Eine Mondmission sollte es werden, eine nie da gewesene Möglichkeit für die Menschheit. Das Projekt sollte sich der „größten Herausforderung für die Wissenschaft im 21.Jahrhundert“ stellen, und am Ende womöglich gar Alzheimer heilen. Mit solchen Schwärmereien wetteiferten Hirnforscher im Jahr 2012 um einen von der EU ausgeschriebenen Fördertopf von einer Milliarde Euro. Mit Erfolg: Das Human Brain Project (HBP) wurde einer der beiden Gewinner im Rennen um die sogenannte „Flaggschiff“-Initiative der Europäischen Union.
Die Mondmission finanziert sich aus einem EU-Fördertopf von einer Milliarde Euro.
Innerhalb von zehn Jahren wollen Forscher unter der Führung des charismatischen, in Lausanne forschenden Südafrikaners Henry Markram zunächst ein komplettes Mäuse- und dann sogar ein Menschenhirn im Supercomputer simulieren. 112 Institute aus 24 Ländern sind beteiligt. Das weckte anfangs Misstrauen in Teilen der Fachwelt, und nun regt sich handfester Protest: Mehr als 450 europäische Neurowissenschaftler haben einen offenen Brief an die EU-Kommission unterschrieben. Stündlich kommen derzeit weitere Unterzeichner hinzu. „Das Projekt läuft in die völlig falsche Richtung“, sagt Protest–Initiator Zachary Mainen, Leiter des Champalimaud Neuroscience Programme in Lissabon. Das HBP sei in Wahrheit keine Grundlagenforschung, klagt er. Stattdessen gehe es um Technologieentwicklung. Sollte die EU nicht umschwenken, wollen die Forscher das Großvorhaben boykottieren.
Die Rebellion könnte das Flaggschiff tatsächlich auf Grund laufen lassen. Einige der namhaftesten Neuroforscher Europas zählen zu ihren Unterstützern. Anlass für den Aufstand ist eine im Juni angekündigte Neustrukturierung des Großvorhabens. Kognitive Neuroforschung, also die Frage, wie verschiedene Hirnregionen bei unterschiedlichen Tätigkeiten zusammenarbeiten, soll in Zukunft nicht mehr zum Kern des Projekts gehören. Wer sich im Rahmen des HBP für derartige Grundsatzfragen der Hirnforschung interessiert, muss Teile des Forschungsbudgets aus anderen Quellen einwerben.
Für Kognitionsforscher ist diese Neustrukturierung, die offenbar von der Europäischen Kommission gefordert wurde, ein Schlag ins Gesicht. 18 Labore, die ursprünglich das HBP unterstützt haben, sind betroffen. Sie fliegen in der nächsten Projektphase aus dem Focus – und müssen um ihre Etats bangen. Einige der Laborleiter haben ihre Posten im Brain Project hingeschmissen und den offenen Brief an die Europäische Kommission aufgesetzt. Unterschrieben haben zudem viele Forscher, die nicht im HBP mitwirken.
Die Flaggschiff-Ausschreibung der EU war von Anfang an umstritten. „Das lief nach dem Motto: Gebt uns eure verrücktesten Ideen – und wir geben euch eine Milliarde Euro“, sagt ein deutscher Spitzenforscher, der den Protestbrief unterschrieben hat. Das Human Brain Project mit der Idee, eine Art digitale Kopie des Denkorgans zu bauen, stand von Anfang an in der Kritik. Renommierte Neurowissenschaftler bezweifeln, dass es mit dem heutigen Kenntnisstand gelingen kann.
Das Bernstein-Netzwerk etwa, das die computerbasierte Neurowissenschaft in Deutschland anführt, ist nach anfänglichen Verhandlungen mit dem HBP auf Abstand gegangen. „In unserem Netzwerk sind viele Physiker, die sehr viel Erfahrung mit Modellierungen haben“, sagt Stefan Rotter von der Universität Freiburg. Diese seien zu dem Urteil gekommen, das Vorhaben sei zum Scheitern verurteilt. „Es ist der falsche Zeitpunkt für so ein Projekt“, sagt Rotter. Andere Kritiker fühlen sich schlicht betrogen: „Wir merken nun, dass es beim Human Brain Project um Technologieentwicklung geht, und nicht darum, das Gehirn zu verstehen“, sagt ein Unterzeichner des Briefs.
Auch Zachary Mainen, Initiator des Protests, sagt: „Indem sie die kognitive Neuroforschung rausgeworfen haben, setzen sie ein Signal.“ Stattdessen sollte man sich lieber an der amerikanischen Milliardeninitiative „Brain“ orientieren. Diese wurde von Präsident Obama als Reaktion auf das europäische Flaggschiff gestartet, soll sich aber zunächst damit befassen, mehr Daten über das Gehirn zu sammeln, statt es digital nachzubauen.
Es sei zu früh, Schlussfolgerungen über Gelingen oder Scheitern des Projekts zu ziehen, entgegnet hingegen die Europäische Kommission. Auch bei Funktionären des Human Brain Projects stößt die Kritik auf Unverständnis. Viele Unterzeichner des Protestbriefs würden das Projekt gar nicht im Detail kennen, sagt Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich, Bereichsleiterin im HBP. „Letztlich ist das HBP ein Technologieprojekt“, sagt sie. „Und das war von Anfang an klar.“
Tatsächlich kommt das Geld für die Flaggschiff-Projekte aus dem EU-Fördertopf für Informations- und Kommunikations-Technologie. Die EU hat als Ziel die Entwicklung mehrerer neuartiger Technologien vorgegeben. Die meisten haben nur indirekt etwas mit der Simulation des Gehirns zu tun: Eine neuartige Supercomputer-Architektur soll entwickelt werden, neue Computeralgorithmen, ein innovatives Datenbanksystem für Patientenakten, an die Funktionsweise des Gehirns angelehnte Mikrochips sowie Steuerelemente für Roboter.
„Man kann das Human Brain Project mit dem Bau eines neuartigen Mikroskops vergleichen“, sagt Andreas Herz, Leiter der Computational Neuroscience an der LMU München. Herz gehört nicht zum HBP, hat aber auch den Protestbrief nicht unterzeichnet. „Der Bau des Instruments ist das Ziel, nicht die Untersuchung des Gehirns“, sagt er. Um in der Analogie zu bleiben: Solange das Mikroskop zusammengesetzt wird, schaut man zwar immer mal hindurch, um zu prüfen, ob man auf dem richtigen Weg ist – aber wirklich Neues wird man womöglich nicht beobachten.
Kein Wunder, dass viele Neuroforscher nun frustriert sind. Ihnen – und der Öffentlichkeit – wurde und wird oft suggeriert, es handele sich beim Human Brain Project um das größte neurowissenschaftliche Vorhaben aller Zeiten, ein Apollo-Projekt der Hirnforschung. Dass das mehr PR als Projektbeschreibung ist, dämmert vielen erst jetzt. Das kann man blauäugig finden. Zumal viele Neuroforscher trotz Zweifeln mit dem HBP sympathisiert haben – in der Erwartung, dass dort üppige Forschungsgelder abzuholen wären. Das wiederum dürfte durchaus Strategie der HBP-Leitung gewesen sein. Schließlich braucht das Projekt die Laborforscher, um Simulationen mit echten Daten abzugleichen. „Wir müssen jetzt mit offener Hand auf die Neuroforscher zugehen“, sagt Katrin Amunts.
Vielleicht ist es aber noch zu früh, Kognitionsforschung und Human Brain Project um jeden Preis verknüpfen zu wollen. Die klassische Hirnforschung kann sich nun nur über sogenannte Partnerprojekte in das HBP einklinken – mit Forschungsmitteln aus den einzelnen EU-Mitgliedsländern. Diese stünden sonst für unabhängige Hirnforschung bereit, sagt Andreas Herz. „Wissenschaftler sollten in keine Zwangsehe gezogen werden“, sagt er. Kooperationen würden sich automatisch ergeben, sollten sich die Instrumente des Großprojekts bewähren. Das hält Herz, obwohl er die Rebellion seiner Kollegen nachvollziehen kann, durchaus für möglich. Er sagt: „Das Human Brain Project könnte die Fragmentierung in den Neurowissenschaften überwinden, wird aber mit vollkommen überzogenen Versprechungen vermarktet. “Robert Gast
Die Mondmission finanziert sich aus einem EU-Fördertopf von einer Milliarde Euro.
Innerhalb von zehn Jahren wollen Forscher unter der Führung des charismatischen, in Lausanne forschenden Südafrikaners Henry Markram zunächst ein komplettes Mäuse- und dann sogar ein Menschenhirn im Supercomputer simulieren. 112 Institute aus 24 Ländern sind beteiligt. Das weckte anfangs Misstrauen in Teilen der Fachwelt, und nun regt sich handfester Protest: Mehr als 450 europäische Neurowissenschaftler haben einen offenen Brief an die EU-Kommission unterschrieben. Stündlich kommen derzeit weitere Unterzeichner hinzu. „Das Projekt läuft in die völlig falsche Richtung“, sagt Protest–Initiator Zachary Mainen, Leiter des Champalimaud Neuroscience Programme in Lissabon. Das HBP sei in Wahrheit keine Grundlagenforschung, klagt er. Stattdessen gehe es um Technologieentwicklung. Sollte die EU nicht umschwenken, wollen die Forscher das Großvorhaben boykottieren.
Die Rebellion könnte das Flaggschiff tatsächlich auf Grund laufen lassen. Einige der namhaftesten Neuroforscher Europas zählen zu ihren Unterstützern. Anlass für den Aufstand ist eine im Juni angekündigte Neustrukturierung des Großvorhabens. Kognitive Neuroforschung, also die Frage, wie verschiedene Hirnregionen bei unterschiedlichen Tätigkeiten zusammenarbeiten, soll in Zukunft nicht mehr zum Kern des Projekts gehören. Wer sich im Rahmen des HBP für derartige Grundsatzfragen der Hirnforschung interessiert, muss Teile des Forschungsbudgets aus anderen Quellen einwerben.
Für Kognitionsforscher ist diese Neustrukturierung, die offenbar von der Europäischen Kommission gefordert wurde, ein Schlag ins Gesicht. 18 Labore, die ursprünglich das HBP unterstützt haben, sind betroffen. Sie fliegen in der nächsten Projektphase aus dem Focus – und müssen um ihre Etats bangen. Einige der Laborleiter haben ihre Posten im Brain Project hingeschmissen und den offenen Brief an die Europäische Kommission aufgesetzt. Unterschrieben haben zudem viele Forscher, die nicht im HBP mitwirken.
Die Flaggschiff-Ausschreibung der EU war von Anfang an umstritten. „Das lief nach dem Motto: Gebt uns eure verrücktesten Ideen – und wir geben euch eine Milliarde Euro“, sagt ein deutscher Spitzenforscher, der den Protestbrief unterschrieben hat. Das Human Brain Project mit der Idee, eine Art digitale Kopie des Denkorgans zu bauen, stand von Anfang an in der Kritik. Renommierte Neurowissenschaftler bezweifeln, dass es mit dem heutigen Kenntnisstand gelingen kann.
Das Bernstein-Netzwerk etwa, das die computerbasierte Neurowissenschaft in Deutschland anführt, ist nach anfänglichen Verhandlungen mit dem HBP auf Abstand gegangen. „In unserem Netzwerk sind viele Physiker, die sehr viel Erfahrung mit Modellierungen haben“, sagt Stefan Rotter von der Universität Freiburg. Diese seien zu dem Urteil gekommen, das Vorhaben sei zum Scheitern verurteilt. „Es ist der falsche Zeitpunkt für so ein Projekt“, sagt Rotter. Andere Kritiker fühlen sich schlicht betrogen: „Wir merken nun, dass es beim Human Brain Project um Technologieentwicklung geht, und nicht darum, das Gehirn zu verstehen“, sagt ein Unterzeichner des Briefs.
Auch Zachary Mainen, Initiator des Protests, sagt: „Indem sie die kognitive Neuroforschung rausgeworfen haben, setzen sie ein Signal.“ Stattdessen sollte man sich lieber an der amerikanischen Milliardeninitiative „Brain“ orientieren. Diese wurde von Präsident Obama als Reaktion auf das europäische Flaggschiff gestartet, soll sich aber zunächst damit befassen, mehr Daten über das Gehirn zu sammeln, statt es digital nachzubauen.
Es sei zu früh, Schlussfolgerungen über Gelingen oder Scheitern des Projekts zu ziehen, entgegnet hingegen die Europäische Kommission. Auch bei Funktionären des Human Brain Projects stößt die Kritik auf Unverständnis. Viele Unterzeichner des Protestbriefs würden das Projekt gar nicht im Detail kennen, sagt Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich, Bereichsleiterin im HBP. „Letztlich ist das HBP ein Technologieprojekt“, sagt sie. „Und das war von Anfang an klar.“
Tatsächlich kommt das Geld für die Flaggschiff-Projekte aus dem EU-Fördertopf für Informations- und Kommunikations-Technologie. Die EU hat als Ziel die Entwicklung mehrerer neuartiger Technologien vorgegeben. Die meisten haben nur indirekt etwas mit der Simulation des Gehirns zu tun: Eine neuartige Supercomputer-Architektur soll entwickelt werden, neue Computeralgorithmen, ein innovatives Datenbanksystem für Patientenakten, an die Funktionsweise des Gehirns angelehnte Mikrochips sowie Steuerelemente für Roboter.
„Man kann das Human Brain Project mit dem Bau eines neuartigen Mikroskops vergleichen“, sagt Andreas Herz, Leiter der Computational Neuroscience an der LMU München. Herz gehört nicht zum HBP, hat aber auch den Protestbrief nicht unterzeichnet. „Der Bau des Instruments ist das Ziel, nicht die Untersuchung des Gehirns“, sagt er. Um in der Analogie zu bleiben: Solange das Mikroskop zusammengesetzt wird, schaut man zwar immer mal hindurch, um zu prüfen, ob man auf dem richtigen Weg ist – aber wirklich Neues wird man womöglich nicht beobachten.
Kein Wunder, dass viele Neuroforscher nun frustriert sind. Ihnen – und der Öffentlichkeit – wurde und wird oft suggeriert, es handele sich beim Human Brain Project um das größte neurowissenschaftliche Vorhaben aller Zeiten, ein Apollo-Projekt der Hirnforschung. Dass das mehr PR als Projektbeschreibung ist, dämmert vielen erst jetzt. Das kann man blauäugig finden. Zumal viele Neuroforscher trotz Zweifeln mit dem HBP sympathisiert haben – in der Erwartung, dass dort üppige Forschungsgelder abzuholen wären. Das wiederum dürfte durchaus Strategie der HBP-Leitung gewesen sein. Schließlich braucht das Projekt die Laborforscher, um Simulationen mit echten Daten abzugleichen. „Wir müssen jetzt mit offener Hand auf die Neuroforscher zugehen“, sagt Katrin Amunts.
Vielleicht ist es aber noch zu früh, Kognitionsforschung und Human Brain Project um jeden Preis verknüpfen zu wollen. Die klassische Hirnforschung kann sich nun nur über sogenannte Partnerprojekte in das HBP einklinken – mit Forschungsmitteln aus den einzelnen EU-Mitgliedsländern. Diese stünden sonst für unabhängige Hirnforschung bereit, sagt Andreas Herz. „Wissenschaftler sollten in keine Zwangsehe gezogen werden“, sagt er. Kooperationen würden sich automatisch ergeben, sollten sich die Instrumente des Großprojekts bewähren. Das hält Herz, obwohl er die Rebellion seiner Kollegen nachvollziehen kann, durchaus für möglich. Er sagt: „Das Human Brain Project könnte die Fragmentierung in den Neurowissenschaften überwinden, wird aber mit vollkommen überzogenen Versprechungen vermarktet. “Robert Gast