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Armutszeugnis

Als im Jahr 1993 die ersten Tafeln damit anfingen, übrig gebliebene Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen, standen in den Schlangen vor der Essensausgabe vor allem Obdachlose. Eine Nothilfe sollten die Tafeln sein, eine Anlaufstelle für Menschen in Ausnahmesituationen.


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Früher standen an Essensausgaben wie dieser vor allem Obdachlose. Heute finden sich auch Studenten und Beschäftigte unter ihnen. 

Der Bundesverband Deutsche Tafel stellt zunehmend fest, dass längst nicht mehr nur Obdachlose die kostenlosen Mahlzeiten in Anspruch nehmen. „Wir beobachten schon seit längerem die Tendenz, dass neben ALG-II-Empfängern auch Menschen zu uns kommen, die Arbeit haben“, sagt Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbands. Die Jahresbilanz für 2013, die der Verband am Montag in Berlin vorgestellt hat, erhärtet diese Beobachtung: Alleinerziehende und deren Kinder, prekär Beschäftigte und Teilzeitkräfte reihen sich mit in die Schlangen ein. Neue Zahlen zu den regelmäßigen Nutzern der Tafeln wird der Bundesverband im Herbst vorlegen – im Jahr 2012 kamen 1,5 Millionen Menschen. Da die Nutzerzahlen vielerorts stärker steigen als die Lebensmittelspenden, konnten die Tafeln pro bedürftigem Empfänger oft weniger verteilen als in den Jahren zuvor.

Die Tafeln seien ein Sensor für gesellschaftliche Entwicklungen, sagt Brühl: „Wir können nichts gegen die Ursachen von Armut tun. Aber wir machen die Not sichtbar.“ Gestiegen ist nach Angabe des Bundesverbandes auch die Zahl der Asylbewerber und EU-Zuwanderer, die zu den Tafeln kommen. Ebenso trifft dies auf Studenten zu. Diese seien zwar nur für eine absehbare, begrenzte Zeit bedürftig, sagt Brühl. Doch die immer enger getakteten Studienpläne ließen kaum noch Zeit für einen Nebenjob. „Häufig kommen Studenten zu uns, die keinen Anspruch auf Bafög haben. Dennoch können ihre Eltern sie nicht unterstützen.“ Zusammen mit den steigenden Mieten in Universitätsstädten und den niedrigen Bafög-Sätzen führe das dazu, dass immer weniger junge Menschen aus wirtschaftlich und sozial benachteiligten Familien ein Studium beginnen – und Armut sich über Generationen hinweg verfestige. Schon jetzt ist jeder dritte Tafelnutzer ein Kind.

Brühl äußert sich auch zu der oft geäußerten Kritik, die Tafeln entlasteten den Staat von seiner Verantwortung und Fürsorgepflicht: „Die Politik darf sich nicht auf dem Engagement der Zivilgesellschaft ausruhen“. Die Tafeln könnten und wollten nur ein ergänzendes Angebot sein, eine Brücke zwischen Überfluss und Mangel. Die 919 Tafeln, die es in Deutschland gibt, verteilen deshalb ausschließlich übrig gebliebene Lebensmittel. Einen Zukauf von Essen aus Geldspenden – 2013 erhielt der Bundesverband 4,6 Millionen Euro – schließt der Verband in seiner Satzung aus.

Dass die soziale Spaltung zunimmt, sei noch nicht genügend im Fokus von Politik und Öffentlichkeit. Das Programm der Bundesregierung zur Armutsbekämpfung nennt Jochen Brühl „völlig verfehlt“. In einer Zeit, in der es in Deutschland so viele Millionäre gebe wie noch nie und die Steuereinnahmen Rekorde brächen, sei es unverständlich, dass jeder sechste Deutsche arm sei. „Wir erleben, dass Armut und Armutsbedrohung weiter in der Gesellschaft verbreitet sind, als die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht vermittelt.“ 

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