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„Das kann sehr kränkend sein“

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Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung, die Inklusion, wird die Schulen verändern. Umstritten ist wie stark. Derzeit entzündet sich die Kontroverse an Henri, einem Grundschüler mit Downsyndrom, den seine Eltern auf ein Gymnasium in Baden-Württemberg schicken wollen – obwohl er kein Abitur anstrebt. Das hat die Schule abgelehnt, ebenso die benachbarte Realschule. Und das Ministerium hält das für zulässig. Die Eltern und 25000 Unterstützer im Internet fordern ein Recht Henris aufs Gymnasium. Josef Kraus ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Direktor eines Gymnasiums.



Wie gut klappt der gemeinsame Unterricht? Ein Mädchen mit Downsyndrom in der regulären Klasse eines niedersächsischen Gymnasiums.

SZ: Würden Sie Henri auf das Gymnasium gehen lassen?
Josef Kraus: Man muss sich die Motive der Eltern näher ansehen. Spielt hier elterlicher Ehrgeiz eine Rolle, will man ein politisches Zeichen setzen oder steht das Kindeswohl im Zentrum? Da es eigentlich nur um das Wohl des Kindes gehen kann, würde ich ihn nicht aufs Gymnasium lassen. Das hilft dem Kind nicht.

Henri könnte weiterhin mit seinen Freunden aus der Grundschule lernen.
Wir erleben jedes Jahr an Tausenden Schulen, dass schnell neue Freundschaften geschlossen werden, etwa wenn Kinder die Schule oder die Klasse wechseln. Junge Menschen, auch Kinder wie Henri, sind da sehr offen. Es ist auch eine Bereicherung, mit neuen Menschen zu tun zu haben.

Was erwarten Sie, wenn ein Schüler mit Downsyndrom wie Henri doch auf das Gymnasium geht?
Meine Sorge ist, dass er täglich Enttäuschungen erlebt. Seine Mitschüler werden mit der Situation wohl sensibel und angemessen umgehen. Aber er wird bald spüren, dass er nicht das leisten und in den Unterricht einbringen kann, was die anderen einbringen. Er wird frustriert werden, weil er nicht in der Lage ist mitzuhalten. Selbst wenn man schulrechtlich die Möglichkeiten findet, bei ihm auf Noten zu verzichten, wird er feststellen: Er wird nach anderen Maßstäben gemessen als die anderen. Das ist eine Niederlage für ihn. Das kann sehr kränkend sein.

Ist das nicht eine Frage des Unterrichts, wie dieser gestaltet ist, wie man ein Kind mit Behinderung fördert?
Der Glaube, im Unterricht einer ganz großen Bandbreite an Schülerbegabungen gerecht zu werden, ist eine Utopie. Sie entspringt einem totalen Machbarkeitsdenken. Es gibt Voraussetzungen, die Schüler mitbringen oder eben nicht mitbringen. Das Gymnasium soll zur allgemeinen Hochschulreife führen. Wenn dieses Ziel ganz offensichtlich nicht erreichbar ist, dann ist es schädlich, wenn man ein Kind in diesen Weg hineinboxt.

Ziehen Sie da die Grenzen der Inklusion: Auch ein Kind mit Behinderung muss die Leistung für die Schulart bringen?
Das Kind muss für einen bestimmten Bildungsgang wie das Gymnasium geeignet sein. Es hat seinen Sinn, dass unterschiedliche Schulformen mit unterschiedlichen Bildungszielen sich an unterschiedliche Begabungen richten. Das Eignungs- und Gesamturteil der Grundschule sagt dazu über die Noten hinaus viel aus. Wie steht es um die Auffassungsgabe des Kindes, persönliche Stärken, sein Arbeitsverhalten? Die Empfehlungen sollen den Kindern Frust ersparen. Wenn Gymnasien Schüler aus dem gesamten Leistungsspektrum aufnehmen, ist der gymnasiale Bildungsanspruch nicht mehr bei allen realisierbar.

Wer bleibt dann übrig für die Inklusion?
Jeder, der für den Bildungsweg geeignet ist, das sind oft auch Kinder mit motorischen oder sensorischen Einschränkungen. Wenn man diese Einschränkungen durch technische Mittel oder Umbauten kompensieren kann, sehe ich kein Hindernis, jemanden in die Regelschule aufzunehmen. Ein Beispiel: Ein Kind mit Multipler Sklerose, das im Rollstuhl sitzt, kann eine Schule besuchen, wenn es dort Treppenlifte gibt und Räume ausgewählt werden, die für Gehbehinderte zugänglich sind.

Bislang ist nur ein geringer Teil der Schüler mit Förderbedarf in Regelschulen. Ist die Inklusion für sie dennoch ein Erfolg?
Ja, wenn wir nach Art der Behinderung unterscheiden. Mir ist die Debatte bisher zu pauschal geführt worden. Sicher schöpfen wir die Möglichkeiten noch nicht aus, Kinder mit Behinderung ins Regelschulsystem zu integrieren. Da müssen Sachaufwandsträger öfter bereit sein, etwas auszugeben für Lifte, Rampen, visuelle und akustische Hilfen und Ähnliches. Und wir brauchen in den Regelschulen natürlich professionelles Personal zur Begleitung der Inklusionskinder. Aber eine völlige Inklusion aller fast 400000 Schüler aus den Förderschulen halte ich für illusorisch. Gerade wenn es um Kinder mit geistigen Einschränkungen geht.

Sollen die dann durchs Raster fallen?
Die sind sehr gut aufgehoben in unseren erstklassigen Förderschulen, die können sich besser um sie kümmern. Ein Beispiel: Einer meiner Neffen ist ein junger Mann mit Downsyndrom, der in seiner Förderschule eine sehr individuelle Hilfe erfahren hat, in Gruppen von drei bis sechs Kindern. Er wäre heute nicht so weit, wenn er in eine Regelklasse mit 25 Kindern hineingepackt worden wäre.

Das steht im Widerspruch zur UN-Konvention über Behindertenrechte, die besagt, Menschen dürften nicht wegen ihrer Behinderung aus dem allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden – auch nicht von weiterführenden Schulen.
Die Konvention verlangt nicht die Abschaffung der Förderschulen. Auch diese zählen zum allgemeinen Schulsystem und zu den weiterführenden Schulen.

Eine aktuelle Untersuchung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen zeigt, dass Kinder mit Förderbedarf im regulären Unterricht mehr lernen als an Förderschulen. Das spricht doch gegen die Förderschulen.
Nein, weil die Studie nicht nach der Schwere der Beeinträchtigung unterscheidet, das ist eine Schwäche der Untersuchung. Was Schüler mit Einschränkungen in der Bewegung oder der Sinnesorgane angeht, ist das Ergebnis aber sicher richtig.

Was sagen Ihre Kollegen zur Inklusion?
Die Kollegen an den Förderschulen sehen ihre Arbeit durch die Debatte um die Totalinklusion entwertet, sie fühlen sich herabgesetzt, weil man ihnen indirekt unterstellt, sie hätten die Kinder nicht optimal gefördert – und dies sei in Regelschulen viel besser möglich. Die meisten sind enttäuscht und sorgen sich wegen der Blauäugigkeit, mit der manche Vorstellungen daherkommen. Viele Lehrer an den Regelschulen wiederum fühlen sich überfordert vom Unterricht mit den manchmal schwierigen Inklusionskindern. Sie halten die Inklusion nur für machbar, wenn es die besagten technischen Möglichkeiten gibt, aber auch Unterstützung durch Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Schulwegbegleiter. Und es gibt Lehrer, die die Sorge haben, dass die Inklusion versteckt genutzt wird, um Geld einzusparen, weil die Klassen in Regelschulen viel größer sind als Gruppen in Förderschulen.

Wie reagieren die anderen Kinder auf die Neuen mit Förderbedarf? Werden die akzeptiert oder gemobbt?
Kinder können brutal sein, aber auch viel Empathie aufbringen. Das klappt natürlich nicht überall. Es hängt davon ab, wie gut die Schüler vorbereitet werden auf die neue Situation, woher die Inklusionskinder kommen, wie die Sozialstruktur ist. Nach meiner Erfahrung werden diese Kinder nicht generell Zielscheibe von Mobbing. Ansonsten können die anderen Kinder vom Umgang mit Behinderten lernen.

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