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Zeit der Aufklärung

Ganz Europa diskutiert das Recht der Schwulen - ein Fortschritt. Ein Kommentar von Thomas Kirchner


Nachrichten aus Europa: In Russland stimmte das Parlament am Freitag in erster Lesung für ein Gesetz, das "Propaganda für gleichgeschlechtliche Beziehungen", etwa Homosexuellen-Paraden, verbietet. In Polens Parlament scheiterte am selben Tag der Versuch, gleichgeschlechtlichen Paaren eine eingetragene Lebenspartnerschaft zu ermöglichen. In Frankreich gehen seit Wochen Hunderttausende gegen den Plan der Regierung auf die Straße, Schwulen und Lesben die Ehe, Adoptionen und künstliche Befruchtung zu erlauben. Doch auch dies war eine Meldung wert: Kopenhagen ehrt Dänemarks bekanntesten schwulen Vorkämpfer und benennt einen Platz mitten in der Stadt nach ihm.

Europa bietet jede denkbare Rechtsform für Homosexuelle: von der völligen Gleichstellung in Belgien, den Niederlanden, Skandinavien und auf der Iberischen Halbinsel über eingetragene Partnerschaften wie in Deutschland und Frankreich bis hin zur gänzlichen Rechtlosigkeit und offenen Diskriminierung in Russland oder der Ukraine, wo laut einer Umfrage nur jeder Fünfte homosexuelle Lebensformen akzeptiert. Im Osten Europas ist noch viel zu tun, aber auch im Süden, etwa in Italien, wo der gesellschaftliche Fortschritt dank Kirche und machistischer Politiker wie Silvio Berlusconi eine Schnecke geblieben ist (ganz abgesehen von arabischen und afrikanischen Ländern, in denen auf homosexuelle Handlungen die Todesstrafe steht).


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Kein alltägliches Bild in Russland: Homosexuelle können ihr Liebesleben dort nicht problemlos offen auf der Straße ausleben

Und doch beweist die breite Empörung über das neue russische Gesetz, dass zumindest die Westeuropäer derart krasse rechtliche Unterschiede nicht tolerieren. Homosexuelle und Transgender fordern ihre Gleichstellung ein - mit dem Rückhalt vieler Heterosexueller. Das Bewusstsein wächst, dass Menschen- und Bürgerrechte für jeden gelten. Und nicht nur in Europa. "Unsere Reise ist nicht beendet, solange unsere homosexuellen Brüder und Schwestern nicht die gleichen Rechte haben wie alle anderen", sagte Barack Obama zur zweiten Amtseinführung. Noch kein Präsident vor ihm hatte in einer Rede zur Amtseinführung den jahrzehntelangen Kampf der Schwulen und Lesben in Amerika überhaupt erwähnt.

In Europa begann dieser Kampf mit dem Ziel, die gleichgeschlechtliche Liebe zu entkriminalisieren, was schwierig genug war. Erst 1994 wurde in Deutschland der Paragraf 175 aus dem Strafgesetzbuch entfernt, der in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik zu etwa 50000 Verurteilungen geführt hatte. Seither ging es - Schritt für Schritt - um die rechtliche Angleichung und um den Schutz gegen Homophobie.

Nordeuropa marschierte voran: mit dem weltweit ersten Antidiskriminierungsgesetz (Norwegen 1981), der ersten eingetragenen Partnerschaft für Homosexuelle (Dänemark 1989), der ersten Homo-Ehe (Niederlande 2001). Auch wenn sich viele Antipathien halten, auch wenn Homosexuelle im Job benachteiligt und oft physischer und verbaler Gewalt ausgesetzt sind: In großen Teilen Europas werden schwule und lesbische Lebensformen weitgehend akzeptiert, Homosexuelle sitzen in höchsten Ämtern, und hoffentlich wird bald selbst ein Fußballer der Bundesliga sein Coming-out wagen.

Die EU hat manches vorangebracht, mit diversen Richtlinien zum Schutz von Homosexuellen, mit Urteilen des Europäischen Gerichtshofs. Segensreich wirken auch der Europarat und sein Gerichtshof für Menschenrechte, der soeben urteilte, dass sich weder Beamte noch Therapeuten weigern dürfen, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen oder zu behandeln.

Wo es nicht vorwärts geht, liegt das hauptsächlich am Widerstand der Kirche, ob katholisch oder orthodox. Wo sie stark ist in Europa, haben Homosexuelle einen schweren Stand, mit der überraschenden Ausnahme Spaniens und Portugals. Eisern hält Rom am Dogma fest: Homosexualität ist Sünde, gleiche Rechte für homosexuelle Paare zersetzen die traditionelle Ehe. Die Kirchen konservieren die alten Geschlechterrollen, und sie befördern das Gefühl der Bedrohung, wenn diese Rollen infrage gestellt werden.

Die letzten Barrieren werden also die Kirchen selbst aus dem Weg räumen müssen. Wenn sie in den Herzen der Menschen bleiben wollen, kommen sie um eine aufgeklärtere Haltung zur Homosexualität wohl nicht herum. Gleichzeitig müssen Politik und Gesellschaft stärker auf die Trennung von Kirche und Staat pochen und homosexuellenfeindliche Sonderregelungen abschaffen. Und was es noch braucht: steten politischen Druck auf Regierungen, die Menschenrechte verweigern und auf diese Weise Leben zerstören. Ein Christopher Street Day in Moskau? Das ist derzeit unwahrscheinlicher denn je.

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