20-jähriges Bandjubiläum und ein neues Album: Der Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow über Kitsch, Sentimentalität, Charles Baudelaire, Udo Jürgens und die Inspiration durch den Zeitgeist
"Digital ist besser", "Es ist egal, aber", "Pure Vernunft darf niemals siegen" - manche mag die mitunter allzu minimalistische, schrammelige Rockmusik und ausgestellte Cleverness der Band etwas verrückt machen, die Wahrheit bleibt doch: Die vor 20 Jahren in Hamburg von Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller gegründete Band Tocotronic (der vierte Mann Rick McPhail kam erst 2004 dazu) hat dem deutschen Indie-Pop das Denken beigebracht. Und gezeigt, was es heißt, sich Popmusik auszudenken, die wirklich auf der Höhe ihrer jeweiligen Zeit ist. Das heute erscheinende zehnte Album 'Wie wir leben wollen' (Universal) ist ein neuer Beweis. Höchste Zeit für ein großes Gespräch über Dichtung und Wahrheit mit Sänger und Songwriter Dirk von Lowtzow.
Tocotronic während ihres Auftrittes beim Berlin Festival im September 2012
SZ: Herr von Lowtzow, eine große neue Anthologie mit Balladen aus der gesamten der deutschen Literaturgeschichte, die der Germanistik-Professor Wulf Segebrecht herausgegeben hat, beginnt mit dem Text des Tocotronic-Songs 'Das Blut an meinen Händen'. Macht sie diese Art der literarischen Kanonisierung Ihrer Texte stolz?
Dirk von Lowtzow: Das berührt mich eigentlich nicht. Wirklich. Es ist sicher ein sorgfältig komponiertes Buch, aber eben auch eines, das ich mir nicht kaufen würde. Wir würden jetzt allerdings auch nicht verhindern, dass ein Text von uns in so einem Band auftaucht. Haben wir ja auch nicht.
Finden Sie die Literarisierung von Popmusik sinnvoll?
Naja, das ist schon in Ordnung. Brechts 'Moritat von Mackie Messer' ist ja auch nicht ohne die Musik von Kurt Weill denkbar.
Lesen Sie viel Lyrik?
Selten.
Entstehen die Tocotronic-Texte eigentlich zuerst ohne Musik?
Nein, zu 95 Prozent entstehen sie zusammen mit der Musik. Ich komponiere mit einer akustischen Gitarre. Unsere Texte sind Texte, die dafür gemacht sind, zur Musik vorgetragen zu werden. Deshalb muss ich schon beim Komponieren wissen, ob alles metrisch funktioniert, ob man es singen kann, ob es zu den Harmoniewechseln funktioniert. Ich lege im Übrigen Wert auf die Feststellung, dass ich kein Dichter bin, sondern Liedtexte schreibe.
Auffällig ist, wie viel wert bei Tocotronic-Texten offenbar auf Sprache gelegt wird. Das ist in der deutschen Popmusik, sogar in der ambitionierteren, leider noch immer eher selten der Fall.
Ja, ich liebe Sprache.
Daher die Frage nach der Lyrik-Lektüre.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag Gedichte sehr, ich habe einen Zugang dazu. Ich kann nur nicht sagen, dass ich besonders häufig welche lese. Neben meinem Bett liegt kein Stapel Gedichtbände. Ich lese zum Einschlafen nicht noch einen kleinen Celan.
Aber wenn Sie es dann doch mal tun, zu welchem Dichter greifen Sie, wenn Sie vor Ihrem Bücherregal stehen?
Als Teenager war ich sehr beeindruckt von Baudelaire, es gibt tolle Übersetzungen seiner Gedichte von Walter Benjamin. Aber das passt natürlich auch sehr gut zu der Musik, die man als bisschen rebellischer 16-jähriger in den Achtzigern so hörte. Das ist ja im Prinzip Underground, Baudelaire oder auch Rimbaud haben ja die Blaupausen von Underground-Rock-Texten geschrieben.
Haben Sie noch Verse im Kopf?
Eines der bekanntesten Gedichte von Baudelaire sind ja die 'Satanslitaneien', die übrigens von der amerikanischen Avantgarde-Komponistin und Sängerin Diamanda Galás auch schon vertont und dann witzigerweise auch gleich verboten wurden: ,Erbarme, Satan, dich auch meiner tiefen Qualen!" Das ist im Prinzip ja ein Black-Metal-Text. Patti Smith ist auch großer Baudelaire-Fan.
Sind sie es denn immer noch?
Ja, doch. Es ist ja mit Sicherheit noch immer einer der größten Dichter. Und dann kommt man natürlich von allem, was einen einmal stark geprägt hat, nie mehr richtig los. Heute fasziniert mich allerdings nicht mehr unbedingt den Underground-Aspekt am meisten. Heute ist mir wichtiger, dass das so wahnsinnig kitschig ist, campy, vollkommen übertrieben.
Der Kitsch hat in der ambitionieren Kunst ja keinen allzu guten Ruf. Warum ist Kitsch trotzdem gut?
Erstmal mag ich es einfach lieber etwas übertrieben als zu bescheiden. Ich fühle mich dann einfach besser unterhalten.
Kennen Sie zeitgenössische Lyrik?
Damit kenne ich mich nicht besonders aus. Aus der Nachkriegsgeneration fiele mir noch Ingeborg Bachmann ein, ich finde ihre Gedichte aber auch nicht alle gut. Paul Celan interessiert mich als Person, als Schicksal sehr, die meisten seiner Gedichte finde ich, ehrlich gesagt, ein bisschen kitschig.
Oh, gerade eben haben Sie den Kitsch noch verteidigt. Wann ist Kitsch gut und wann doch einfach nur unerträglich?
Wenn es gewollt kitschig sein soll, ist es gut. Es gibt Kitsch erster und Kitsch zweiter Ordnung.
Oha.
Ja, Kitsch erster Ordnung wäre zum Beispiel ein Sissy-Film, ein kitschiger Hollywood-Film wie King Kong. Das ist Kitsch, der Kitsch sein soll. Dem kann ich etwas abgewinnen. Wenn auch nicht unbedingt stundenlang.
Und was ist dann Kitsch zweiter Ordnung?
Das ist der Kitsch, der entsteht, wenn man Kitsch unbedingt vermeiden will. Es gibt zum Beispiel das Genre des Männerkitsches, das wären weinerliche Männer, die mit ihrem Alter oder ihrem Schicksal allgemein hadern, alle Arten von Kumpeleien, solche Sachen - das soll nicht kitschig sein, ist aber natürlich wahnsinnig kitschig. Cineasten-Kitsch ist auch schlimm, Wim-Wenders-Filme etwa.
Fallen die bei Ihnen nicht eigentlich auch in die Kategorie Männerkitsch?
Sensitiver Männerkitsch. Überauthentischer Kitsch, Ehrlichkeits-Kitsch ist auch schwierig, wenn also bei irgendwas besonders viel Wert darauf gelegt wird, dass es von Herzen kommt. Das kommt in der deutschen Popmusik übrigens häufig vor. Der deutsche Schlager ist dagegen interessanter, weil das Kitsch erster Ordnung ist. Das soll ja kitschig sein.
Das müssen Sie erklären!
Nehmen wir 'Weiße Rosen aus Athen' von Nana Mouskouri oder 'Griechischer Wein' von Udo Jürgens - das will ja alles genau so rührselig sein, wie es eben ist.
Ist beim guten Kitsch der Weg zur Ironie nicht allzu kurz? Unter dem Mantel der Ironie kann man sich ja im Grunde alles erlauben, aber eben auch vor allen Bekenntnissen drücken. Dann ist irgendwann nichts mehr etwas wert.
Der Grat ist tatsächlich schmal. Wenn alles ironisch gemeint ist, nervt es mich auch, weil es mich dann überhaupt nicht mehr berührt. Um über sich lachen zu können, ist Ironie allerdings sehr nützlich. Ganz ohne das Heilmittel Ironie möchte ich nicht leben. Nur von dem literarischen Stilmittel gleichen Namens halte ich nicht viel.
Was ist die - im guten Sinne - kitschigste Songzeile, die Sie je geschrieben haben?
Oh, da gibt es viele. Je unehrlicher, je künstlicher, je weniger vertrauenswürdig, je unseriöser - desto besser.
Besonders in der Rockmusik ist Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Authentizität aber nach wie vor ein wertvolles Gut.
Ja, scheußlich. Das ist der Kitsch zweiter Ordnung, der am Ende einfach nur sentimental ist. Und Sentimentalität kann ich nicht ertragen.
Warum nicht?
Weil es ein unzuverlässiges Gefühl ist. Nur weil man etwas sentimental ist, ist man nicht gleich ein besserer Mensch. Das wird aber oft so eingesetzt. Etwas überspitzt würde ich sagen: Irgendeine Massenmörder weint auch mal im Kino. Aber er bleibt ein Massenmörder. Wenn Kunst betont sentimental ist, ist sie meistens schlecht. Sentimentale Gefühle auslösen darf sie natürlich.
"Griechischer Wein" aber, das Sie vorhin noch haben davonkommen lassen in den guten Kitsch, ist aber doch ein wirklich sentimentales Lied?
Es ist ein sehr gut geschriebenes Lied, dass sentimentale Gefühle auslöst. Das ist ein Unterschied. Dafür muss sehr unsentimental vorgegangen werden, und nicht einfach nur die eigene Sentimentalität in einen Song gegossen werden. Ein besseres Beispiel ist aber wahrscheinlich die Schnulze schlechthin: 'My Favorite Things' von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein aus dem Musical 'The Sound Of Music'. Da merkt man, wie professionell gearbeitet wurde, wie genau sich Rodgers und Hammerstein überlegt haben, wie das klingen muss, damit die Leute, die das um viertel vor zwölf in der Kneipe hören, sentimental werden. Weil die Worte so gut gewählt sind, die Melodie. Was für ein Song! Besonders natürlich in der Version von John Coltrane. Das ist jetzt allerdings Udo Jürgens gegenüber nicht ganz fair.
Songs zu schreiben, ist also schlicht ein Handwerk für Sie, für das man über seine Mittel genau Bescheid wissen muss?
Songwriting ist vermutlich eine der handwerklichsten Kunstformen, die es gibt.
"Griechischer Wein / ist wie das Blut der Erde / Komm, schenk dir ein"!?
Ja, das ist doch gut geschrieben. Aber nehmen wir zum Beispiel die Songs einer Folge 'Glee', der amerikanischen Highschool-Musical-Serie. Klar, das ist Bubblegum-Pop, aber wenn man die sich genauer ansieht, merkt man, wie unglaublich clever diese Musik oft komponiert ist. Das fasziniert mich. 'Jenny From The Block' von Jennifer Lopez - wahnsinnig gut geschrieben. Was für Reime: 'I used to have a little, now I have a lot / I"m still, I"m still Jenny from the block'. Überhaupt ist viel amerikanischer R"n"B sehr sorgfältig geschrieben. 'Womanizer' von Britney Spears ist auch toll. Da sind Profis am Werk, Experten, es geht um Präzision. Natürlich trifft das nicht unbedingt meinen Geschmack, es zielt auch auf ein anderes Publikum. Ich kann auch gar keine Hit-Singles schreiben. Aber der Ansatz ist ähnlich. Ich habe auch den Ehrgeiz, dass alles wirklich gut passt.
Dazu passt, dass Sie auch ein Schöpfer von Pop-Slogans sind. Wie kam es dazu?
Ja, das hat mich, das hat uns als Band einfach immer auch als eine Art Handwerk fasziniert, sich solche Sachen einfallen zu lassen. Überhaupt eine Meta-Band zu sein, eine Band, die sich ausdenkt, wie eine Band sein müsste. Das lag aber vor 20 Jahren auch so in der Luft. Mit Grunge war ja gerade die letzte authentische Jugendkultur am Ausklingen. Und man hatte gesehen: Je authentischer etwa Leid ist, wie es Kurt Cobain verkörperte, umso schneller kann es im Mainstream verramscht werden.
Lassen Sie uns fünf große Popzeilen, auf ihre handwerkliche Brillanz testen: "I Can't Get No Satisfaction"?
Sehr gut. Fast so gut wie unser "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein".
"Hit Me Baby One More Time"?
Britney Spears. Größte Popkunst. Schön. Auch in dieser irren Zweideutigkeit. Finde ohnehin die meisten der Britney-Spears-Hits sehr eindrucksvoll.
"No Woman, No Cry"?
Bisschen doof, einfältig. Bob Marley hat bessere Zeilen geschrieben.
Blumfeld: "Von der Unmittelbarkeit nein zu sagen, ohne sich umzubringen"?
Toll. Eigentlich ja viel zu lang, unmöglich. Anti-Pop. Klingt ja eher nach Alexander Kluge. Was für eine Idee, das für einen Popsong zu verwenden. Ansonsten ist Songwriting ja im Grunde so etwas wie Rätsel lösen, die man sich selber gestellt hat. Das macht den Reiz aus. Und mit einer Zeile wie 'Von der Unmittelbarkeit nein zu sagen, ohne sich umzubringen' hat man sich natürlich schon mal ein ziemlich Ei gelegt. Herrlich.
Wo wir gerade in der Tocotronic-Werkstatt sind: Sie haben mit Tocotronic oft mit großer Sicherheit den jeweiligen Geist der Zeit vertont, von 'Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein' bis 'Kapitulation'. Wie fühlen Sie dem Zeitgeist auf den Zahn?
Naja, zu Zeiten von 'Aber hier leben, nein danke' oder eben 'Kapitulation' musste man ja nur über die Straße laufen und spürte diesen seltsamen nationalen Aufbruch. 2004, 2005, 2006, rund um die WM gab es ja auch diese große Kampagne 'Du bist Deutschland', Zeitschriften kürten die Hundert schönsten, tollsten, erfolgreichsten Deutschen, und in Guido-Knopp-Dokumentationen über die alliierten Bombenangriffe auf Dresden schien es plötzlich so, als seien die Deutschen die größten Opfer des Zweiten Weltkriegs gewesen. Das nimmt man alles wahr, bekommt Aversionen - und die sind dann Inspiration.
Die Verbindung von Pop und Politik oder Protest kann ja sehr schnell schiefgehen.
Allerdings, das wird sehr schnell peinlich predigerhaft, politisches Kabarett. Und das will ja keiner mehr hören. Deswegen heißt das neue Album ja auch nicht 'Wie wir leben sollen', sondern 'Wie wir leben wollen'. Außerdem hatten wir jetzt in den ersten zwanzig Jahren das Gefühl, dass wir vor allem davon gesprochen haben, was uns alles nicht passt, wogegen wir sind. Jetzt finden wir eine gewisse Konstruktivität interessant.
Eine gewisse Konstruktivität? Auf dem Album sind nicht nur ganze 17 Songs, es gibt auch Booklet mit 99 Thesen!
Wir haben das Soll etwas übererfüllt.
Alles, was zu viel ist, ist gut?
Alles, was zu viel ist, ist gut.
"Digital ist besser", "Es ist egal, aber", "Pure Vernunft darf niemals siegen" - manche mag die mitunter allzu minimalistische, schrammelige Rockmusik und ausgestellte Cleverness der Band etwas verrückt machen, die Wahrheit bleibt doch: Die vor 20 Jahren in Hamburg von Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller gegründete Band Tocotronic (der vierte Mann Rick McPhail kam erst 2004 dazu) hat dem deutschen Indie-Pop das Denken beigebracht. Und gezeigt, was es heißt, sich Popmusik auszudenken, die wirklich auf der Höhe ihrer jeweiligen Zeit ist. Das heute erscheinende zehnte Album 'Wie wir leben wollen' (Universal) ist ein neuer Beweis. Höchste Zeit für ein großes Gespräch über Dichtung und Wahrheit mit Sänger und Songwriter Dirk von Lowtzow.
Tocotronic während ihres Auftrittes beim Berlin Festival im September 2012
SZ: Herr von Lowtzow, eine große neue Anthologie mit Balladen aus der gesamten der deutschen Literaturgeschichte, die der Germanistik-Professor Wulf Segebrecht herausgegeben hat, beginnt mit dem Text des Tocotronic-Songs 'Das Blut an meinen Händen'. Macht sie diese Art der literarischen Kanonisierung Ihrer Texte stolz?
Dirk von Lowtzow: Das berührt mich eigentlich nicht. Wirklich. Es ist sicher ein sorgfältig komponiertes Buch, aber eben auch eines, das ich mir nicht kaufen würde. Wir würden jetzt allerdings auch nicht verhindern, dass ein Text von uns in so einem Band auftaucht. Haben wir ja auch nicht.
Finden Sie die Literarisierung von Popmusik sinnvoll?
Naja, das ist schon in Ordnung. Brechts 'Moritat von Mackie Messer' ist ja auch nicht ohne die Musik von Kurt Weill denkbar.
Lesen Sie viel Lyrik?
Selten.
Entstehen die Tocotronic-Texte eigentlich zuerst ohne Musik?
Nein, zu 95 Prozent entstehen sie zusammen mit der Musik. Ich komponiere mit einer akustischen Gitarre. Unsere Texte sind Texte, die dafür gemacht sind, zur Musik vorgetragen zu werden. Deshalb muss ich schon beim Komponieren wissen, ob alles metrisch funktioniert, ob man es singen kann, ob es zu den Harmoniewechseln funktioniert. Ich lege im Übrigen Wert auf die Feststellung, dass ich kein Dichter bin, sondern Liedtexte schreibe.
Auffällig ist, wie viel wert bei Tocotronic-Texten offenbar auf Sprache gelegt wird. Das ist in der deutschen Popmusik, sogar in der ambitionierteren, leider noch immer eher selten der Fall.
Ja, ich liebe Sprache.
Daher die Frage nach der Lyrik-Lektüre.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag Gedichte sehr, ich habe einen Zugang dazu. Ich kann nur nicht sagen, dass ich besonders häufig welche lese. Neben meinem Bett liegt kein Stapel Gedichtbände. Ich lese zum Einschlafen nicht noch einen kleinen Celan.
Aber wenn Sie es dann doch mal tun, zu welchem Dichter greifen Sie, wenn Sie vor Ihrem Bücherregal stehen?
Als Teenager war ich sehr beeindruckt von Baudelaire, es gibt tolle Übersetzungen seiner Gedichte von Walter Benjamin. Aber das passt natürlich auch sehr gut zu der Musik, die man als bisschen rebellischer 16-jähriger in den Achtzigern so hörte. Das ist ja im Prinzip Underground, Baudelaire oder auch Rimbaud haben ja die Blaupausen von Underground-Rock-Texten geschrieben.
Haben Sie noch Verse im Kopf?
Eines der bekanntesten Gedichte von Baudelaire sind ja die 'Satanslitaneien', die übrigens von der amerikanischen Avantgarde-Komponistin und Sängerin Diamanda Galás auch schon vertont und dann witzigerweise auch gleich verboten wurden: ,Erbarme, Satan, dich auch meiner tiefen Qualen!" Das ist im Prinzip ja ein Black-Metal-Text. Patti Smith ist auch großer Baudelaire-Fan.
Sind sie es denn immer noch?
Ja, doch. Es ist ja mit Sicherheit noch immer einer der größten Dichter. Und dann kommt man natürlich von allem, was einen einmal stark geprägt hat, nie mehr richtig los. Heute fasziniert mich allerdings nicht mehr unbedingt den Underground-Aspekt am meisten. Heute ist mir wichtiger, dass das so wahnsinnig kitschig ist, campy, vollkommen übertrieben.
Der Kitsch hat in der ambitionieren Kunst ja keinen allzu guten Ruf. Warum ist Kitsch trotzdem gut?
Erstmal mag ich es einfach lieber etwas übertrieben als zu bescheiden. Ich fühle mich dann einfach besser unterhalten.
Kennen Sie zeitgenössische Lyrik?
Damit kenne ich mich nicht besonders aus. Aus der Nachkriegsgeneration fiele mir noch Ingeborg Bachmann ein, ich finde ihre Gedichte aber auch nicht alle gut. Paul Celan interessiert mich als Person, als Schicksal sehr, die meisten seiner Gedichte finde ich, ehrlich gesagt, ein bisschen kitschig.
Oh, gerade eben haben Sie den Kitsch noch verteidigt. Wann ist Kitsch gut und wann doch einfach nur unerträglich?
Wenn es gewollt kitschig sein soll, ist es gut. Es gibt Kitsch erster und Kitsch zweiter Ordnung.
Oha.
Ja, Kitsch erster Ordnung wäre zum Beispiel ein Sissy-Film, ein kitschiger Hollywood-Film wie King Kong. Das ist Kitsch, der Kitsch sein soll. Dem kann ich etwas abgewinnen. Wenn auch nicht unbedingt stundenlang.
Und was ist dann Kitsch zweiter Ordnung?
Das ist der Kitsch, der entsteht, wenn man Kitsch unbedingt vermeiden will. Es gibt zum Beispiel das Genre des Männerkitsches, das wären weinerliche Männer, die mit ihrem Alter oder ihrem Schicksal allgemein hadern, alle Arten von Kumpeleien, solche Sachen - das soll nicht kitschig sein, ist aber natürlich wahnsinnig kitschig. Cineasten-Kitsch ist auch schlimm, Wim-Wenders-Filme etwa.
Fallen die bei Ihnen nicht eigentlich auch in die Kategorie Männerkitsch?
Sensitiver Männerkitsch. Überauthentischer Kitsch, Ehrlichkeits-Kitsch ist auch schwierig, wenn also bei irgendwas besonders viel Wert darauf gelegt wird, dass es von Herzen kommt. Das kommt in der deutschen Popmusik übrigens häufig vor. Der deutsche Schlager ist dagegen interessanter, weil das Kitsch erster Ordnung ist. Das soll ja kitschig sein.
Das müssen Sie erklären!
Nehmen wir 'Weiße Rosen aus Athen' von Nana Mouskouri oder 'Griechischer Wein' von Udo Jürgens - das will ja alles genau so rührselig sein, wie es eben ist.
Ist beim guten Kitsch der Weg zur Ironie nicht allzu kurz? Unter dem Mantel der Ironie kann man sich ja im Grunde alles erlauben, aber eben auch vor allen Bekenntnissen drücken. Dann ist irgendwann nichts mehr etwas wert.
Der Grat ist tatsächlich schmal. Wenn alles ironisch gemeint ist, nervt es mich auch, weil es mich dann überhaupt nicht mehr berührt. Um über sich lachen zu können, ist Ironie allerdings sehr nützlich. Ganz ohne das Heilmittel Ironie möchte ich nicht leben. Nur von dem literarischen Stilmittel gleichen Namens halte ich nicht viel.
Was ist die - im guten Sinne - kitschigste Songzeile, die Sie je geschrieben haben?
Oh, da gibt es viele. Je unehrlicher, je künstlicher, je weniger vertrauenswürdig, je unseriöser - desto besser.
Besonders in der Rockmusik ist Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Authentizität aber nach wie vor ein wertvolles Gut.
Ja, scheußlich. Das ist der Kitsch zweiter Ordnung, der am Ende einfach nur sentimental ist. Und Sentimentalität kann ich nicht ertragen.
Warum nicht?
Weil es ein unzuverlässiges Gefühl ist. Nur weil man etwas sentimental ist, ist man nicht gleich ein besserer Mensch. Das wird aber oft so eingesetzt. Etwas überspitzt würde ich sagen: Irgendeine Massenmörder weint auch mal im Kino. Aber er bleibt ein Massenmörder. Wenn Kunst betont sentimental ist, ist sie meistens schlecht. Sentimentale Gefühle auslösen darf sie natürlich.
"Griechischer Wein" aber, das Sie vorhin noch haben davonkommen lassen in den guten Kitsch, ist aber doch ein wirklich sentimentales Lied?
Es ist ein sehr gut geschriebenes Lied, dass sentimentale Gefühle auslöst. Das ist ein Unterschied. Dafür muss sehr unsentimental vorgegangen werden, und nicht einfach nur die eigene Sentimentalität in einen Song gegossen werden. Ein besseres Beispiel ist aber wahrscheinlich die Schnulze schlechthin: 'My Favorite Things' von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein aus dem Musical 'The Sound Of Music'. Da merkt man, wie professionell gearbeitet wurde, wie genau sich Rodgers und Hammerstein überlegt haben, wie das klingen muss, damit die Leute, die das um viertel vor zwölf in der Kneipe hören, sentimental werden. Weil die Worte so gut gewählt sind, die Melodie. Was für ein Song! Besonders natürlich in der Version von John Coltrane. Das ist jetzt allerdings Udo Jürgens gegenüber nicht ganz fair.
Songs zu schreiben, ist also schlicht ein Handwerk für Sie, für das man über seine Mittel genau Bescheid wissen muss?
Songwriting ist vermutlich eine der handwerklichsten Kunstformen, die es gibt.
"Griechischer Wein / ist wie das Blut der Erde / Komm, schenk dir ein"!?
Ja, das ist doch gut geschrieben. Aber nehmen wir zum Beispiel die Songs einer Folge 'Glee', der amerikanischen Highschool-Musical-Serie. Klar, das ist Bubblegum-Pop, aber wenn man die sich genauer ansieht, merkt man, wie unglaublich clever diese Musik oft komponiert ist. Das fasziniert mich. 'Jenny From The Block' von Jennifer Lopez - wahnsinnig gut geschrieben. Was für Reime: 'I used to have a little, now I have a lot / I"m still, I"m still Jenny from the block'. Überhaupt ist viel amerikanischer R"n"B sehr sorgfältig geschrieben. 'Womanizer' von Britney Spears ist auch toll. Da sind Profis am Werk, Experten, es geht um Präzision. Natürlich trifft das nicht unbedingt meinen Geschmack, es zielt auch auf ein anderes Publikum. Ich kann auch gar keine Hit-Singles schreiben. Aber der Ansatz ist ähnlich. Ich habe auch den Ehrgeiz, dass alles wirklich gut passt.
Dazu passt, dass Sie auch ein Schöpfer von Pop-Slogans sind. Wie kam es dazu?
Ja, das hat mich, das hat uns als Band einfach immer auch als eine Art Handwerk fasziniert, sich solche Sachen einfallen zu lassen. Überhaupt eine Meta-Band zu sein, eine Band, die sich ausdenkt, wie eine Band sein müsste. Das lag aber vor 20 Jahren auch so in der Luft. Mit Grunge war ja gerade die letzte authentische Jugendkultur am Ausklingen. Und man hatte gesehen: Je authentischer etwa Leid ist, wie es Kurt Cobain verkörperte, umso schneller kann es im Mainstream verramscht werden.
Lassen Sie uns fünf große Popzeilen, auf ihre handwerkliche Brillanz testen: "I Can't Get No Satisfaction"?
Sehr gut. Fast so gut wie unser "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein".
"Hit Me Baby One More Time"?
Britney Spears. Größte Popkunst. Schön. Auch in dieser irren Zweideutigkeit. Finde ohnehin die meisten der Britney-Spears-Hits sehr eindrucksvoll.
"No Woman, No Cry"?
Bisschen doof, einfältig. Bob Marley hat bessere Zeilen geschrieben.
Blumfeld: "Von der Unmittelbarkeit nein zu sagen, ohne sich umzubringen"?
Toll. Eigentlich ja viel zu lang, unmöglich. Anti-Pop. Klingt ja eher nach Alexander Kluge. Was für eine Idee, das für einen Popsong zu verwenden. Ansonsten ist Songwriting ja im Grunde so etwas wie Rätsel lösen, die man sich selber gestellt hat. Das macht den Reiz aus. Und mit einer Zeile wie 'Von der Unmittelbarkeit nein zu sagen, ohne sich umzubringen' hat man sich natürlich schon mal ein ziemlich Ei gelegt. Herrlich.
Wo wir gerade in der Tocotronic-Werkstatt sind: Sie haben mit Tocotronic oft mit großer Sicherheit den jeweiligen Geist der Zeit vertont, von 'Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein' bis 'Kapitulation'. Wie fühlen Sie dem Zeitgeist auf den Zahn?
Naja, zu Zeiten von 'Aber hier leben, nein danke' oder eben 'Kapitulation' musste man ja nur über die Straße laufen und spürte diesen seltsamen nationalen Aufbruch. 2004, 2005, 2006, rund um die WM gab es ja auch diese große Kampagne 'Du bist Deutschland', Zeitschriften kürten die Hundert schönsten, tollsten, erfolgreichsten Deutschen, und in Guido-Knopp-Dokumentationen über die alliierten Bombenangriffe auf Dresden schien es plötzlich so, als seien die Deutschen die größten Opfer des Zweiten Weltkriegs gewesen. Das nimmt man alles wahr, bekommt Aversionen - und die sind dann Inspiration.
Die Verbindung von Pop und Politik oder Protest kann ja sehr schnell schiefgehen.
Allerdings, das wird sehr schnell peinlich predigerhaft, politisches Kabarett. Und das will ja keiner mehr hören. Deswegen heißt das neue Album ja auch nicht 'Wie wir leben sollen', sondern 'Wie wir leben wollen'. Außerdem hatten wir jetzt in den ersten zwanzig Jahren das Gefühl, dass wir vor allem davon gesprochen haben, was uns alles nicht passt, wogegen wir sind. Jetzt finden wir eine gewisse Konstruktivität interessant.
Eine gewisse Konstruktivität? Auf dem Album sind nicht nur ganze 17 Songs, es gibt auch Booklet mit 99 Thesen!
Wir haben das Soll etwas übererfüllt.
Alles, was zu viel ist, ist gut?
Alles, was zu viel ist, ist gut.