Als scharfer Kritiker einer ökonomisierten Wissenschaft ist Professor Julian Nida-Rümelin bekannt. Nun wird er als Schattenminister in Bayern gehandelt - und prägt auch die Linie der Bundes-SPD
SZ: In vielen Bundesländern wird aktuell wieder über die Schulzeit am Gymnasium gestritten. Sie plädieren für Wahlfreiheit zwischen G8 und G9. Warum?
Julian Nida-Rümelin: Die Umstellung auf das achtjährige Gymnasium war nicht begleitet von einer 'Entrümpelung' des Lehrplanes. Es soll meiner Ansicht nach keine Rolle rückwärts geben, sondern zwei Optionen. Schüler müssen auch noch Zeit für Sport, Musik oder einfach nur zum Spielen haben. Für die Persönlichkeitsentwicklung ist die nicht verplante Zeit enorm wichtig. Untersuchungen belegen, dass die zeitliche Belastung von Schülern, speziell an Gymnasien, inzwischen die normale Belastung von Arbeitnehmern deutlich überschreitet. Das muss grundsätzlich korrigiert werden.
Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie an der LMU München.
Also weiter die Lehrpläne reduzieren?
Die Stoffmenge ist viel zu groß. Ich habe einen Großteil meines Studiums als Nachhilfelehrer finanziert und hatte damals schon den Eindruck, dass nur ein Bruchteil dessen, was an Schulen gelernt wird, wirklich bleibt. Die Schüler versuchen, irgendwie durchzukommen - mit kaum verstandenem Stoff. Eine Studie bei Zehntklässlern an Gymnasien ergab, dass 42 Prozent am Ende des Jahres ein schlechteres Mathematik-Verständnis haben als zu Beginn. Wenn das kein Warnsignal ist, dass die Form des Bulimie-Lernens nichts bringt. Wir müssen Konzentration, Vertiefung, fächerübergreifende Kompetenzen fördern.
Heute gehen aber auch viel mehr Kinder aufs Gymnasium als früher. Ist das nicht ebenfalls ein Teil des Problems?
Ja, und ich gehöre zu den wenigen, die der generellen Akademisierung des Bildungssystems skeptisch gegenüberstehen. In der Tat haben wir einen Nachwuchsmangel in Informatik und Technikwissenschaften. Einen allgemeinen Akademikermangel sehe ich nicht. Die OECD kritisiert einmal Deutschland, Österreich und die Schweiz für ihre niedrigen Akademikerquoten. Wenige Monate später stellt sie fest: Die drei Länder haben die geringste Jugendarbeitslosigkeit. Beides hängt aber zusammen. Ein kostbares Gut in Deutschland ist das duale System von Bildung und Ausbildung. Das dürfen wir nicht zerstören, indem wir durch Anpassung an internationale Trends dafür sorgen, dass immer weniger Jugendliche in Lehrberufe gehen. Die duale Ausbildung ist sicher reformbedürftig, mehr als 250 Berufe ist zu viel, nötig ist eine gewisse Verwissenschaftlichung, Beispiel Mechatroniker. Aber den Weg der USA nachzuahmen, ist falsch.
Gilt diese Gefahr der Anpassung auch für die Hochschulen?
Unsere Diplomstudiengänge sind weltweit anerkannt. Nicht nur bei Ingenieuren, auch in Physik und Chemie. Der Standard ist viel höher als in den USA, speziell in der mathematischen Kompetenz. Warum sollen wir das aufs Spiel setzen? Die Politik sollte froh sein, dass sich die Technischen Universitäten mitunter der Anpassung verweigert haben. Ein ingenieurwissenschaftliches Studium ist in drei Jahren Bachelor nicht zu bewältigen.
Beim Thema Studiengebühren unterstützen die Sozialdemokraten das Volksbegehren der Freien Wähler in Bayern. Hochschulen fürchten aber, dass sie, wie in manchen Bundesländern, nach dem Wegfall Geld verlieren ...
Die Idee der staatlichen Garantie für freie Bildung bis zum ersten Studienabschluss ist zentral für sozialdemokratische Politik. Es geht weniger um 84 Euro Gebühren monatlich als vielmehr um Grundsätzliches: die Weichenstellung in Richtung Privatisierung der Bildung. Dass das jetzt rückgängig gemacht wird, zeigt: Schwarz-Gelb hat die falschen Weichen gestellt. Wir wollen eine hundertprozentige Kompensation, wie sie etwa in Baden-Württemberg geleistet wird.
Sie fordern freie Bildung von der Krippe bis zum Hochschulabschluss. Wie soll das alles zu finanzieren sein?
Da gibt es interessante Zahlen. Wenn Deutschland heute noch so viel für Bildung ausgeben würde wie 1975, dann müssten wir pro Jahr 35 Milliarden Euro mehr in diesen Bereich stecken. Selbst im Vergleich zu 1995, also der Zeit nach der deutsch-deutschen Vereinigung, bleibt noch eine Differenz von zehn Milliarden Euro. Deutschland hatte sich jahrzehntelang als Bildungsnation definiert und wurde weltweit bewundert. Das gilt heute leider nicht mehr. Daran ändert auch das Gerede von der Bildungsrepublik nichts.
Der Betreuungsbedarf bei Kleinkindern, die Zahlen der Gymnasiasten und Studierenden haben sich enorm erhöht - das drückt auf die Ausgaben.
Dann ist doch umso weniger einzusehen, dass der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt im selben Zeitraum sinkt. Das betrifft dramatisch den Hochschulbereich. Die Betreuungsrelation von Professoren und Studenten, die in Deutschland sowieso katastrophal ist, hat sich weiter verschlechtert. Wissenschaft als Beruf wird zunehmend unattraktiv.
Sie sagen also, die 35 Milliarden, die dem Bildungsbereich entzogen wurden, müssen wieder draufgelegt werden?
Ja, das wird langfristig zu realisieren sein.
Und wo kommt dieses Geld her?
Die Prioritäten des gut durchgerechneten SPD-Konzeptes sind: Verschuldung beenden, und in Bildung und Kommunen plus 27 Milliarden pro Jahr investieren. Die Einnahmen werden erzielt durch Einsparungen, Abbau von Subventionen, Vermögensteuer und höheren Spitzensteuersatz.
Gerade Bayerns Hochschulen stehen aber im Ländervergleich sehr gut da. Wo sehen Sie denn Veränderungsbedarf?
Bayern hat das Potenzial, als reichstes Bundesland an der Spitze im Bildungsbereich zu stehen, hier hängt aber der Bildungserfolg in höherem Maße als anderswo vom Geldbeutel der Eltern ab. Die beiden Münchner Universitäten sind Spitzenuniversitäten, schon aus ihrer Tradition heraus. Auch Erlangen ist sehr gut. Aber bei der Entkoppelung von Forschung und Lehre geht Bayern einen falschen Weg. Bayern ist Vorreiter in Richtung auf eine unternehmerische Hochschule - ein Irrweg.
Sie kritisieren immer wieder diese Ökonomisierung des Bildungssystems, den Fokus auf Verwertbarkeit von Wissen.
Das war ein gezielter Systemwandel seit den Neunzigerjahren. Da gibt es Papiere, zum Beispiel des Round Table of Industrials, in denen der kritische Geist an Hochschulen und die fehlende Orientierung auf unternehmerisches Handeln beklagt werden. Marktorientierung, Nutzung des Humankapitals, Bildung als Ware - diese Kriterien haben sich international, etwa in der OECD, durchgesetzt. Ich bin pragmatisch genug zu sagen: Wir brauchen einen besseren Transfer von der Wissenschaft in Technik und Wirtschaft. Aber die Politik hat Sorge zu tragen, dass die Pluralität von Theorien und Begriffen, der Streit um das bessere Argument nicht einem stromlinienförmigen Management und vordergründig ökonomischen Zwecken zum Opfer fallen.
Trotzdem ist die deutsche Hochschullandschaft international anerkannt.
Als ich in den Siebzigerjahren Physik studierte, stellte ich mich in den USA vor, um dort eventuell meinen Weg in der Wissenschaft fortzusetzen. Mir wurde gesagt: Sie haben mit ihrem Vordiplom mindestens die gleiche Qualifikation wie unsere Master. Auch unsere Geisteswissenschaften waren den amerikanischen überlegen. In den USA studieren nur zwölf Prozent der Studenten an Einrichtungen, die auch forschen. Jetzt lautet die Botschaft: Wir müssen uns da anpassen, um mithalten zu können. Wir sehen nur die Spitze. Man kann aber nicht Harvard imitieren wollen, indem man an unseren Universitäten herumschraubt, solange Harvard zehnmal so viele Mittel pro Student hat wie unsere Spitzenuniversitäten. Dadurch wird die Bildungskultur mehr gefährdet als gefördert.
Bayern ist eines der wenigen Länder ohne verfasste Studierendenschaft. Würden Sie die Mitbestimmung der Studenten wieder einführen?
Ich weiß gar nicht, wovor die Konservativen Angst haben. Da droht nun wirklich keine Weltrevolution mehr. In den Studienbeitragskommissionen konnte man sehen, wie konstruktiv die Studierenden sich einbringen. Sie ernst zu nehmen, ist dem Geist der Universität angemessen. Humboldt hat 1810 gesagt: Junge Menschen, die die Schule verlassen, sind als Erwachsene zu betrachten. Und wir behandeln sie 200 Jahre später wieder wie Schüler.
SZ: In vielen Bundesländern wird aktuell wieder über die Schulzeit am Gymnasium gestritten. Sie plädieren für Wahlfreiheit zwischen G8 und G9. Warum?
Julian Nida-Rümelin: Die Umstellung auf das achtjährige Gymnasium war nicht begleitet von einer 'Entrümpelung' des Lehrplanes. Es soll meiner Ansicht nach keine Rolle rückwärts geben, sondern zwei Optionen. Schüler müssen auch noch Zeit für Sport, Musik oder einfach nur zum Spielen haben. Für die Persönlichkeitsentwicklung ist die nicht verplante Zeit enorm wichtig. Untersuchungen belegen, dass die zeitliche Belastung von Schülern, speziell an Gymnasien, inzwischen die normale Belastung von Arbeitnehmern deutlich überschreitet. Das muss grundsätzlich korrigiert werden.
Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie an der LMU München.
Also weiter die Lehrpläne reduzieren?
Die Stoffmenge ist viel zu groß. Ich habe einen Großteil meines Studiums als Nachhilfelehrer finanziert und hatte damals schon den Eindruck, dass nur ein Bruchteil dessen, was an Schulen gelernt wird, wirklich bleibt. Die Schüler versuchen, irgendwie durchzukommen - mit kaum verstandenem Stoff. Eine Studie bei Zehntklässlern an Gymnasien ergab, dass 42 Prozent am Ende des Jahres ein schlechteres Mathematik-Verständnis haben als zu Beginn. Wenn das kein Warnsignal ist, dass die Form des Bulimie-Lernens nichts bringt. Wir müssen Konzentration, Vertiefung, fächerübergreifende Kompetenzen fördern.
Heute gehen aber auch viel mehr Kinder aufs Gymnasium als früher. Ist das nicht ebenfalls ein Teil des Problems?
Ja, und ich gehöre zu den wenigen, die der generellen Akademisierung des Bildungssystems skeptisch gegenüberstehen. In der Tat haben wir einen Nachwuchsmangel in Informatik und Technikwissenschaften. Einen allgemeinen Akademikermangel sehe ich nicht. Die OECD kritisiert einmal Deutschland, Österreich und die Schweiz für ihre niedrigen Akademikerquoten. Wenige Monate später stellt sie fest: Die drei Länder haben die geringste Jugendarbeitslosigkeit. Beides hängt aber zusammen. Ein kostbares Gut in Deutschland ist das duale System von Bildung und Ausbildung. Das dürfen wir nicht zerstören, indem wir durch Anpassung an internationale Trends dafür sorgen, dass immer weniger Jugendliche in Lehrberufe gehen. Die duale Ausbildung ist sicher reformbedürftig, mehr als 250 Berufe ist zu viel, nötig ist eine gewisse Verwissenschaftlichung, Beispiel Mechatroniker. Aber den Weg der USA nachzuahmen, ist falsch.
Gilt diese Gefahr der Anpassung auch für die Hochschulen?
Unsere Diplomstudiengänge sind weltweit anerkannt. Nicht nur bei Ingenieuren, auch in Physik und Chemie. Der Standard ist viel höher als in den USA, speziell in der mathematischen Kompetenz. Warum sollen wir das aufs Spiel setzen? Die Politik sollte froh sein, dass sich die Technischen Universitäten mitunter der Anpassung verweigert haben. Ein ingenieurwissenschaftliches Studium ist in drei Jahren Bachelor nicht zu bewältigen.
Beim Thema Studiengebühren unterstützen die Sozialdemokraten das Volksbegehren der Freien Wähler in Bayern. Hochschulen fürchten aber, dass sie, wie in manchen Bundesländern, nach dem Wegfall Geld verlieren ...
Die Idee der staatlichen Garantie für freie Bildung bis zum ersten Studienabschluss ist zentral für sozialdemokratische Politik. Es geht weniger um 84 Euro Gebühren monatlich als vielmehr um Grundsätzliches: die Weichenstellung in Richtung Privatisierung der Bildung. Dass das jetzt rückgängig gemacht wird, zeigt: Schwarz-Gelb hat die falschen Weichen gestellt. Wir wollen eine hundertprozentige Kompensation, wie sie etwa in Baden-Württemberg geleistet wird.
Sie fordern freie Bildung von der Krippe bis zum Hochschulabschluss. Wie soll das alles zu finanzieren sein?
Da gibt es interessante Zahlen. Wenn Deutschland heute noch so viel für Bildung ausgeben würde wie 1975, dann müssten wir pro Jahr 35 Milliarden Euro mehr in diesen Bereich stecken. Selbst im Vergleich zu 1995, also der Zeit nach der deutsch-deutschen Vereinigung, bleibt noch eine Differenz von zehn Milliarden Euro. Deutschland hatte sich jahrzehntelang als Bildungsnation definiert und wurde weltweit bewundert. Das gilt heute leider nicht mehr. Daran ändert auch das Gerede von der Bildungsrepublik nichts.
Der Betreuungsbedarf bei Kleinkindern, die Zahlen der Gymnasiasten und Studierenden haben sich enorm erhöht - das drückt auf die Ausgaben.
Dann ist doch umso weniger einzusehen, dass der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt im selben Zeitraum sinkt. Das betrifft dramatisch den Hochschulbereich. Die Betreuungsrelation von Professoren und Studenten, die in Deutschland sowieso katastrophal ist, hat sich weiter verschlechtert. Wissenschaft als Beruf wird zunehmend unattraktiv.
Sie sagen also, die 35 Milliarden, die dem Bildungsbereich entzogen wurden, müssen wieder draufgelegt werden?
Ja, das wird langfristig zu realisieren sein.
Und wo kommt dieses Geld her?
Die Prioritäten des gut durchgerechneten SPD-Konzeptes sind: Verschuldung beenden, und in Bildung und Kommunen plus 27 Milliarden pro Jahr investieren. Die Einnahmen werden erzielt durch Einsparungen, Abbau von Subventionen, Vermögensteuer und höheren Spitzensteuersatz.
Gerade Bayerns Hochschulen stehen aber im Ländervergleich sehr gut da. Wo sehen Sie denn Veränderungsbedarf?
Bayern hat das Potenzial, als reichstes Bundesland an der Spitze im Bildungsbereich zu stehen, hier hängt aber der Bildungserfolg in höherem Maße als anderswo vom Geldbeutel der Eltern ab. Die beiden Münchner Universitäten sind Spitzenuniversitäten, schon aus ihrer Tradition heraus. Auch Erlangen ist sehr gut. Aber bei der Entkoppelung von Forschung und Lehre geht Bayern einen falschen Weg. Bayern ist Vorreiter in Richtung auf eine unternehmerische Hochschule - ein Irrweg.
Sie kritisieren immer wieder diese Ökonomisierung des Bildungssystems, den Fokus auf Verwertbarkeit von Wissen.
Das war ein gezielter Systemwandel seit den Neunzigerjahren. Da gibt es Papiere, zum Beispiel des Round Table of Industrials, in denen der kritische Geist an Hochschulen und die fehlende Orientierung auf unternehmerisches Handeln beklagt werden. Marktorientierung, Nutzung des Humankapitals, Bildung als Ware - diese Kriterien haben sich international, etwa in der OECD, durchgesetzt. Ich bin pragmatisch genug zu sagen: Wir brauchen einen besseren Transfer von der Wissenschaft in Technik und Wirtschaft. Aber die Politik hat Sorge zu tragen, dass die Pluralität von Theorien und Begriffen, der Streit um das bessere Argument nicht einem stromlinienförmigen Management und vordergründig ökonomischen Zwecken zum Opfer fallen.
Trotzdem ist die deutsche Hochschullandschaft international anerkannt.
Als ich in den Siebzigerjahren Physik studierte, stellte ich mich in den USA vor, um dort eventuell meinen Weg in der Wissenschaft fortzusetzen. Mir wurde gesagt: Sie haben mit ihrem Vordiplom mindestens die gleiche Qualifikation wie unsere Master. Auch unsere Geisteswissenschaften waren den amerikanischen überlegen. In den USA studieren nur zwölf Prozent der Studenten an Einrichtungen, die auch forschen. Jetzt lautet die Botschaft: Wir müssen uns da anpassen, um mithalten zu können. Wir sehen nur die Spitze. Man kann aber nicht Harvard imitieren wollen, indem man an unseren Universitäten herumschraubt, solange Harvard zehnmal so viele Mittel pro Student hat wie unsere Spitzenuniversitäten. Dadurch wird die Bildungskultur mehr gefährdet als gefördert.
Bayern ist eines der wenigen Länder ohne verfasste Studierendenschaft. Würden Sie die Mitbestimmung der Studenten wieder einführen?
Ich weiß gar nicht, wovor die Konservativen Angst haben. Da droht nun wirklich keine Weltrevolution mehr. In den Studienbeitragskommissionen konnte man sehen, wie konstruktiv die Studierenden sich einbringen. Sie ernst zu nehmen, ist dem Geist der Universität angemessen. Humboldt hat 1810 gesagt: Junge Menschen, die die Schule verlassen, sind als Erwachsene zu betrachten. Und wir behandeln sie 200 Jahre später wieder wie Schüler.