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Ende eines Traums

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Barcelona – Schon 120 Euro machen Clara Barzolavera jeden Monat Sorgen. So viel kostet das Essen für ihre zwei Söhne im Kindergarten. Jeden Monat hat sie Angst, die nicht zahlen zu können. „Die Kinder“, sagt die 40-jährige Frau mit den langen schwarzen Haaren und den Augenringen, „leiden am meisten unter der Situation.“ Sie streichelt ihrem zweijährigen Sohn über den Kopf. Vor einigen Jahren haben sie und ihr Mann eine Wohnung gekauft. Er hatte einen gut bezahlten Job in der Baubranche, sie ging putzen. Über 1000 Euro Rate zahlten sie monatlich für ihre 65-Quadratmeter-Wohnung in einem Randbezirk Barcelonas, bis ihr Mann vor drei Jahren seine Arbeit verlor und sie die Raten nicht mehr zahlen konnten. Wenig später lag der Räumungsbescheid im Briefkasten. „Ich hatte große Angst“, sagt sie. Damals war sie schwanger mit dem Sohn, der heute auf ihrem Schoß sitzt.



Spanien gehört zu den Ländern Europas mit der höchsten Armutsgefährdung und den größten Einkommensunterschieden.

Schicksale wie die von Clara Barzolavera gibt es Tausende in Spanien. Nach der Jahrhundertwende hatten viele von ihnen Kredite aufgenommen, die nach der Einführung des Euro günstig geworden waren. Als 2007 das Überangebot an Wohnungen deutlich wurde, als der Bauboom endete und die Immobilienblase platzte, waren viele doppelt betroffen: Sie verloren ihre Jobs in der Baubranche und konnten die Raten nicht mehr zahlen. Das spanische Recht verschärfte ihre Lage. Wenn nur eine Rate ausgefallen war, durften die Banken schon die Kreditzinsen erhöhen. Fielen mehrere Raten aus, wurden die Wohnungen zwangsgeräumt. Dabei wurden oft nur 50 Prozent des ursprünglichen Wohnungswertes auf die Schulden angerechnet. Das Rest des Darlehens blieb den ehemaligen Besitzern, aber mit erhöhten Zinsen. Über eine halbe Million Fälle gab es bis Ende 2013. In manchen Wochen nahm sich aus Verzweiflung mehr als ein Dutzend Menschen das Leben. Im ganzen Land setzt sich die Bürgerbewegung Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) für die Opfer der Zwangsräumungen ein.

In Barcelona hat die Bürgerbewegung ihren Sitz im wenig betuchten Stadtteil Encants. „Stop“ ist auf ein Metalltor in einer Seitenstraße gemalt. Das dem Verkehrszeichen nachempfundene Schild ist längst ihr Markenzeichen. An den Wänden hängen Plakate von Demonstrationen: „Mein Haus ist kein Geschäft, es ist ein Grundrecht“. Etwa 700 Räumungsfälle behandelt die PAH derzeit allein in Barcelona. Es ist ein Montagnachmittag, wie jede Woche treffen sich Betroffene, die meisten über 40 Jahre alt. Zur Begrüßung geben sich manche stumm die Hand wie bei einer Beerdigung. Andere schauen sich erst um, neugierig, skeptisch, müde.

Auch Clara Barzolavera kam vor zwei Jahren hierher, als sie nicht weiter wusste. Sie war schwanger, hatte Schwierigkeiten mit ihrem Mann und wusste, sie würde die Wohnung verlieren. „Da sagte eine Frau zu mir: Hierher kommst du nicht zum Heulen, hierher kommst du, um zu kämpfen.“ Die Organisation stellt weder Anwälte noch Geld. Sie kämpft mit Information und mit der Unterstützung durch die Gemeinschaft. Fast täglich erläutern Freiwillige den Opfern ihre Rechte. Auch an diesem Montag gehen viele Finger hoch. Ein Mann aus der ersten Reihe hat am Vortag seinen Räumungsbescheid bekommen und will wissen, was er jetzt tun muss. Von allen Seiten prasseln Ratschläge auf ihn ein. Ein Mann weiß, dass sich der Rausschmiss verzögert, wenn man Strom und Wasser weiter bezahlt. Was noch wichtiger ist als ihre Ratschläge: Die PAH-Besucher können von Erfolgen berichten. Stolz steht ein älterer Herr auf und erzählt, dass er einen Verhandlungstermin mit der Bank ergattert hat. Ein Etappensieg, viele klatschen, sichtbar erleichtert ob einer guten Nachricht.

Die PAH arbeitet mit der Macht der Gruppe. Steht irgendwo eine Räumung an, stellen sich viele Mitglieder vor die Wohnung oder die Bank, jeden Tag werden neue Termine bekanntgegeben. Ist ein Fall besonders hart, laden sie Reporter ein. „Das Einzige, was wir bei den Banken zerstören können, ist das Image“, erklärt Carlos Macías Caparrós, ein junger Mann mit Vollbart und Brille. Dem 29-Jährigen und den anderen Freiwilligen geht es um Selbsthilfe. Wer weiß, was er darf, lässt sich nicht von Formularen und Bankvokabular einschüchtern, so die Logik. Wer spürt, wie ihm die Gruppe geholfen hat, hilft anderen. Ein Experiment mit Erfolg: In einigen Provinzen setzen sich Bürgermeister gegen Zwangsräumungen ein und Urteile des Europäischen Gerichtshofes wie des Menschenrechts-Gerichtshofs bestätigten, dass einige Räumungen unrechtmäßig waren. Ein Bürgerbegehren zur Änderung der Gesetze, das 1,5 Millionen Spanier unterzeichnet hatten, ist zwar gescheitert. Doch öfter als früher akzeptieren Banken inzwischen die Wohnung als einzigen Ausgleich für den geplatzten Kredit.

Als Clara Barzolavera im Januar 2012 den Räumungsbescheid bekommt, hält auch sie sich an den Rat Betroffener. Sechsmal erscheint sie mit Dokumenten bei der Bank. Sie will erreichen, dass die Rückgabe der Wohnung für das Streichung der Kreditschulden ausreicht. „Jedes Mal wurde ich ausgelacht.“ Schließlich campieren sie, ihr Mann und andere Unterstützer vor der Bank. Drei Mal. Als sie droht, „es werde etwas Schlimmes geschehen“, ist es soweit: Im Dezember 2013 kann sie den Schlüssel übergeben. Der Kredit ist erledigt.

Ihre Odyssee ist damit aber nicht zu Ende. Mehrere Monate kommt die Familie bei einem Freund unter, zu Viert in einem Zimmer ohne Strom und Wasser. Bis der zweijährige Sohn krank wird. „Ich wollte ihn nicht zum Arzt bringen, weil ich Angst hatte, die Behörden könnten mir die Kinder nehmen.“ Ihr Mann bekommt Arbeitslosenhilfe, aber auch die wird bald auslaufen. Clara Barzolaveras Putzgehalt reicht nicht, und Unterstützung vom Amt bekommt sie nicht: „Dort hat man mir gesagt: Wäre ich auch arbeitslos, könnte man mir helfen. So nicht.“ Clara Barzolavera und ihr Mann helfen sich selbst: Im Sommer finden sie eine leere Wohnung, die einer Bank gehört. Als die Nachbarn im Urlaub sind, brechen sie die Tür auf und ziehen ein. Notwehr. Oft geht es nicht anders.

Wenn Menschen in Valencia, Madrid oder Barcelona ihr Eigentum räumen, sind sie ihre Probleme nicht los. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf. Denn obwohl über drei Millionen Wohnungen im Land leer stehen, weigern sich viele Banken, sie an Arbeitslose oder Geringverdiener zu vermieten. Noch immer stottern Spanier Kredite ab für leere Wohnungen und finden selbst keine Bleibe. Und finden sie eine, können die Eigentümer sie schnell wieder rausschmeißen. Das spanische Mietrecht ist noch strenger als das Hypothekenrecht.

Deshalb steigt die Zahl derer, die zur PAH kommen. Einige, die wegen der Räumung ihres Eigentums schon einmal hier waren, sind nun auch aus einer Mietwohnung geflogen.. „Die sind doppelt traumatisiert“, sagt Carlos Macías Caparrós. Die Initiative erkundet mittlerweile, welche leer stehenden Häuser Banken gehören, und bringt dort Wohnungslose unter; in Barcelona sind es derzeit 1180 Menschen. Danach verhandeln sie mit den Banken, um das illegale Mietverhältnis zu legalisieren und eine Sozialmiete auszuhandeln. „Die Banken wurden mit Steuergeld gerettet, also gehören die Wohnungen ohnehin den Menschen“, findet Carlos Macías Caparrós.

Auch Clara Barzolavera könnte bald wieder vor dem Berater sitzen. Gerade versucht sie, wieder einen normalen Alltag zu finden: Die Söhne gehen in die Krippe, ihr Mann sucht Arbeit. Doch sie ist nervös: Die Familie hat 1035 Euro monatlich, damit kann sie nur das Lebensnotwendige kaufen. Sie ist auf ihre neue, besetzte Wohnung angewiesen. „Wir könnten jeden Tag rausgeschmissen werden“, sagt sie. Doch voller Angst ein Jahr warten, wie beim letzten Mal, wird sie diesmal nicht. Drei Mal in der Woche geht sie zu Treffen der PAH.Gleichzeitig versucht sie, für ihre besetzte Wohnung bei der Eigentümerbank eine Sozialmiete auszuhandeln. „Erst das wäre ein echter Sieg“, sagt sie.

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