Der Sommer am Strand war lang, und Isabelle hat einiges erledigt: Bikinistreifen auf ihren Körper gebrannt, ihre Jungfräulichkeit an einen gut aussehenden Surfer verloren, ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert. Jetzt sieht sie viele Dinge anders. Ihr erstes Mal zum Beispiel. Da hat sie sich wie von außen betrachtet: Plötzlich stand da eine zweite Isabelle am Strand und sah zu, was dieser nackte Surferhintern mit der ersten Isabelle gemacht hat. Die Liebe eines Jungen kann alles verändern, sang dazu Françoise Hardy.
Jetzt ist es Herbst. Isabelle geht wieder in die Schule in Paris, auf das berühmte Lycée Henri IV, wohin sonst. Außerdem meldet sie sich auf der Website ,,Rencontres & Vous' an, lädt ein paar Unterwäsche-Fotos von sich hoch, kauft ein zweites Handy und beginnt, sich mit zahlungswilligen Männern zu treffen. Ihr Preis liegt zwischen 300 und 500 Euro pro Stunde, aber die Nachfrage ist da.
Marine Vacth als Isabelle und Johan Leysen als Georges in "Jung und Schön". Der Film läuft seit dem 14. November in den deutschen Kinos.
François Ozon macht kein Geheimnis daraus, dass sein Blick obsessiv auf Isabelle fixiert ist - schon das allererste Bild zeigt ihren Körper am Strand, betrachtet durch ein Fernglas. Marine Vacth, die überzeugende Darstellerin der Isabelle, war vor ihrer Filmkarriere ein hoch bezahltes Model, unter anderem für Yves Saint Laurent und Chloé. Der Blick, vor dem sie nun immer wieder entblößt wird, ähnelt oberflächlich dem Voyeurismus der Modeindustrie.
Es ist aber doch ein Unterschied, wer hier blickt. François Ozon ist ein bekennend schwuler Filmemacher, der seine Kamera selber führt. Auf schwer benennbare Art und Weise sickert das in seine Bilder ein: Dieser Blick will sich nicht selbst erregen - und eigentlich auch niemanden sonst. Er ist eher fragend. Die Hauptfrage ist natürlich: Warum tut sie das? Automatisch sucht man nach Hinweisen, Fehlentwicklungen, Warnzeichen. War das erste Mal so schlimm? Nein, der Junge war ganz nett, eigentlich wollte er sogar mehr von ihr. Sie war es, die ihn abblitzen ließ.
Liegt es an den Eltern? Wohl kaum. Der Vater lebt zwar weit weg, mit neuer Familie, aber die Mutter ( wunderbar: Géraldine Pailhas) ist interessiert, pragmatisch, geerdet. Auch ihr neuer Mann wirkt entspannt und nett. Ist Isabelle demnach vom Geld besessen, ein Opfer der Konsumkultur? Ganz und gar nicht. Erstens hat die Familie keine materiellen Probleme, und zweitens sieht man sie auch nie etwas kaufen - für ihre 'Rencontres' klaut sie eher die Kleider der Mutter.
Also gut: Hat sie vielleicht einen seelischen Defekt, wohnt eine Art Monster im schönen Körper? Ach was. Das Verhältnis zu ihrem jüngeren Bruder, der ihre Eskapaden interessiert verfolgt, ist liebevoll, ein bisschen ruppig, auf jeden Fall sehr real. So weit, so rätselhaft. Allerdings trifft der Film, sicherlich unbeabsichtigt, nun mitten in eine Prostitutionsdebatte hinein, die in Deutschland und noch mehr in Frankreich tobt. Muss man käufliche Liebe nicht ganz verbieten oder doch viel härter bestrafen? Sind Huren nicht generell Objekte des Menschenhandels, oder, wenn sie in reiche Gesellschaften hineingeboren wurden, wenigstens Opfer von Kindesmissbrauch?
Isabelle ist all das jedenfalls nicht. Schon das könnte man als Debattenbeitrag deuten. Zudem verlaufen ihre Begegnungen mit den Freiern zwar manchmal kalt und erniedrigend, sind aber hochglänzend fotografiert. Echte Gewalt erlebt sie nicht. Stattdessen wächst ihr Euro-Bündel, im Kleiderschrank versteckt. Es wird Winter. Wann werde ich von der Kindheit erlöst? singt Françoise Hardy. Es gibt einen väterlichen Freier (Johan Leysen), der besonders melancholisch wirkt. Er bekommt ein Gesicht, ein bisschen Geschichte und wird zum Stammkunden. Allerdings nicht sehr lange. Beim Sex mit Isabell erleidet er einen Herzinfarkt. Ein Schock. Entsetzt zieht sie sich aus dem Geschäft zurück. Nun ermittelt die Polizei, ihr Geheimnis fliegt auf. Die Mutter tobt. 'Mein Kind ist verdorben bis ins Mark', klagt sie, schlaflos im Bett. Daran glaubt ernsthaft natürlich niemand. Aber die große Warum-Frage bleibt. Man könnte verzweifeln daran. Isabelle dagegen scheint ins normale Leben einer Schülerin zurückzufinden. Sie geht auf eine Party. Sie küsst einen Jungen aus ihrer Klasse. Im Morgengrauen steht sie mit ihm auf einer Seine-Brücke vor einem Geländer mit sehr vielen Schlössern: Treueschwüre, von Liebenden hinterlassen, aus extra gehärtetem Stahl. 'Kommst du mit zu mir?', fragt der Junge. 'Nicht in der ersten Nacht', antwortet Isabelle.
Diese Antwort ist so offensichtlich 'richtig', dass sie einen in diesem Moment wie ein Schlag trifft. Man sieht alles Weitere vor sich: ein hübsches Paar, Studienplätze an den Grandes Écoles, hübsche Posten in der französischen Meritokratie, hübsche Kinder. Alles wird gut. Und man ertappt sich dabei, wie ein Gedanke Kontur annimmt: dann lieber Prostitution.
Dies ist nun offensichtlich der Punkt, den François Ozon, der gerissene Fuchs, die ganze Zeit angesteuert hat. Da will er uns Zuschauer haben. Nur: Wie hat er das geschafft? Isabelle ist keine Rebellin, die ihre Rebellion artikulieren könnte. Das System ist nicht böse zu ihr. Ihre Schönheit ist zwar wie ein Blankoscheck, um den sie nicht gebeten hat, sie könnte ihn aber auch spenden - Bedürftige gibt es genug.
Ozon erklärt an dieser Stelle, dass es ihm einfach um Selbstfindung ging. Um die gefährliche Zeit des Erwachsenwerdens, wenn niemand einen Grund braucht, verzweifelt zu sein. Prostitution, sagt er, sei da einfach eine Form der Selbstverletzung, wie Hungern, wie Drogen, wie das Aufritzen der Haut. Das klingt seltsamerweise beruhigend. Es würde nämlich, sehr bequem, das Problem auch auf die Ebene der Hormone verlagern. Die toben in Isabelles Körper, und wenn sie mit dem Toben mal durch sind, renkt sich alles wieder ein. Aus der jungen Liebe auf der Seine-Brücke wird zwar nichts, aber irgendwie, scheint der Regisseur zu sagen, wird diese junge Frau sich schon finden.
Nur erklärt das noch nicht, warum man dieses Brückengeländer, an dem die Schlösser hängen, plötzlich mit solchem Schauder betrachtet. Was bitte wäre denn gegen die Romantik zu sagen, gegen Treue und selbstbestimmte Partnerwahl? Hier öffnet sich Abgrund, den 'Jung & schön' nicht wieder verschließen kann - das macht diesen Film so groß, und so beunruhigend. Wünscht man Isabelle, dass sie in der Welt der brutal verhandelten Tauschwerte alt wird, in der schon der dritte Kunde einen Blowjob ohne Kondom fordert - als Hinweis darauf, was kommen wird? Natürlich nicht. Aber welche Rettung könnte sie finden? Alle Wege stehen ihr offen, zurück in die Gesellschaft und in die Bürgerlichkeit - noch ist nichts Irreversibles passiert. Aber alle Wege, die da offenstehen, sind auch vorgezeichnet. Und eins ist mal sicher: In die Freiheit führen sie nicht.
Jeune & jolie, F 2013 - Regie und Buch: François Ozon. Kamera: Pascal Marti. Musik: Philippe Rombi. Mit Marine Vacth, Géraldine Pailhas, Frédéric Pierrot, Fantin Ravat, Johan Leysen, Charlotte Rampling. Verleih: Weltkino, 93 Minuten.
Jetzt ist es Herbst. Isabelle geht wieder in die Schule in Paris, auf das berühmte Lycée Henri IV, wohin sonst. Außerdem meldet sie sich auf der Website ,,Rencontres & Vous' an, lädt ein paar Unterwäsche-Fotos von sich hoch, kauft ein zweites Handy und beginnt, sich mit zahlungswilligen Männern zu treffen. Ihr Preis liegt zwischen 300 und 500 Euro pro Stunde, aber die Nachfrage ist da.
Marine Vacth als Isabelle und Johan Leysen als Georges in "Jung und Schön". Der Film läuft seit dem 14. November in den deutschen Kinos.
François Ozon macht kein Geheimnis daraus, dass sein Blick obsessiv auf Isabelle fixiert ist - schon das allererste Bild zeigt ihren Körper am Strand, betrachtet durch ein Fernglas. Marine Vacth, die überzeugende Darstellerin der Isabelle, war vor ihrer Filmkarriere ein hoch bezahltes Model, unter anderem für Yves Saint Laurent und Chloé. Der Blick, vor dem sie nun immer wieder entblößt wird, ähnelt oberflächlich dem Voyeurismus der Modeindustrie.
Es ist aber doch ein Unterschied, wer hier blickt. François Ozon ist ein bekennend schwuler Filmemacher, der seine Kamera selber führt. Auf schwer benennbare Art und Weise sickert das in seine Bilder ein: Dieser Blick will sich nicht selbst erregen - und eigentlich auch niemanden sonst. Er ist eher fragend. Die Hauptfrage ist natürlich: Warum tut sie das? Automatisch sucht man nach Hinweisen, Fehlentwicklungen, Warnzeichen. War das erste Mal so schlimm? Nein, der Junge war ganz nett, eigentlich wollte er sogar mehr von ihr. Sie war es, die ihn abblitzen ließ.
Liegt es an den Eltern? Wohl kaum. Der Vater lebt zwar weit weg, mit neuer Familie, aber die Mutter ( wunderbar: Géraldine Pailhas) ist interessiert, pragmatisch, geerdet. Auch ihr neuer Mann wirkt entspannt und nett. Ist Isabelle demnach vom Geld besessen, ein Opfer der Konsumkultur? Ganz und gar nicht. Erstens hat die Familie keine materiellen Probleme, und zweitens sieht man sie auch nie etwas kaufen - für ihre 'Rencontres' klaut sie eher die Kleider der Mutter.
Also gut: Hat sie vielleicht einen seelischen Defekt, wohnt eine Art Monster im schönen Körper? Ach was. Das Verhältnis zu ihrem jüngeren Bruder, der ihre Eskapaden interessiert verfolgt, ist liebevoll, ein bisschen ruppig, auf jeden Fall sehr real. So weit, so rätselhaft. Allerdings trifft der Film, sicherlich unbeabsichtigt, nun mitten in eine Prostitutionsdebatte hinein, die in Deutschland und noch mehr in Frankreich tobt. Muss man käufliche Liebe nicht ganz verbieten oder doch viel härter bestrafen? Sind Huren nicht generell Objekte des Menschenhandels, oder, wenn sie in reiche Gesellschaften hineingeboren wurden, wenigstens Opfer von Kindesmissbrauch?
Isabelle ist all das jedenfalls nicht. Schon das könnte man als Debattenbeitrag deuten. Zudem verlaufen ihre Begegnungen mit den Freiern zwar manchmal kalt und erniedrigend, sind aber hochglänzend fotografiert. Echte Gewalt erlebt sie nicht. Stattdessen wächst ihr Euro-Bündel, im Kleiderschrank versteckt. Es wird Winter. Wann werde ich von der Kindheit erlöst? singt Françoise Hardy. Es gibt einen väterlichen Freier (Johan Leysen), der besonders melancholisch wirkt. Er bekommt ein Gesicht, ein bisschen Geschichte und wird zum Stammkunden. Allerdings nicht sehr lange. Beim Sex mit Isabell erleidet er einen Herzinfarkt. Ein Schock. Entsetzt zieht sie sich aus dem Geschäft zurück. Nun ermittelt die Polizei, ihr Geheimnis fliegt auf. Die Mutter tobt. 'Mein Kind ist verdorben bis ins Mark', klagt sie, schlaflos im Bett. Daran glaubt ernsthaft natürlich niemand. Aber die große Warum-Frage bleibt. Man könnte verzweifeln daran. Isabelle dagegen scheint ins normale Leben einer Schülerin zurückzufinden. Sie geht auf eine Party. Sie küsst einen Jungen aus ihrer Klasse. Im Morgengrauen steht sie mit ihm auf einer Seine-Brücke vor einem Geländer mit sehr vielen Schlössern: Treueschwüre, von Liebenden hinterlassen, aus extra gehärtetem Stahl. 'Kommst du mit zu mir?', fragt der Junge. 'Nicht in der ersten Nacht', antwortet Isabelle.
Diese Antwort ist so offensichtlich 'richtig', dass sie einen in diesem Moment wie ein Schlag trifft. Man sieht alles Weitere vor sich: ein hübsches Paar, Studienplätze an den Grandes Écoles, hübsche Posten in der französischen Meritokratie, hübsche Kinder. Alles wird gut. Und man ertappt sich dabei, wie ein Gedanke Kontur annimmt: dann lieber Prostitution.
Dies ist nun offensichtlich der Punkt, den François Ozon, der gerissene Fuchs, die ganze Zeit angesteuert hat. Da will er uns Zuschauer haben. Nur: Wie hat er das geschafft? Isabelle ist keine Rebellin, die ihre Rebellion artikulieren könnte. Das System ist nicht böse zu ihr. Ihre Schönheit ist zwar wie ein Blankoscheck, um den sie nicht gebeten hat, sie könnte ihn aber auch spenden - Bedürftige gibt es genug.
Ozon erklärt an dieser Stelle, dass es ihm einfach um Selbstfindung ging. Um die gefährliche Zeit des Erwachsenwerdens, wenn niemand einen Grund braucht, verzweifelt zu sein. Prostitution, sagt er, sei da einfach eine Form der Selbstverletzung, wie Hungern, wie Drogen, wie das Aufritzen der Haut. Das klingt seltsamerweise beruhigend. Es würde nämlich, sehr bequem, das Problem auch auf die Ebene der Hormone verlagern. Die toben in Isabelles Körper, und wenn sie mit dem Toben mal durch sind, renkt sich alles wieder ein. Aus der jungen Liebe auf der Seine-Brücke wird zwar nichts, aber irgendwie, scheint der Regisseur zu sagen, wird diese junge Frau sich schon finden.
Nur erklärt das noch nicht, warum man dieses Brückengeländer, an dem die Schlösser hängen, plötzlich mit solchem Schauder betrachtet. Was bitte wäre denn gegen die Romantik zu sagen, gegen Treue und selbstbestimmte Partnerwahl? Hier öffnet sich Abgrund, den 'Jung & schön' nicht wieder verschließen kann - das macht diesen Film so groß, und so beunruhigend. Wünscht man Isabelle, dass sie in der Welt der brutal verhandelten Tauschwerte alt wird, in der schon der dritte Kunde einen Blowjob ohne Kondom fordert - als Hinweis darauf, was kommen wird? Natürlich nicht. Aber welche Rettung könnte sie finden? Alle Wege stehen ihr offen, zurück in die Gesellschaft und in die Bürgerlichkeit - noch ist nichts Irreversibles passiert. Aber alle Wege, die da offenstehen, sind auch vorgezeichnet. Und eins ist mal sicher: In die Freiheit führen sie nicht.
Jeune & jolie, F 2013 - Regie und Buch: François Ozon. Kamera: Pascal Marti. Musik: Philippe Rombi. Mit Marine Vacth, Géraldine Pailhas, Frédéric Pierrot, Fantin Ravat, Johan Leysen, Charlotte Rampling. Verleih: Weltkino, 93 Minuten.