den Abgründen dieser Aktualität vorbeistolpert, ist aber so brav auf das chronologische Handlungsraster gefädelt, dass Hauptsache und Hintergrund, Anekdote und Weltgeschehen seltsam durchhängen. Wohl ist das Buch - zugleich Schelmenroman, Krimi und zeitgeschichtliches Feature - unterhaltsam und spannend. Die unerwarteten Durchblicke und originellen Figuren gehen aber unter im Ballast von Standard und Klischee. Trotz der literarischen Spiegeleffekte von Ibn Battuta bis Mohamed Choukri und Nagib Machfus blättern die Romanszenen von der weltpolitischen Unterlage wie Bildminiaturen unter zu schnell getrocknetem Lack.
Lakhdar und sein Freund Bassam gehören zu den jungen Zukunftswaisen, die auf den Felshängen von Tanger den ausfahrenden Schiffen nachschauen, von Weggehen, Erfolg und europäischen Mädchen träumen - ein Motiv, das nach Tahar Ben Jellouns "Verlassen" und Boualem Sansals "Harraga" schon ein literarischer Topos geworden ist. Lakhdar, wegen einer Liebesaffäre mit seiner Cousine von der Familie verstoßen, ist beim Herumhängen zwischen Tanger und Casablanca auf den Geschmack des Lesens gekommen. Bei einer "Muslimischen Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts" findet er Unterschlupf. Er frönt zwar weiterhin seinem Laster der Krimilektüre, lässt sich aber auch zur Schlägertour gegen "gotteslästerliche" Buchhandlungen mitnehmen.
Die Bekanntschaft mit einer spanischen Studentin bringt dem Wunsch nach Weggehen dann weiteren Auftrieb. Über unwahrscheinliche Zwischenstationen kommt der junge Mann bis nach Barcelona in die Carrer Robadors, die Straße der Diebe, Nutten und sonstiger Nachtgestalten, die dem Roman den Titel gibt. Lakhdars spanische Freundin Judit hat da zwar etwas weniger Zeit für ihn, sie ist bei den "Empörten" engagiert und hat überdies auch noch andere Probleme. Dafür melden sich, bedrohlich verändert, Lakhdars verschollener Freund Bassam und sein ehemaliger Mentor, Cheikh Nouredine, aus der "Muslimischen Gruppe" zurück.
Das alles ergäbe Stoff für einen Roman, bei dem man stockt, sich wundert, aus gewohnten Denkbildern fällt. Solche Momente kommen aber zu spärlich und zu spät. Dem Autor scheint es zunächst eher aufs wirksame Erzählen angekommen zu sein. Wie die Hauptfigur aus ihren Klischeeträumen von "Ärschen, Blondinen, schnellen Schlitten, Whisky und Knete" innert zwei Jahren zur Liebe für klassische arabische Literatur, zur Vertiefung in Koransuren und zum aufrichtigen Bedürfnis nach Beten gelangt, bleibt schleierhaft. Interessant ist zwar, dass die Leute aus der "Islamischen Gruppe" nicht als zähnefletschende Fundamentalisten auftreten, sondern als weltgewandte Drahtzieher eines skrupellosen politischen Geschäfts zwischen Saudi-Arabien und Europa, beziehungsweise als deren gestresste Handlanger. Doch bleibt ihre Darstellung schemenhaft.
Die Habenichtse von Globalisierung und Emigration wiederum, die in der Carrer Robadors per Internet und SMS ihre Verbindungsnetze spinnen, wirken konventionell und die in die Romanhandlung eingestreuten Weltereignisse wie die Tötung Osama bin Ladens bleiben bloße Aktualitätskulisse. Zu den wenigen originellen Figuren gehört jener Senor Cruz, für den Lakhdar zeitweilig arbeitet: ein Mann, der für die spanischen Behörden an den Stränden Flüchtlingsleichen einsammelt und den Angehörigen zurückbringt, zu sechzig Euro pro Stück und Verwahrungstag. Er ist ein seltsames Wesen, das die Toten respektiert, zugleich in seiner Freizeit aber stundenlang auf Youtube sich Folterszenen reinzieht, bis er dem Ganzen auf grässliche Weise ein Ende setzt.
Er wolle nichts weiter als die Freiheit zu reisen, Geld zu verdienen, zu vögeln, zu beten, zu sündigen oder Krimis zu lesen, wenn er Lust dazu habe, sagt Lakhdar und beklagt sich über die Islamisten, "die uns unsere Religion stehlen", wie auch über die arabische Linke, "die immer einem Streik hinterherhinkt". Dieser Individualismus führt den jungen Mann am Schluss zu einer großen Tat zwischen Heroismus und Wahnsinn, die nach der Inkohärenz des Vorhergehenden aber anekdotisch verglüht.
Es ist dem in Barcelona lebenden Énard leider nicht gelungen, seinen scharfen Sinn für Zeitprobleme, sein tiefes Verständnis für die arabische Welt und sein großes Erzähltalent bündig zusammenzubringen. Was ein grandioses Buch hätte werden können, bleibt ein guter, gut lesbarer Roman, nicht zuletzt dank der soliden Übersetzung, die den dünnen Faden zwischen Thriller und Zeitporträt nie reißen lässt.
Mathias Énard: Straße der Diebe. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Carl Hanser Verlag, München 2013. 350 Seiten, 19,90 Euro.