Wenn auf demselben Fleck der Welt zu viele Menschen wohnen, deren Vorstellungen vom guten und richtigen Leben in den Augen der meisten Drumherumwohnenden schon zwei, drei Ironieschleifen zu viel hinter sich haben, mindestens, dann kann man ziemlich sicher sein, dass es sich um Berlin-Mitte handelt. Oder um jenen Ort, der diese Mitte eben gerade wieder sein soll. Das ist womöglich auch mal Friedrichshain, Kreuzberg, Kreuzkölln oder Neukölln, man muss sich die Mitte dieser Stadt ja wie eine kleine Wanderdüne vorstellen.
Friedrich Liechtenstein in gewohnter Montur beim Auftritt auf der Mercedes-Benz Fashion Week.
Über diese Mitte also, dieses seltsam verhasste Soziotop voller bärtiger Männer in engen Hosen, voller „Hipster“, die unverschämterweise für viele so aussehen, als hielten sie sich für was Besseres, Informierteres, Gegenwärtigeres – über diese Mitte durfte sich in den vergangenen zehn Jahren noch die letzte Schlaumeierflitzpiepe lustig machen, gerne aus der Ferne. Davon, was in Mitte immer so passiert, waren und sind selbstverständlich alle besessen – um es dann doch jedes Mal wieder schlaumeierflitzpiepenhaft, also demonstrativ ungerührt zu verwerfen.
So sieht es aus – und dann gab es plötzlich die unerhörte Begebenheit. Und jetzt hat genau diese ungeliebte Hipster-Mitte, dieses arbeitsscheue, hedonistische, verträumte Ironie-Internat ohne Hausaufgaben im Herzen der Hauptstadt seinen ersten echten Star hervorgebracht: Friedrich Liechtenstein.
Ja, der schon etwas ältere mollige Typ mit Anzug und weißem Vollbart, der in der mittlerweile im Netz mehr als 20 Millionen Mal angesehenen Edeka-Werbung vollendet ironisch, also fabelhaft souverän, cool und elegant-tänzelnd alles „supergeil“ findet, die Fritten, den Dorsch, das Klopapier und so weiter. Der Friedrich Liechtenstein, der wohl 1956 als Hans-Holger Friedrich in Eisenhüttenstadt geboren wurde, der lange ein erfolgloser Schauspieler und Puppenspieler war und der in Mitte bis zur Edeka-Werbung viele Jahre lang schon dieser unnachahmlich lässig-ironische Entertainer Friedrich Liechtenstein gewesen ist, der Kinky King von Mitte, der als „Schmuckeremit“ den Showroom eines Brillenherstellers bewohnt und mehr oder weniger nur den feinen Neo-Dandy-Zwirn besitzt, den er eben gerade so anhat.
Sein jetziger Erfolg ist einer der größten anzunehmenden Glücksfälle des Jahres. Für Mitte, für Berlin – und für das ganze restliche Land, oder wenigstens für dessen Popkultur. Und am heutigen Freitag vielleicht noch ein bisschen mehr. Denn es erscheint – vorerst nur digital, eine CD-Veröffentlichung soll folgen – Friedrich Liechtensteins Album „Bad Gastein“.
Es ist mithilfe der beiden Berliner Produzenten Carl Schilde und Anselm Venezian Nehls musikalisch ein ziemlich leichtfüßiges Elektro-Disco-Album geworden, voller wunderbar flacher Patsch-Drum-Sounds und graziler Synthie-Effekte, an denen zum Beispiel Falco in den Achtzigerjahren auch schon seine Freude hatte. Wollte man sich die Stimmung dieser Musik vorstellen, müsste man sich vielleicht ein paar Lichteffekte einer trägen Disco-Kugel auf einer fast leeren, schwach beleuchteten Tanzfläche vorstellen. In einem Musikclub, der seine besten Jahre schon eine gute Weile hinter sich hat. In der Nachsaison. An der italienischen Adria-Küste. Oder eben in Bad Gastein, dem merkwürdigsten aller Alpen-Skiorte, weil sich dort Winter-Massentourismus und riesige leer stehende Belle-Époque-Luxus-Kurhotels so glamourös trostlos gegenüberstehen.
Bad Gastein wiederum versucht sich gerade deswegen für die Hipster Mitteleuropas neu zu erfinden und hat es sich nicht entgehen lassen, Liechtenstein zum Helden seiner recht aufwendigen aktuellen Werbebroschüre zu machen, die in ihrer Mischung aus luxuriösem Hochglanz und ironischer Anbiederung ein bizarres Dokument zeitgenössischen Zielgruppenfischfangs ist, aber dazu später noch ein Wort.
Zuvor noch eines zu den Texten, die auf dem Album zu hören sind, zum Dichter und Erzähler Friedrich Liechtenstein. Denn der ist das eigentliche Ereignis. So war es bei der Edeka-Werbung, wo er in einem Zusatz-Clip, den man wiederum seinen Kollegen weiterleiten sollte, einen fiktiven Kollegen feiert und mit dieser tiefenentspannten sonoren Stimme, einer Art vokalen Massage, sagt: „Was ich dir schon immer mal sagen wollte, ist: Es ist großartig, was du hier ablieferst. Teilweise.“ Die Unverschämtheit des Nachschubs überspielt er dabei so fein, als sei es eben doch ganz anders, eher liebevoll gemeint. Im Sinne von: Du arbeitest sehr gut hier, und teilweise bist du sogar großartig. Es hängt dann aber natürlich doch wieder ganz großartig schräg und weltweise in der Luft. Wie auch so viele Zeilen auf dem neuen Album. Also zum Beispiel Sätze wie: „72 ist kein gutes Alter für einen Gogo-Tänzer“ oder „Wer Anti-Kriegsfilme kennt, weiß / Die Welt der Kämpfer ist nur einen schmalen Grat entfernt vom schlimmsten Tuntenkitsch“ in „Belgique, Belgique“. Oder der Anfang des zweiten Songs „Badeschloss“: „Wir waren zwei Tagesreisen vom Badeschloss entfernt / als durch ein verbotenes, verbotenes, verbotenes, verbotenes ruckartiges Zurückwenden durch eine Drehung aus der Schulter / der gesamte bereits zurückgelegte Weg wieder vor uns lag.“
Wobei es, leicht gesagt, dahinbehauptet ist, dass dieser Mann und seine Kunst etwas Großes sind. So vollkommen selbstverständlich, wie man das in der besten aller Welten vielleicht gerne hätte, ist es natürlich nicht. Und das hat zwei Gründe: die verdammte Ironie und das, was in Deutschland unendlich krampfig „Humorismus“ genannt werden muss, weil Otto Waalkes und Heinz Erhardt den Begriff des Komikers ruiniert haben, das deutsche Kabarett den des Satirikers und Pro7 den des Comedian. „Humorist“ ist hierzulande also der, der komisch ist, ohne unbeabsichtigt peinlich zu sein, aber auch ein bisschen böse und abgründig, ohne dabei jedoch bloß als kritische Unterhaltung getarnten Populismus zu liefern wie so oft das Kabarett.
Humorismus und Ironie als Problem also, damit ist man natürlich gleich auf sehr dünnem Eis. Witze erklären hat ja meistens vor allem einen Effekt: Der Witz ist hinterher mausetot. Deshalb vielleicht bloß dies: Es ist unmöglich, den Verhältnissen beizukommen, wenn man sie nur veralbern will, weil man sie dann von vornherein unterschätzt – und sofort verloren ist. Denn: „Es ist kalt, wir sind allein, diese Welt ist traurig, böse und gemein. Und es gibt täglich weniger Gründe, nicht auch so zu sein.“ Oder wie Friedrich Liechtenstein an anderer Stelle einmal sagte: „Wenn Du eine Scheiß-Show von mir siehst, dann ist das keine Scheiß-Show, sondern ein sehr genauer Film von einer Scheiß-Show.“ Deshalb sind Ironie und guter Humor im Grunde dasselbe. Ironie, insbesondere die von Friedrich Liechtenstein, ist aber auch die freundlichste, gütigste und tröstlichste Form des Widerstands. Und Entertainer wie Friedrich Liechtenstein sind nichts weniger als Boten einer besseren Welt.
Bliebe die Frage, ob man diesem Mann – und wahrscheinlich auch gleich noch ein paar ganz abgezockten Werbern – nicht doch brav auf den Leim geht? Ob man eigentlich noch alle Tassen im Schrank hat, wenn man zum achtzehnten Mal eine Edeka-Werbung ansieht und im Büroflur leise „Belgique, Belgique, Belgique – er kommt niemals zurück, Brigitte“ vor sich hinhaucht – oder vielmehr „Bellschiiiek, Bellschiiiek, Bellschiiiek – er kommt niemals zurück, Briiieschitt“ mit weichem Bund ganz nuscheligem Schhhhh?
Tja. Man geht der Sache wohl auf den Leim. So wie es sich bei großer Kunst gehört. Und nein, womöglich hat man nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber was und wem genau würde man eigentlich auf den Leim gehen und von welchen Tassen reden wir? Am Ende muss das natürlich jeder selbst wissen. Von hier zum Schluss vielleicht nur so viel: Es könnten die eigenen Träume vom guten und richtigen Leben sein, und die Rede ist nicht von den supergeilen Edeka-Tassen. Und das sind doch schon mal zwei ganz gute Nachrichten. Teilweise.
Friedrich Liechtenstein in gewohnter Montur beim Auftritt auf der Mercedes-Benz Fashion Week.
Über diese Mitte also, dieses seltsam verhasste Soziotop voller bärtiger Männer in engen Hosen, voller „Hipster“, die unverschämterweise für viele so aussehen, als hielten sie sich für was Besseres, Informierteres, Gegenwärtigeres – über diese Mitte durfte sich in den vergangenen zehn Jahren noch die letzte Schlaumeierflitzpiepe lustig machen, gerne aus der Ferne. Davon, was in Mitte immer so passiert, waren und sind selbstverständlich alle besessen – um es dann doch jedes Mal wieder schlaumeierflitzpiepenhaft, also demonstrativ ungerührt zu verwerfen.
So sieht es aus – und dann gab es plötzlich die unerhörte Begebenheit. Und jetzt hat genau diese ungeliebte Hipster-Mitte, dieses arbeitsscheue, hedonistische, verträumte Ironie-Internat ohne Hausaufgaben im Herzen der Hauptstadt seinen ersten echten Star hervorgebracht: Friedrich Liechtenstein.
Ja, der schon etwas ältere mollige Typ mit Anzug und weißem Vollbart, der in der mittlerweile im Netz mehr als 20 Millionen Mal angesehenen Edeka-Werbung vollendet ironisch, also fabelhaft souverän, cool und elegant-tänzelnd alles „supergeil“ findet, die Fritten, den Dorsch, das Klopapier und so weiter. Der Friedrich Liechtenstein, der wohl 1956 als Hans-Holger Friedrich in Eisenhüttenstadt geboren wurde, der lange ein erfolgloser Schauspieler und Puppenspieler war und der in Mitte bis zur Edeka-Werbung viele Jahre lang schon dieser unnachahmlich lässig-ironische Entertainer Friedrich Liechtenstein gewesen ist, der Kinky King von Mitte, der als „Schmuckeremit“ den Showroom eines Brillenherstellers bewohnt und mehr oder weniger nur den feinen Neo-Dandy-Zwirn besitzt, den er eben gerade so anhat.
Sein jetziger Erfolg ist einer der größten anzunehmenden Glücksfälle des Jahres. Für Mitte, für Berlin – und für das ganze restliche Land, oder wenigstens für dessen Popkultur. Und am heutigen Freitag vielleicht noch ein bisschen mehr. Denn es erscheint – vorerst nur digital, eine CD-Veröffentlichung soll folgen – Friedrich Liechtensteins Album „Bad Gastein“.
Es ist mithilfe der beiden Berliner Produzenten Carl Schilde und Anselm Venezian Nehls musikalisch ein ziemlich leichtfüßiges Elektro-Disco-Album geworden, voller wunderbar flacher Patsch-Drum-Sounds und graziler Synthie-Effekte, an denen zum Beispiel Falco in den Achtzigerjahren auch schon seine Freude hatte. Wollte man sich die Stimmung dieser Musik vorstellen, müsste man sich vielleicht ein paar Lichteffekte einer trägen Disco-Kugel auf einer fast leeren, schwach beleuchteten Tanzfläche vorstellen. In einem Musikclub, der seine besten Jahre schon eine gute Weile hinter sich hat. In der Nachsaison. An der italienischen Adria-Küste. Oder eben in Bad Gastein, dem merkwürdigsten aller Alpen-Skiorte, weil sich dort Winter-Massentourismus und riesige leer stehende Belle-Époque-Luxus-Kurhotels so glamourös trostlos gegenüberstehen.
Bad Gastein wiederum versucht sich gerade deswegen für die Hipster Mitteleuropas neu zu erfinden und hat es sich nicht entgehen lassen, Liechtenstein zum Helden seiner recht aufwendigen aktuellen Werbebroschüre zu machen, die in ihrer Mischung aus luxuriösem Hochglanz und ironischer Anbiederung ein bizarres Dokument zeitgenössischen Zielgruppenfischfangs ist, aber dazu später noch ein Wort.
Zuvor noch eines zu den Texten, die auf dem Album zu hören sind, zum Dichter und Erzähler Friedrich Liechtenstein. Denn der ist das eigentliche Ereignis. So war es bei der Edeka-Werbung, wo er in einem Zusatz-Clip, den man wiederum seinen Kollegen weiterleiten sollte, einen fiktiven Kollegen feiert und mit dieser tiefenentspannten sonoren Stimme, einer Art vokalen Massage, sagt: „Was ich dir schon immer mal sagen wollte, ist: Es ist großartig, was du hier ablieferst. Teilweise.“ Die Unverschämtheit des Nachschubs überspielt er dabei so fein, als sei es eben doch ganz anders, eher liebevoll gemeint. Im Sinne von: Du arbeitest sehr gut hier, und teilweise bist du sogar großartig. Es hängt dann aber natürlich doch wieder ganz großartig schräg und weltweise in der Luft. Wie auch so viele Zeilen auf dem neuen Album. Also zum Beispiel Sätze wie: „72 ist kein gutes Alter für einen Gogo-Tänzer“ oder „Wer Anti-Kriegsfilme kennt, weiß / Die Welt der Kämpfer ist nur einen schmalen Grat entfernt vom schlimmsten Tuntenkitsch“ in „Belgique, Belgique“. Oder der Anfang des zweiten Songs „Badeschloss“: „Wir waren zwei Tagesreisen vom Badeschloss entfernt / als durch ein verbotenes, verbotenes, verbotenes, verbotenes ruckartiges Zurückwenden durch eine Drehung aus der Schulter / der gesamte bereits zurückgelegte Weg wieder vor uns lag.“
Wobei es, leicht gesagt, dahinbehauptet ist, dass dieser Mann und seine Kunst etwas Großes sind. So vollkommen selbstverständlich, wie man das in der besten aller Welten vielleicht gerne hätte, ist es natürlich nicht. Und das hat zwei Gründe: die verdammte Ironie und das, was in Deutschland unendlich krampfig „Humorismus“ genannt werden muss, weil Otto Waalkes und Heinz Erhardt den Begriff des Komikers ruiniert haben, das deutsche Kabarett den des Satirikers und Pro7 den des Comedian. „Humorist“ ist hierzulande also der, der komisch ist, ohne unbeabsichtigt peinlich zu sein, aber auch ein bisschen böse und abgründig, ohne dabei jedoch bloß als kritische Unterhaltung getarnten Populismus zu liefern wie so oft das Kabarett.
Humorismus und Ironie als Problem also, damit ist man natürlich gleich auf sehr dünnem Eis. Witze erklären hat ja meistens vor allem einen Effekt: Der Witz ist hinterher mausetot. Deshalb vielleicht bloß dies: Es ist unmöglich, den Verhältnissen beizukommen, wenn man sie nur veralbern will, weil man sie dann von vornherein unterschätzt – und sofort verloren ist. Denn: „Es ist kalt, wir sind allein, diese Welt ist traurig, böse und gemein. Und es gibt täglich weniger Gründe, nicht auch so zu sein.“ Oder wie Friedrich Liechtenstein an anderer Stelle einmal sagte: „Wenn Du eine Scheiß-Show von mir siehst, dann ist das keine Scheiß-Show, sondern ein sehr genauer Film von einer Scheiß-Show.“ Deshalb sind Ironie und guter Humor im Grunde dasselbe. Ironie, insbesondere die von Friedrich Liechtenstein, ist aber auch die freundlichste, gütigste und tröstlichste Form des Widerstands. Und Entertainer wie Friedrich Liechtenstein sind nichts weniger als Boten einer besseren Welt.
Bliebe die Frage, ob man diesem Mann – und wahrscheinlich auch gleich noch ein paar ganz abgezockten Werbern – nicht doch brav auf den Leim geht? Ob man eigentlich noch alle Tassen im Schrank hat, wenn man zum achtzehnten Mal eine Edeka-Werbung ansieht und im Büroflur leise „Belgique, Belgique, Belgique – er kommt niemals zurück, Brigitte“ vor sich hinhaucht – oder vielmehr „Bellschiiiek, Bellschiiiek, Bellschiiiek – er kommt niemals zurück, Briiieschitt“ mit weichem Bund ganz nuscheligem Schhhhh?
Tja. Man geht der Sache wohl auf den Leim. So wie es sich bei großer Kunst gehört. Und nein, womöglich hat man nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber was und wem genau würde man eigentlich auf den Leim gehen und von welchen Tassen reden wir? Am Ende muss das natürlich jeder selbst wissen. Von hier zum Schluss vielleicht nur so viel: Es könnten die eigenen Träume vom guten und richtigen Leben sein, und die Rede ist nicht von den supergeilen Edeka-Tassen. Und das sind doch schon mal zwei ganz gute Nachrichten. Teilweise.