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Bissiger Protest

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Sie machen sich einen Spaß daraus, auch wenn die Sache ernst ist. In polnischen Medien und sozialen Netzwerken treten derzeit Frauen und Männer jeden Alters auf, die herzhaft in einen Apfel beißen und dabei überwiegend fröhlich lachen. „Die Äpfel der Freiheit“ lautet das Motto, das die Zeitung Gazeta Wyborcza der Massenaktion am Wochenende gegeben hat. Wer in diesen Tagen und in den nächsten Monaten polnische Äpfel oder Birnen isst, der ist damit politisch aktiv und hilft, den von Russland verhängten Importstopp für polnisches Obst und Gemüse zu unterlaufen.



Geschmacksverirrung? Polen protestiert gegen das Einfuhrverbot von Äpfeln

Die Moskauer Maßnahme, die vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise allgemein als Vergeltung für die jüngst verhängten EU-Sanktionen gegen Russland gesehen wird, ist nämlich durchaus geeignet, den polnischen Obstbauern erhebliche Verluste zu verursachen. Polen ist größter Apfel-Exporteur der Welt und hat allein 2013 nach Angaben der Regierung in Warschau nicht weniger als 804000 Tonnen Obst und Gemüse nach Russland ausgeführt. Das entspricht einem Wert von 336 Millionen Euro.

Seit Freitag ist damit Schluss. Die Moskauer Behörde Rosselchosnadsor als Aufsichtsorgan für Lebensmittelsicherheit hat mit Wirkung zum 1.August eine Einfuhrsperre verfügt. Zur Begründung erklärte sie, von den Früchten gehe eine Gefahr für die Gesundheit der russischen Verbraucher aus. Bei Inspektionen 2013 seien in polnischen Importen in 900 Fällen Missstände entdeckt worden, 90 Prozent der untersuchten Äpfel seien übermäßig mit Pestiziden belastet gewesen. Bemängelt wurden außerdem ein Befall durch Ungeziefer und fehlerhafte Lieferpapiere. Die Folge ist, dass polnische Erzeuger nun ihre Äpfel, Birnen oder Quitten, aber auch Pflaumen, Kirschen, Aprikosen und anderes Obst sowie verschiedene Sorten Kohl in Russland vorerst nicht mehr loswerden.

Die Politik spielt in den Moskauer Erklärungen keine Rolle, doch haben Politiker und Kommentatoren im Westen keinen Zweifel, dass gerade hier der Grund für den Boykott zu suchen ist. Das Reaktionsmuster ist nämlich altbekannt. Immer wieder, wenn Russland mit einem seiner Nachbarländer im Streit lag und Druck ausüben wollte, wurden die Inspektoren der Lebensmittelüberwachung aktiv. Und stets war der politische Zusammenhang leicht erkennbar.

Zum Beispiel im Fall der Ukraine, als diese vor einem Jahr noch unter dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch über eine Assoziierung mit der EU verhandelte, die mittlerweile von dessen Nachfolger Petro Poroschenko auch vollzogen wurde. Im August 2013 verbot Moskau den weiteren Import von Pralinen und anderen Süßigkeiten. Später traf der Bannstrahl verschiedene andere Lebensmittel, zuletzt Milcherzeugnisse.

Zuvor hatte schon Georgien mit einer jahrelangen Einfuhrsperre für seine Weine für die Unbotmäßigkeit seiner damaligen Führer gebüßt. Auch die kleine Republik Moldau, die wie Georgien und die Ukraine einen Kurs der Annäherung an die EU steuert und ebenfalls vor Kurzem ein Assoziationsabkommen schloss, wurde mehrmals von Russland mit einem Einfuhrstopp für ihre Weine unter Druck gesetzt. Erst vor zwei Wochen wurde auch über Obst- und Gemüsekonserven der Bann verhängt, am Freitag kündigte Moskau zudem die Erhebung von Importzöllen auf 19 moldauische Erzeugnisse an, darunter Fleisch, Gemüse und Wein, die bisher unverzollt blieben.

Nicht zuletzt geriet auch die amerikanische Fastfood-Kette McDonald’s, die in Russland rund 400 Restaurants unterhält, ins Visier der Hygiene-Kontrolleure. Es wurde ein Verfahren wegen Verletzung von Lebensmittelstandards eingeleitet. Der Bezug zu den US-Sanktionen gegen Russland nach dem Abschuss eines Flugzeugs in der Ostukraine drängt sich auf.

Auch Polen erlebt eine russische Blockade nicht zum ersten Mal, schon 2007 waren Fleischeinfuhren untersagt. Dies könnte jetzt wieder drohen, zusätzlich zum Obst- und Gemüseboykott, befürchtet der Warschauer Landwirtschaftsminister Marek Sawicki. Hilfesuchend hat er sich an die EU-Kommission gewandt, und wie er animieren auch andere polnische Politiker und Aktivisten jetzt Nachbarn und Freunde in der EU, doch demnächst tüchtig polnische Äpfel und Birnen zu verzehren. „Äpfel essen gegen Putin“, heißt die Parole, bei Twitter wurde das Stichwort #jedzjablka (Iss Äpfel) angelegt.

Im Nachbarland Litauen folgte etwa ein Dutzend Menschen spontan dem Aufruf und versammelte sich Äpfel essend vor der russischen Botschaft in Vilnius. Eine gute Nachricht kommt auch aus Tokio. Japan hat den vor 13 Jahren verhängten Einfuhrstopp für polnisches Rindfleisch aufgehoben. Damals ging es allerdings nicht um Politik, sondern um Rinderwahn.

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