Als die „Corte dei conti“, der italienische Rechnungshof, vor ein paar Tagen der amerikanischen Firma Standard & Poor’s mitteilte, man überlege sich, sie und ihre Kollegen von Moody’s & Fitch zu verklagen, brach im internationalen Geldgewerbe großes Gelächter aus: Die Römer hatten nämlich argumentiert, die Rating-Agenturen hätten in ihren Bewertungen der italienischen Volkswirtschaft den Wert der einheimischen Kulturgüter nicht berücksichtigt. Diese aber seien wesentlicher Bestandteil der nationalen Ökonomie. Zu Unrecht sei Italien deshalb im September 2011 von der Bewertung „A+“ auf „A“ heruntergestuft worden. Es werde also – vielleicht – bald eine Forderung in Höhe von 234 Milliarden Euro geben, als Ausgleich für den Schaden, der durch die falsche Bewertung entstanden sei. Die britische Tageszeitung The Guardian referierte diese Ankündigung als fiktiven Vorwurf an die Agenturen, man habe es dort an Bewunderung für Michelangelo fehlen lassen. Und die Financial Times schrieb, „Italien beschuldigt S & P, die ,dolce vita’ nicht verstanden zu haben“.
Schätze Italiens - Kulturgüter als Garantie für Kreditwürdigkeit?
Es ist seltsam, dass niemand dieser Häme widerspricht. Denn selbstverständlich besitzen auch historische Bauten, Kunstschätze und Kulturlandschaften einen ökonomischen Wert, auch wenn er bei Weitem nicht so groß ist, dass man damit eine Volkswirtschaft betreiben könnte. Dieses Wertes wegen wird zum Beispiel Eintritt gezahlt, für Tausende von Museen, Denkmäler und historische Stätten. Deswegen gibt es Kulturreisen, deswegen kommen Millionen Ausländer, und deswegen werden kostenpflichtige Besichtigungsprogramme eingerichtet. Dabei kommen beträchtliche Summen zusammen: Im vergangenen Jahr kursierte in Italien eine Kalkulation, der zufolge die „beni culturali“ mit mehr als fünf Prozent zum Bruttosozialprodukt beitragen: mit 76 Milliarden Euro im Jahr. Im übrigen fragt man sich, was absurder ist: die entfesselte finanzwirtschaftliche Spekulation, die alles und jedes, bis hin zu Derivaten auf Derivate auf Derivate, als potentiellen Gegenstand der Kapitalisierung betrachtet – oder der Wunsch italienischer Ökonomen, man möge Leonardos „Letztes Abendmahl“, die Uffizien oder die Küste von Amalfi als nationalen Reichtum anrechnen.
Italienische Politiker sprechen, wenn sie von der Kulturgütern im eigenen Land reden, gern von den „Schätzen“ Italiens. Beliebt ist auch der Vergleich, die Kulturgüter seien die „Ölquellen“ des Landes. Oft folgt darauf der Hinweis, dass in Italien, je nach Rechnungsart, die Hälfte oder zwei Drittel oder gar drei Viertel der Kulturgüter der ganzen Welt zu finden seien – was dann auch immer bedeutet, dass man, auch konservatorisch, einem solchen Überfluss gar nicht gerecht werden könne. Dabei ist die Rede von den „Schätzen“, so sehr sie auch als stolze Selbstversicherung gemeint sein mag, eine zutiefst ambivalente Angelegenheit: Denn ein „Schatz“ ist unproduktives Eigentum, Ausdruck einer vorkapitalistischen Form der Akkumulation von Reichtum und insofern das Gegenteil dessen, womit sich diese Politiker eigentlich brüsten wollten. Diese Art, über Kulturgüter nachzudenken, hat indessen handfeste Folgen: etwa in der Idee der „citta d’arte“, der Vorstellung also, man könne eine Stadt, wenn sie nur alt und schön anzusehen ist, der Repräsentation ihrer selbst überlassen. Was dabei für die Touristen herauskommt, beschrieb vor einigen Jahren der römische Psychologe Francesco Antinucci am Beispiel der vatikanischen Museen: Viele Besucher konnten sich schon Minuten nach dem Besuch kaum noch daran erinnern, wo sie gewesen waren. Und was daraus für die Städte entsteht, sieht man in Florenz oder Venedig: historische Zentren, die so viele Touristen anziehen, dass die Reiseziele ihre eigene Attraktivität nicht überstehen.
Und noch etwas geht in der Rede von den nationalen „tesori“ verloren, deren Hüter der Mailänder Volkswirt Pier Luigi Sacco in seiner Polemik „Italia Reloaded“ (Mailand 2011, zusammen mit Christian Caliandro) mit einer Bande von lebenden Toten vergleicht: das Bewusstsein, dass diese Schätze sehr teuer sind. Kulturschätze machen sich volkswirtschaftlich nicht nur als Vermögen, sondern auch und vor allem als Belastung geltend. Wer bei dem Versuch, auch nur eine kleine Straße zu bauen, alle paar hundert Meter innehalten muss, weil Archäologen, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger erst einmal ihrer Arbeit nachgehen müssen, steht auch wirtschaftlich vor einer Schwierigkeit, die kaum einer hat, der seine Autobahnen durch ein Land legen kann, das ehedem nur von Nomaden durchzogen wurde.
Zudem müssen Kulturschätze – nicht anders als Straßen, aber unter schlechter kontrollierbaren Voraussetzungen – unterhalten werden. Sie verschlingen stets einen großen Teil der Einkünfte, die sie generieren, und oft mehr als das. Und schließlich ist bei Weitem nicht alles, was unter die Kategorie der „beni culturali“, der „Kulturgüter“, fällt, überhaupt für den Markt geeignet. Den Palazzo Pitti in Florenz könnte man vielleicht noch ausräumen und den Inhalt bei Christie’s oder Sotheby’s versteigern. Beim Markusplatz wäre das schon schwieriger, um von kompletten Landschaften wie den toskanischen Hügeln ganz zu schweigen.
Nun ist aber der Staat kein Unternehmen (auch wenn Silvio Berlusconis frühe Erfolge bei den Wählern auf dem Versprechen beruhten, es könne anders sein), und sein Zweck besteht nicht darin, Gewinn zu erwirtschaften. Er stellt vielmehr die Voraussetzungen her, unter denen das private Kapital wirtschaftet. Und es geht nicht anders: Die gesellschaftliche Infrastruktur, von den Verkehrswegen über die Krankenversorgung und die Bildung bis hin zum „kulturellen Erbe“, kostet mehr, als sie einbringen kann. Deshalb wird ihr Preis auf die Allgemeinheit umgelegt, was auch bedeutet, dass er gerechtfertigt werden muss. Das wird um so schwieriger, je weniger ein gesellschaftlicher Nutzen unmittelbar zu erkennen ist. In Zeiten der Not schrumpfen daher Budgets für die Kultur: Das Budget für das italienische Ministerium für Kulturgüter wurde in den vergangenen zehn Jahren beinahe halbiert, von zweieinhalb auf knapp eineinhalb Milliarden Euro. Und verkaufen lassen sich die Kulturgüter schließlich auch deshalb nicht, weil ihr Besitz unmittelbar mit der Vorstellung zu tun hat, die der italienische Staat von sich selber hat: Sie fallen also in die Bereiche der nationalen Repräsentation und der nationalen Ehre – Griechenland ist bisher der einzige Staat der Europäischen Union, der an diesem Punkt über Kompromisse überhaupt nachzudenken bereit war.
So betrachtet, betreiben die Ökonomen der „Corte dei conti“, wenn sie ein Inventar anlegen und damit strikt wirtschaftlich zu argumentieren scheinen, eine seltsame Art der Flucht nach vorn. Denn selbstverständlich wird auch die „Corte dei conti“ wissen, der billigen Häme der Wirtschaftsjournalisten zum Trotz, dass der Versuch, das kulturelle Tafelsilber als Mittel zur Steigerung der Kreditwürdigkeit zu benutzen, ein Zeugnis der Armut ist. Dieses Bekenntnis aber nehmen die Italiener in Kauf: Denn im selben Maße, wie sie von Standard & Poor’s die Anerkennung ihrer Kulturgüter als nationale Reichtümer verlangen, verwandeln sie diese Kulturgüter in einen Gegenstand von allgemeiner Geltung und internationalem Interesse.
Die Initiative der „Corte dei conti“ ist also womöglich weniger eine Veranstaltung italienischen Eigensinns als der Versuch, ein zumindest gesamteuropäisches Interesse an den „beni culturali“ geltend zu machen – ein kulturelles Äquivalent also zum Anliegen der italienischen Politik, die Schulden der Staaten im Euro-Raum auf alle beteiligten Nationen umzulegen.
Wenn man, wenn auch auf dermaßen komplizierten Wegen, die europäischen Kollegenstaaten bitten muss, des gemeinsamen Erbes wegen zum Unterhalt der „beni culturali“ beizutragen, ist das zwar schon wieder ein Armutszeugnis. Aber wer weiß: Es mag ja sein, dass eines Tages ganz Europa auf die Idee verfallen muss, die Kultur als Vermögensfrage zu behandeln.
Schätze Italiens - Kulturgüter als Garantie für Kreditwürdigkeit?
Es ist seltsam, dass niemand dieser Häme widerspricht. Denn selbstverständlich besitzen auch historische Bauten, Kunstschätze und Kulturlandschaften einen ökonomischen Wert, auch wenn er bei Weitem nicht so groß ist, dass man damit eine Volkswirtschaft betreiben könnte. Dieses Wertes wegen wird zum Beispiel Eintritt gezahlt, für Tausende von Museen, Denkmäler und historische Stätten. Deswegen gibt es Kulturreisen, deswegen kommen Millionen Ausländer, und deswegen werden kostenpflichtige Besichtigungsprogramme eingerichtet. Dabei kommen beträchtliche Summen zusammen: Im vergangenen Jahr kursierte in Italien eine Kalkulation, der zufolge die „beni culturali“ mit mehr als fünf Prozent zum Bruttosozialprodukt beitragen: mit 76 Milliarden Euro im Jahr. Im übrigen fragt man sich, was absurder ist: die entfesselte finanzwirtschaftliche Spekulation, die alles und jedes, bis hin zu Derivaten auf Derivate auf Derivate, als potentiellen Gegenstand der Kapitalisierung betrachtet – oder der Wunsch italienischer Ökonomen, man möge Leonardos „Letztes Abendmahl“, die Uffizien oder die Küste von Amalfi als nationalen Reichtum anrechnen.
Italienische Politiker sprechen, wenn sie von der Kulturgütern im eigenen Land reden, gern von den „Schätzen“ Italiens. Beliebt ist auch der Vergleich, die Kulturgüter seien die „Ölquellen“ des Landes. Oft folgt darauf der Hinweis, dass in Italien, je nach Rechnungsart, die Hälfte oder zwei Drittel oder gar drei Viertel der Kulturgüter der ganzen Welt zu finden seien – was dann auch immer bedeutet, dass man, auch konservatorisch, einem solchen Überfluss gar nicht gerecht werden könne. Dabei ist die Rede von den „Schätzen“, so sehr sie auch als stolze Selbstversicherung gemeint sein mag, eine zutiefst ambivalente Angelegenheit: Denn ein „Schatz“ ist unproduktives Eigentum, Ausdruck einer vorkapitalistischen Form der Akkumulation von Reichtum und insofern das Gegenteil dessen, womit sich diese Politiker eigentlich brüsten wollten. Diese Art, über Kulturgüter nachzudenken, hat indessen handfeste Folgen: etwa in der Idee der „citta d’arte“, der Vorstellung also, man könne eine Stadt, wenn sie nur alt und schön anzusehen ist, der Repräsentation ihrer selbst überlassen. Was dabei für die Touristen herauskommt, beschrieb vor einigen Jahren der römische Psychologe Francesco Antinucci am Beispiel der vatikanischen Museen: Viele Besucher konnten sich schon Minuten nach dem Besuch kaum noch daran erinnern, wo sie gewesen waren. Und was daraus für die Städte entsteht, sieht man in Florenz oder Venedig: historische Zentren, die so viele Touristen anziehen, dass die Reiseziele ihre eigene Attraktivität nicht überstehen.
Und noch etwas geht in der Rede von den nationalen „tesori“ verloren, deren Hüter der Mailänder Volkswirt Pier Luigi Sacco in seiner Polemik „Italia Reloaded“ (Mailand 2011, zusammen mit Christian Caliandro) mit einer Bande von lebenden Toten vergleicht: das Bewusstsein, dass diese Schätze sehr teuer sind. Kulturschätze machen sich volkswirtschaftlich nicht nur als Vermögen, sondern auch und vor allem als Belastung geltend. Wer bei dem Versuch, auch nur eine kleine Straße zu bauen, alle paar hundert Meter innehalten muss, weil Archäologen, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger erst einmal ihrer Arbeit nachgehen müssen, steht auch wirtschaftlich vor einer Schwierigkeit, die kaum einer hat, der seine Autobahnen durch ein Land legen kann, das ehedem nur von Nomaden durchzogen wurde.
Zudem müssen Kulturschätze – nicht anders als Straßen, aber unter schlechter kontrollierbaren Voraussetzungen – unterhalten werden. Sie verschlingen stets einen großen Teil der Einkünfte, die sie generieren, und oft mehr als das. Und schließlich ist bei Weitem nicht alles, was unter die Kategorie der „beni culturali“, der „Kulturgüter“, fällt, überhaupt für den Markt geeignet. Den Palazzo Pitti in Florenz könnte man vielleicht noch ausräumen und den Inhalt bei Christie’s oder Sotheby’s versteigern. Beim Markusplatz wäre das schon schwieriger, um von kompletten Landschaften wie den toskanischen Hügeln ganz zu schweigen.
Nun ist aber der Staat kein Unternehmen (auch wenn Silvio Berlusconis frühe Erfolge bei den Wählern auf dem Versprechen beruhten, es könne anders sein), und sein Zweck besteht nicht darin, Gewinn zu erwirtschaften. Er stellt vielmehr die Voraussetzungen her, unter denen das private Kapital wirtschaftet. Und es geht nicht anders: Die gesellschaftliche Infrastruktur, von den Verkehrswegen über die Krankenversorgung und die Bildung bis hin zum „kulturellen Erbe“, kostet mehr, als sie einbringen kann. Deshalb wird ihr Preis auf die Allgemeinheit umgelegt, was auch bedeutet, dass er gerechtfertigt werden muss. Das wird um so schwieriger, je weniger ein gesellschaftlicher Nutzen unmittelbar zu erkennen ist. In Zeiten der Not schrumpfen daher Budgets für die Kultur: Das Budget für das italienische Ministerium für Kulturgüter wurde in den vergangenen zehn Jahren beinahe halbiert, von zweieinhalb auf knapp eineinhalb Milliarden Euro. Und verkaufen lassen sich die Kulturgüter schließlich auch deshalb nicht, weil ihr Besitz unmittelbar mit der Vorstellung zu tun hat, die der italienische Staat von sich selber hat: Sie fallen also in die Bereiche der nationalen Repräsentation und der nationalen Ehre – Griechenland ist bisher der einzige Staat der Europäischen Union, der an diesem Punkt über Kompromisse überhaupt nachzudenken bereit war.
So betrachtet, betreiben die Ökonomen der „Corte dei conti“, wenn sie ein Inventar anlegen und damit strikt wirtschaftlich zu argumentieren scheinen, eine seltsame Art der Flucht nach vorn. Denn selbstverständlich wird auch die „Corte dei conti“ wissen, der billigen Häme der Wirtschaftsjournalisten zum Trotz, dass der Versuch, das kulturelle Tafelsilber als Mittel zur Steigerung der Kreditwürdigkeit zu benutzen, ein Zeugnis der Armut ist. Dieses Bekenntnis aber nehmen die Italiener in Kauf: Denn im selben Maße, wie sie von Standard & Poor’s die Anerkennung ihrer Kulturgüter als nationale Reichtümer verlangen, verwandeln sie diese Kulturgüter in einen Gegenstand von allgemeiner Geltung und internationalem Interesse.
Die Initiative der „Corte dei conti“ ist also womöglich weniger eine Veranstaltung italienischen Eigensinns als der Versuch, ein zumindest gesamteuropäisches Interesse an den „beni culturali“ geltend zu machen – ein kulturelles Äquivalent also zum Anliegen der italienischen Politik, die Schulden der Staaten im Euro-Raum auf alle beteiligten Nationen umzulegen.
Wenn man, wenn auch auf dermaßen komplizierten Wegen, die europäischen Kollegenstaaten bitten muss, des gemeinsamen Erbes wegen zum Unterhalt der „beni culturali“ beizutragen, ist das zwar schon wieder ein Armutszeugnis. Aber wer weiß: Es mag ja sein, dass eines Tages ganz Europa auf die Idee verfallen muss, die Kultur als Vermögensfrage zu behandeln.