Ein schwankendes Deck unter den Füßen, Wind im Haar, der Geruch von Elbwasser und Fischbrötchen in der Nase. Das ist Glück für Maike Brunk. Das Glück, an das sie nicht mehr geglaubt hatte. Sie war Mitte dreißig, als sie erfuhr, dass sich ihr Kinderwunsch niemals erfüllen würde. Als sie ihren Job verlor. Als ihr Mann sie verließ. „Mein ganzes Leben lag in Scherben“, sagt die 42-Jährige heute. Damals habe sie aufgehört zu träumen.
Maike Brunk hat es geschafft, eine sehr schwierige Lebensphase zu bewältigen. Dazu gehört unheimlich viel Kraft - für die 42-Jährige haben sich die Veränderungen gelohnt.
Sie schüttelt den Kopf, runzelt die Stirn und seufzt, wenn sie heute schildert, wie ihr Leben nach und nach an Sinn verlor. Und manchmal schmunzelt sie. „Es ist, als wäre ich ein anderer Mensch gewesen.“ Blauer Blazer, manikürte Hände, glattgeföhntes Haar – so erzählt sie in ihrer Hamburger Wohnung von ihrem Tiefpunkt. Durch die blitzsauberen Fensterscheiben fällt Morgensonne. Die Wände sind frisch gestrichen, auf dem Küchentisch duften gelbe Frühlingsblumen.
Der Kummer kroch unbemerkt an ihrem ersten Arbeitstag in ihr Leben. Sie hatte Wirtschaftsökonomie studiert. Weniger, weil ihr das Fach lag, sondern vor allem wegen der Stadt, in der sie mit ihrem Freund leben wollte. Nach dem Abschluss heirateten die beiden, Maike Brunk bekam sofort eine Stelle. Das Gehalt war so gut, dass sie keinen Moment lang zögerte. „Danach habe ich Software verkauft. Meist am Telefon, da hört man hundertmal am Tag: nein“, erzählt sie. Hörer abheben. Verkaufsgespräch. Ergebnis in eine Exceltabelle. „Ein Vergnügen war das nie.“ Aber sie war voller Tatendrang, die Zielvorgaben ihres Chefs erreichte sie leicht. Drei Jahre lang lief das gut. „Wie schlecht es mir damit ging, habe ich erst bemerkt, als es auch zu Hause schwierig wurde.“
Schwierig wurde es, als ihr ein Arzt sagte, dass sie niemals ein Kind bekommen könne. Und als sie herausfand, dass ihr Mann seit Jahren eine andere Frau hatte, für die er sie schließlich verließ. Zu Hause also: Streit, Trennung, Scheidung. Und im Büro: Hörer abheben. Verkaufsgespräch. Ergebnis in eine Exceltabelle. „Reiß dich zusammen“, rieten ihr Eltern und Freunde. Also riss sie sich zusammen.
Sie wechselte in eine andere Firma und ertelefonierte Auftrag um Auftrag. Lernte einen smarten Studenten kennen, heiratete schnell und verlor ihn wieder, als er für seinen ersten Job die Stadt wechselte. Ob sie denn nicht mit ihm umziehen wollte? Brunk schüttelt den Kopf. „Mir fehlte die Kraft für solche Entscheidungen. Ich habe mich einfach nur leer gefühlt.“
Ein Anruf bei Hans-Arved Willberg, Theologe aus Karlsruhe. Er bildet Seelsorger aus und berät Menschen in Lebenskrisen. Er kennt viele Fälle, in denen die Partnerschaft an beruflichen Problemen zerbricht – und anders herum. „In Krisen muss man sich Beruf und Privatleben wie zwei Hütten vorstellen. Wenn eine brennt, fängt oft auch die zweite Feuer.“
Maike Brunk stand damals vor zwei verkohlten Ruinen. An einem kalten Frühlingsmorgen fuhr sie nach Berlin und klingelte an der Bürotür von Uta Glaubitz. Die Berufsberaterin ist spezialisiert auf Menschen, die trotz Karriere ihren Job wechseln wollen. „Es ist unfassbar, wie viele Menschen von ihrer Arbeit zermürbt werden“, sagt sie. Besonders riskant seien klassische BWL-Schreibtischjobs: „In diesen Berufen hat man kein fertiges Ergebnis. Keine Torte, wie Konditoren. Keine Kinder mit Lernerfolgen, wie Lehrer. Das macht tendenziell unglücklich.“ Für die Berufsfindung stellt Glaubitz Fragen wie „Welche Dinge tust du an einem perfekten Tag?“ oder „Wofür stehst du morgens gerne auf?“ Wie die meisten landete Brunk so bei einem Beruf, der sie weit weg vom Schreibtisch führt. Ihr vages Ziel: die Tourismusbranche.
Dann fuhr sie zurück nach Hamburg und saß wieder vor Tabellen. „Meist können die Leute ihre Situation nicht sofort umkrempeln“, sagt Glaubitz. „Oft müssen sie sich zuerst selbst wieder aufbauen. Ein Jobwechsel ist ein Sprung ins Ungewisse, der viel Mut kostet.“
Maike Brunks Eltern und Freunde waren skeptisch. „Du hast doch einen tollen Beruf“, hörte sie immer wieder. Also: zusammenreißen. Auch als eines Tages im Büro ihr Herz plötzlich begann, wie verrückt gegen die Rippen zu hämmern. Sie hatte den Telefonhörer gerade aufgelegt, da zog sich der Brustkorb wie ein Fischernetz zusammen. „Ich konnte kaum noch atmen und habe wie verrückt geschwitzt.“
Die Panikattacken kamen immer wieder, immer häufiger, immer stärker. Sie funktionierte nicht – diesen Gedanken zwang ihr der schlotternde Körper mit aller Gewalt auf. Nicht als Frau, nicht als Mutter, nicht als Angestellte. „Das Gefühl, in allen Bereichen zu versagen, war nicht mehr abzuschütteln.“ Nachts lag sie wach, zitterte und ärgerte sich über ihre Tränen. Ihre Ärztin maß Blutdruck und Herzfrequenz und verschrieb Medikamente gegen die Wirkung von Stresshormonen.
Von da an, sagt Maike Brunk, lag sie nur noch auf der Couch. Sie erinnert sich an die Zeit wie an einen grobkörnigen Film. Sehr weit weg, sehr düster. „Meine Seele hat jede Sekunde geschmerzt, ich habe mich so überflüssig gefühlt.“ Hundertachtzig dunkle Tage lang ging sie nur noch für die Arbeit vor die Tür. „Wer mich damals gesehen hat, war entsetzt. Ich habe mich gehen lassen, ständig geheult und wollte nur noch allein sein.“ Sie stand gerade im Büro mit einem Kollegen über eine Präsentation gebeugt, als ihr Chef sie zu sich rief und ihr eine Kündigung überreichte. „Das hat mir den Rest gegeben“, sagt sie, sehr leise.
Das Telefon im Arbeitszimmer klingelt. Maike Brunk springt auf, Hollywoodlächeln. In dem mit Leuchtturmbildern tapezierten Büro nebenan moinmoint sie in den Hörer und plant mit dem Kunden am anderen Ende der Leitung eine Bootstour. Manche Menschen kommen nach Lebenskrisen selbst wieder auf die Beine, andere brauchen Hilfe. Seelsorger Willberg zufolge entstehen die gefährlichen Situationen, wenn das Gehirn mehrere Erfahrungen zugleich nicht verarbeiten kann. „Trennung, Jobverlust, ein geplatzter Kinderwunsch. Aus neuropsychologischer Sicht entsteht durch solche Dinge so etwas wie ein Verkehrskollaps im Gehirn.“ Manchmal genüge es, sich Zeit zum Verarbeiten zu nehmen. Manchmal aber, wenn die Krise in Depression oder Burn-out kippt, sei Hilfe nötig. Brunk erinnert sich genau an den Tag, an dem sie selbst begann, ihr Leben neu zusammenzusetzen.
Morgens stürzte sie in der Dusche, dann quälte sie sich erst abends aus dem Bett, für die Weihnachtsfeier ihrer Firma in einem Hamburger Hafenlokal. Dort riss sie sich nicht mehr zusammen. Leerte ein Glas nach dem anderen, saß irgendwann mit einem alten Seefahrer an der Bar und breitete vor ihm ihren Kummer aus. Die Kneipe schwankte und verschwamm, der bärtige Kapitän hob sein Schnapsglas. „Jemanden, der Elbtouren für Hamburger anbietet, bräuchten wir hier. Nicht so ein Touristenzeug. Anständige Führungen.“ Sie habe in dem Moment gelacht, sagt sie. „Das war ja buchstäblich eine Schnapsidee.“ Aber zu Hause fiel ihr Blick auf ein silbergerahmtes Bild ihres Großvaters im Regal. Ein Reiseleiter vor einem Bus. Anzug, Krawatte, graues Haar, großes Lächeln. Eine ihrer ersten Kindheitserinnerungen ist, wie er quirlig-bunte Touristengruppen dirigiert. In dieser verrückten Nacht, sagt sie, hätten sich der Großvater und der alte Seemann in ihrem Kopf zu einem so stimmigen Bild zusammengefügt, dass sie wusste, was sie wollte.
Maike Brunk steigt langsam die Stufen im Treppenhaus hinunter. Die frisch operierte Bauchdecke zieht. Vor ein paar Tagen haben Ärzte ihre Gebärmutter entnommen. „Mir war ja eigentlich längst klar, dass ich keine Kinder bekommen kann. Es hat sich trotzdem beklemmend endgültig angefühlt. Vor ein paar Jahren hätte ich das nicht verkraftet.“ Heute ist sie eine der wenigen Frauen, die im Hamburger Hafen arbeiten. Sie bietet maßgeschneiderte Bootstouren an, für Menschen, die mehr sehen wollen als auf den traditionellen Touristenrouten. Sie chartert Schiffe, die ohnehin im Wasser liegen, und koordiniert die Fahrten in ihrem Arbeitszimmer zu Hause. Dafür war kaum Startkapital notwendig – aber sehr viel Kraft. Für Behördengänge, für blöde Sprüche alteingesessener Kapitäne, für die Zweifel ihrer Familie und Freunde.
Maike Brunk aber ließ sich nicht beirren, auch wenn sie sich ab und an fragte, ob es nicht vernünftiger wäre, in den IT-Job zurückzukehren. Als anfangs wenig Aufträge kamen, als der erste Winter ihre Ersparnisse schmelzen ließ. Auch ihre zweite verkohlte Hütte hat Brunk wieder aufgebaut. „Ich habe mir immer einen Partner gewünscht, der größer ist als ich.“ Sie lacht und reckt den fast 1,90 Meter großen Körper hinter dem Lenkrad. Kurz nachdem sie sich auf einer Singleplattform für große Leute angemeldet hatte, lernte sie dort Frank kennen. Sehr groß, sehr lebenslustig, zwei Söhne, die mittlerweile ein eigenes Zimmer in der gemeinsamen Wohnung haben.
Ihr Leben ist jetzt anders, sie kennt ihre Grenzen und Ziele. Sie parkt das Auto an den Landungsbrücken und läuft zu der roten Barkasse, auf der sie heute einer Reisegruppe die Stadt vom Wasser aus zeigen wird. Die Flut kommt, die Elbe wirbelt graugrün um den Bug, über den Himmel jagen Wolkenfetzen. Die Operation ist völlig vergessen, Maike Brunk springt mit einem großen Satz an Bord.
Maike Brunk hat es geschafft, eine sehr schwierige Lebensphase zu bewältigen. Dazu gehört unheimlich viel Kraft - für die 42-Jährige haben sich die Veränderungen gelohnt.
Sie schüttelt den Kopf, runzelt die Stirn und seufzt, wenn sie heute schildert, wie ihr Leben nach und nach an Sinn verlor. Und manchmal schmunzelt sie. „Es ist, als wäre ich ein anderer Mensch gewesen.“ Blauer Blazer, manikürte Hände, glattgeföhntes Haar – so erzählt sie in ihrer Hamburger Wohnung von ihrem Tiefpunkt. Durch die blitzsauberen Fensterscheiben fällt Morgensonne. Die Wände sind frisch gestrichen, auf dem Küchentisch duften gelbe Frühlingsblumen.
Der Kummer kroch unbemerkt an ihrem ersten Arbeitstag in ihr Leben. Sie hatte Wirtschaftsökonomie studiert. Weniger, weil ihr das Fach lag, sondern vor allem wegen der Stadt, in der sie mit ihrem Freund leben wollte. Nach dem Abschluss heirateten die beiden, Maike Brunk bekam sofort eine Stelle. Das Gehalt war so gut, dass sie keinen Moment lang zögerte. „Danach habe ich Software verkauft. Meist am Telefon, da hört man hundertmal am Tag: nein“, erzählt sie. Hörer abheben. Verkaufsgespräch. Ergebnis in eine Exceltabelle. „Ein Vergnügen war das nie.“ Aber sie war voller Tatendrang, die Zielvorgaben ihres Chefs erreichte sie leicht. Drei Jahre lang lief das gut. „Wie schlecht es mir damit ging, habe ich erst bemerkt, als es auch zu Hause schwierig wurde.“
Schwierig wurde es, als ihr ein Arzt sagte, dass sie niemals ein Kind bekommen könne. Und als sie herausfand, dass ihr Mann seit Jahren eine andere Frau hatte, für die er sie schließlich verließ. Zu Hause also: Streit, Trennung, Scheidung. Und im Büro: Hörer abheben. Verkaufsgespräch. Ergebnis in eine Exceltabelle. „Reiß dich zusammen“, rieten ihr Eltern und Freunde. Also riss sie sich zusammen.
Sie wechselte in eine andere Firma und ertelefonierte Auftrag um Auftrag. Lernte einen smarten Studenten kennen, heiratete schnell und verlor ihn wieder, als er für seinen ersten Job die Stadt wechselte. Ob sie denn nicht mit ihm umziehen wollte? Brunk schüttelt den Kopf. „Mir fehlte die Kraft für solche Entscheidungen. Ich habe mich einfach nur leer gefühlt.“
Ein Anruf bei Hans-Arved Willberg, Theologe aus Karlsruhe. Er bildet Seelsorger aus und berät Menschen in Lebenskrisen. Er kennt viele Fälle, in denen die Partnerschaft an beruflichen Problemen zerbricht – und anders herum. „In Krisen muss man sich Beruf und Privatleben wie zwei Hütten vorstellen. Wenn eine brennt, fängt oft auch die zweite Feuer.“
Maike Brunk stand damals vor zwei verkohlten Ruinen. An einem kalten Frühlingsmorgen fuhr sie nach Berlin und klingelte an der Bürotür von Uta Glaubitz. Die Berufsberaterin ist spezialisiert auf Menschen, die trotz Karriere ihren Job wechseln wollen. „Es ist unfassbar, wie viele Menschen von ihrer Arbeit zermürbt werden“, sagt sie. Besonders riskant seien klassische BWL-Schreibtischjobs: „In diesen Berufen hat man kein fertiges Ergebnis. Keine Torte, wie Konditoren. Keine Kinder mit Lernerfolgen, wie Lehrer. Das macht tendenziell unglücklich.“ Für die Berufsfindung stellt Glaubitz Fragen wie „Welche Dinge tust du an einem perfekten Tag?“ oder „Wofür stehst du morgens gerne auf?“ Wie die meisten landete Brunk so bei einem Beruf, der sie weit weg vom Schreibtisch führt. Ihr vages Ziel: die Tourismusbranche.
Dann fuhr sie zurück nach Hamburg und saß wieder vor Tabellen. „Meist können die Leute ihre Situation nicht sofort umkrempeln“, sagt Glaubitz. „Oft müssen sie sich zuerst selbst wieder aufbauen. Ein Jobwechsel ist ein Sprung ins Ungewisse, der viel Mut kostet.“
Maike Brunks Eltern und Freunde waren skeptisch. „Du hast doch einen tollen Beruf“, hörte sie immer wieder. Also: zusammenreißen. Auch als eines Tages im Büro ihr Herz plötzlich begann, wie verrückt gegen die Rippen zu hämmern. Sie hatte den Telefonhörer gerade aufgelegt, da zog sich der Brustkorb wie ein Fischernetz zusammen. „Ich konnte kaum noch atmen und habe wie verrückt geschwitzt.“
Die Panikattacken kamen immer wieder, immer häufiger, immer stärker. Sie funktionierte nicht – diesen Gedanken zwang ihr der schlotternde Körper mit aller Gewalt auf. Nicht als Frau, nicht als Mutter, nicht als Angestellte. „Das Gefühl, in allen Bereichen zu versagen, war nicht mehr abzuschütteln.“ Nachts lag sie wach, zitterte und ärgerte sich über ihre Tränen. Ihre Ärztin maß Blutdruck und Herzfrequenz und verschrieb Medikamente gegen die Wirkung von Stresshormonen.
Von da an, sagt Maike Brunk, lag sie nur noch auf der Couch. Sie erinnert sich an die Zeit wie an einen grobkörnigen Film. Sehr weit weg, sehr düster. „Meine Seele hat jede Sekunde geschmerzt, ich habe mich so überflüssig gefühlt.“ Hundertachtzig dunkle Tage lang ging sie nur noch für die Arbeit vor die Tür. „Wer mich damals gesehen hat, war entsetzt. Ich habe mich gehen lassen, ständig geheult und wollte nur noch allein sein.“ Sie stand gerade im Büro mit einem Kollegen über eine Präsentation gebeugt, als ihr Chef sie zu sich rief und ihr eine Kündigung überreichte. „Das hat mir den Rest gegeben“, sagt sie, sehr leise.
Das Telefon im Arbeitszimmer klingelt. Maike Brunk springt auf, Hollywoodlächeln. In dem mit Leuchtturmbildern tapezierten Büro nebenan moinmoint sie in den Hörer und plant mit dem Kunden am anderen Ende der Leitung eine Bootstour. Manche Menschen kommen nach Lebenskrisen selbst wieder auf die Beine, andere brauchen Hilfe. Seelsorger Willberg zufolge entstehen die gefährlichen Situationen, wenn das Gehirn mehrere Erfahrungen zugleich nicht verarbeiten kann. „Trennung, Jobverlust, ein geplatzter Kinderwunsch. Aus neuropsychologischer Sicht entsteht durch solche Dinge so etwas wie ein Verkehrskollaps im Gehirn.“ Manchmal genüge es, sich Zeit zum Verarbeiten zu nehmen. Manchmal aber, wenn die Krise in Depression oder Burn-out kippt, sei Hilfe nötig. Brunk erinnert sich genau an den Tag, an dem sie selbst begann, ihr Leben neu zusammenzusetzen.
Morgens stürzte sie in der Dusche, dann quälte sie sich erst abends aus dem Bett, für die Weihnachtsfeier ihrer Firma in einem Hamburger Hafenlokal. Dort riss sie sich nicht mehr zusammen. Leerte ein Glas nach dem anderen, saß irgendwann mit einem alten Seefahrer an der Bar und breitete vor ihm ihren Kummer aus. Die Kneipe schwankte und verschwamm, der bärtige Kapitän hob sein Schnapsglas. „Jemanden, der Elbtouren für Hamburger anbietet, bräuchten wir hier. Nicht so ein Touristenzeug. Anständige Führungen.“ Sie habe in dem Moment gelacht, sagt sie. „Das war ja buchstäblich eine Schnapsidee.“ Aber zu Hause fiel ihr Blick auf ein silbergerahmtes Bild ihres Großvaters im Regal. Ein Reiseleiter vor einem Bus. Anzug, Krawatte, graues Haar, großes Lächeln. Eine ihrer ersten Kindheitserinnerungen ist, wie er quirlig-bunte Touristengruppen dirigiert. In dieser verrückten Nacht, sagt sie, hätten sich der Großvater und der alte Seemann in ihrem Kopf zu einem so stimmigen Bild zusammengefügt, dass sie wusste, was sie wollte.
Maike Brunk steigt langsam die Stufen im Treppenhaus hinunter. Die frisch operierte Bauchdecke zieht. Vor ein paar Tagen haben Ärzte ihre Gebärmutter entnommen. „Mir war ja eigentlich längst klar, dass ich keine Kinder bekommen kann. Es hat sich trotzdem beklemmend endgültig angefühlt. Vor ein paar Jahren hätte ich das nicht verkraftet.“ Heute ist sie eine der wenigen Frauen, die im Hamburger Hafen arbeiten. Sie bietet maßgeschneiderte Bootstouren an, für Menschen, die mehr sehen wollen als auf den traditionellen Touristenrouten. Sie chartert Schiffe, die ohnehin im Wasser liegen, und koordiniert die Fahrten in ihrem Arbeitszimmer zu Hause. Dafür war kaum Startkapital notwendig – aber sehr viel Kraft. Für Behördengänge, für blöde Sprüche alteingesessener Kapitäne, für die Zweifel ihrer Familie und Freunde.
Maike Brunk aber ließ sich nicht beirren, auch wenn sie sich ab und an fragte, ob es nicht vernünftiger wäre, in den IT-Job zurückzukehren. Als anfangs wenig Aufträge kamen, als der erste Winter ihre Ersparnisse schmelzen ließ. Auch ihre zweite verkohlte Hütte hat Brunk wieder aufgebaut. „Ich habe mir immer einen Partner gewünscht, der größer ist als ich.“ Sie lacht und reckt den fast 1,90 Meter großen Körper hinter dem Lenkrad. Kurz nachdem sie sich auf einer Singleplattform für große Leute angemeldet hatte, lernte sie dort Frank kennen. Sehr groß, sehr lebenslustig, zwei Söhne, die mittlerweile ein eigenes Zimmer in der gemeinsamen Wohnung haben.
Ihr Leben ist jetzt anders, sie kennt ihre Grenzen und Ziele. Sie parkt das Auto an den Landungsbrücken und läuft zu der roten Barkasse, auf der sie heute einer Reisegruppe die Stadt vom Wasser aus zeigen wird. Die Flut kommt, die Elbe wirbelt graugrün um den Bug, über den Himmel jagen Wolkenfetzen. Die Operation ist völlig vergessen, Maike Brunk springt mit einem großen Satz an Bord.