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Friedhof der Kuscheltiere

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Morgens liegt der Strand von Rantum da wie ein frisch gemachtes Bett, frisch und unberührt, die Nordsee braust, die Möwen rufen einander, es riecht nach Freiheit. Jasmin Lemcke geht jeden Tag mit ihrem Hund ans Meer, seit Generationen wohnt ihre Familie auf der Insel, als echte Sylterin gehört sie zu einer bedrohten Art. Nur genießen kann sie die Idylle inzwischen kaum noch. Ihr Blick wandert jeden Morgen über den Sand, halb bang, halb zornig. Sie hält Ausschau, ob wieder eine Blutlache hinzugekommen ist.



Tierquälerei? Allein im Januar wurden laut offizieller Statistik auf Sylt 130 Robben getötet. Die Tiere waren todkrank, sagen die Robbenjäger - sie würden der Natur nur vorgreifen.

Acht Mal musste sie das schon mit anschauen, sagt sie: Ein junger Seehund liegt im Sand, für Lemcke sieht er „total gesund“ aus, da braust von hinten ein dunkler Pick-up heran. Ein Mann steigt aus, sein Blick ist ernst. Was dann passiert, beschreibt Lemcke so: „Der läuft einmal um diesen Seehund rum und schießt ihn ab, das dauert keine zwei Minuten.“ Eine Blutlache versickert im Sand, noch eine. „Die knallen hier ohne Ende.“ 130 Tiere starben so allein im Januar, laut offizieller Statistik. Ein Frevel?

Derzeit schwappt der Ärger der Tierschützer über die Insel wie eine Sturmflut. Jasmin Lemcke und ihre Mitstreiter sammeln Beweise für das nach ihrer Meinung unglaubliche Verhalten der Robbenjäger. Einige Insulaner, so erzählt man sich, laufen morgens sogar die Strände ab und scheuchen Robben zurück ins Wasser. Dann gibt es noch die Online-Petition: Mehr als 5000 Menschen fordern „mit großem Entsetzen“ den Umweltminister von Schleswig-Holstein auf, das Treiben der Robbenjäger zu beenden. Doch der Minister denkt nicht daran. Im Gegenteil, er verteidigt die Robbenjäger.

Die Männer, die gerade so verachtet werden, tragen festes Schuhwerk und dicke Pullover, sie treffen sich mit dem Reporter am Lister Hafen, oben im Norden der Insel, im Freien. Sie sind wetterfest und sturmerprobt. Das müssen sie auch sein, wenn sie als Seehundjäger im staatlichen Auftrag arbeiten, wenn sie für eine Aufwandsentschädigung von 45 Euro genau jene Tiere töten, die nebenan im Hafenladen als Kuschelrobbe „Robby“ verkauft werden.

„Erlegen!“, ruft Claus Dethlefs. Er tötet die Robben nicht, schon gar nicht knallt er sie ab, nein, er erlegt sie mit einem Fangschuss aus der Pistole. Darauf legt er wert. Dethlefs ist Seenotretter in List; weil sein Vater Seehundjäger war, ist er auch einer geworden, ehrenamtlich. Er gibt gern Auskunft, er will einiges klarstellen.

Früher, sagt Dethlefs, als die Robben noch wirklich gejagt werden durften, ging das so: Der Jäger watete mit seinem Jagdgast raus auf die Sandbank, er legte sich nieder. Der Jäger machte Seehund-Laute nach, ouh, ouh, und wenn ein Tier mit mindestens einer Körperlänge an Land war, durfte er schießen. Neun Tiere im Jahr pro Jäger. Seit 1974 ist das verboten, damals gab es kaum noch Seehunde im Wattenmeer, es sah düster aus. Seither unterliegen Robben einer ganzjährigen Schonzeit, aber auch weiterhin dem Jagdrecht. Deswegen gibt es Seehundjäger bis heute, sie arbeiten inzwischen als Jagdaufseher, fahren die Strände ab, bergen tote Tiere, schicken lebendige in die Pflegestation Friedrichskoog und erlegen die kranken, die keine Überlebenschance mehr haben. „Es ist unser Auftrag, die Tiere von ihren Leiden zu erlösen“, sagt Dethlefs.

Er kann den tödlichen Kreislauf erklären, in den viele Robben geraten, sobald ihre Mutter sie nicht mehr stillt. Dann fressen sie Fisch und infizieren sich mit Parasiten. Manche verkraften das, andere nicht. Sie werden schwächer, erbeuten weniger Nahrung, verlieren ihre Fettschicht, frieren, bekommen eine Lungenentzündung und werden todkrank. Ein gutes Drittel aller Seehunde überlebt das erste Jahr nicht. Und weil es dieses Jahr so viele Jungtiere gibt wie seit den 70er-Jahren nicht, sterben eben mehr. „Wir greifen der Natur im Grunde nur vor“, sagt Dethlefs. Mehr nicht.

„Das hier ist mal ein Bild von ’ner Lunge“, sagt Thomas Diedrichsen, der zweite Jäger auf Sylt. Er zeigt ein Foto, das an Spaghetti mit Tomatensoße erinnert. Was aussieht wie Soße, ist eine von Tierärzten geöffnete Lunge, die Spaghetti sind Lungenwürmer. Es ist kein schöner Anblick, Dietrichsen weiß das. Er will zeigen, dass es Tierquälerei wäre, würde er die kranken Tiere nicht erlösen. Er neigt nicht zu Romantik, auch nicht zu Diplomatie. Er nennt Kritiker, die sich morgens am Strand über ihn aufregen, „Hundetanten“.

Einmal, sagt Diedrichsen, habe ihn so eine „Hundetante“ sogar angezeigt, eine Touristin. Sie sah, wie er einen Seehund vom Strand sammelte und wegfuhr, sie verlangte, er müsse das Tier einem Tierarzt vorstellen. Diedrichsen dachte nicht daran. Bald darauf rief ihr Anwalt an und verklagte ihn wegen „Tötung eines Wirbeltiers“. Diedrichsen lacht bitter. So seien sie halt, die „Hundetanten“.

Das Tier wurde seziert. Ursula Siebert von der Tierärztlichen Hochschule Hannover bekommt jede Robbe zu sehen, die von den 40 Seehundjägern in Schleswig-Holstein geschossen wird. Jede Fünfte etwa untersucht sie. „Ich bin immer wieder beeindruckt, wie gut die Jäger die klinische Einschätzung machen“, sagt die Professorin. Dass künftig allein Tierärzte über den Tod der Robben entscheiden sollen, von derlei Forderungen hält sie nichts. „Das ist in der Praxis nicht sehr realistisch und auch nicht sinnvoll.“ Denn die Jäger wie Dethlefs und Diedrichsen würden fast täglich Robben sehen, während viele Tierärzte nicht auf maritime Säuger spezialisiert seien. Auch Robert Habeck, der grüne Umweltminister, verteidigt die Jäger: „Der Nationalpark Wattenmeer ist ein Raum, wo Natur Natur sein soll.“ Man könne nicht jedes schwerkranke Tier aufpäppeln.

Also geht alles so weiter? Eine Änderung fände Claus Dethlefs dann doch ganz sinnvoll. Der Titel „Seehundjäger“, den sie aus Tradition all die Jahre behielten, soll einem sanfteren weichen. Ein wenig Imagepflege tut schon Not.

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