Seite an Seite marschierten am Sonntag Vertreter von Regierungen aus aller Welt durch Paris – gemeinsam mit 1,5Millionen Normalbürgern. Ein Zeichen für die Pressefreiheit wollten sie setzen. Bei genauerem Hinschauen war es dann aber doch erstaunlich, wer sich da alles eingehakt hatte. Der türkische Ministerpräsident zum Beispiel – dabei saßen 2013 in keinem anderen Land der Welt mehr Journalisten im Gefängnis als in der Türkei. Oder der Außenminister von Bahrain: Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation Reporter ohne Grenzen Jahr für Jahr aufstellt, rangierte das Land zuletzt auf Platz 163 von 180. Christian Mihr ist der Geschäftsführer der Organisation.
Staatschefs beim "Marche Republicaine" am Sonntag in Paris
SZ: Über wen haben Sie sich am Sonntag am meisten gewundert?
Christian Mihr: Ach, da gab es eine lange Latte von überraschenden Kandidaten. Der türkische Premier natürlich, aber auch der russische Außenminister. Dabei mussten sich in Moskau in den vergangenen Tagen Aktivisten, die auf der Straße ein Schild mit „Je suis Charlie“ hochgehalten haben, wegen einer Ordnungswidrigkeit verantworten. Darum ist es auch so wichtig, nicht nur an die Solidarität mit Charlie Hebdo zu denken. Man muss sich klarmachen, dass es noch ganz viele andere Charlies auf dieser Welt gibt, wenn man so will. Pressefreiheit ist nicht selbstverständlich, nicht einmal bei uns in Europa.
Was glauben Sie, warum geht jemand dort mit, der es im eigenen Land selbst nicht so genau nimmt mit der Pressefreiheit?
Gute Frage, ich kann da auch nur spekulieren. Ich bin aber davon überzeugt, dass diese Regierungen sich das vorher sehr gut überlegt haben. Das war sicher keine emotionale Übersprungshandlung vor lauter Rührung nach dem Attentat. Sicher dachten einige Regierungen, dass sie so an schöne PR-Bilder kommen können.
Klingt so, als zweifelten Sie an dem Erfolg dieser Maßnahme.
Wenn die Regierungen diese Bilder jetzt haben, müssen sie sich ja auch an ihnen messen lassen. Charlie Hebdo ist ein Medium, das die Pressefreiheit durch seine radikale Form der Satire immer auch sehr radikal eingefordert hat. Wenn man jetzt für dieses Medium auf die Straße geht, muss man sich auch Zuhause an vorderster Front für die Pressefreiheit einsetzen. Sonst werden die schönen PR-Bilder sehr schnell sehr unglaubwürdig. Insofern hat sich der ein oder andere, der am Sonntag in Paris mitgelaufen ist, vielleicht ein kleines Eigentor geschossen.
Weil sich jetzt auch Aktivisten in den Heimatländern auf dieses Bekenntnis berufen können?
Genau.
Könnte doch auch sein, dass die Ereignisse der vergangenen Tage wirklich bei manchem zu einem Umdenken geführt haben.
Ich würde es mir natürlich wünschen, dass in der Türkei oder den Emiraten oder in Russland die Pressefreiheit auf einmal hochgehalten wird. Aber das ist ein frommer Wunsch, ich glaube nicht daran.
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Ein kleines Eigentor
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