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'Grenzen der Belastbarkeit erreicht'

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Der Wehrbeauftragte sieht Standortschließungen, lange Auslandseinsätze und unbesetzte Stellen mit Sorge.

Berlin - Der Zugführer ließ offenbar kaum eine Gelegenheit für eine anzügliche Bemerkung aus. Sie stehe so nach links geneigt, sagte er zu der Soldatin, sie solle mal ihre Brüste wiegen - eine sei wohl schwerer als die andere. Ein anderes Mal empfahl er ihr, in die Schützenmulde zwei Löcher für ihre Brüste zu buddeln. Und als sie sich an den Bauch fasste, schnarrte er: 'Sind Sie schwanger? Aber nicht von mir.'



Für Frauen ist die Bundeswehr immer noch eine gewöhnungsbedürftige Umgebung

Die Soldatin beschwerte sich, gegen den Zugführer wurde ein Verfahren eingeleitet, und der Wehrbeauftragte des Bundestags nahm den Fall in seinen Jahresbericht 2012 auf, den er am Dienstag in Berlin vorstellte. Darin heißt es, im vergangenen Jahr hätten Soldatinnen und Soldaten 50 'besondere Vorkommnisse mit sexuellem Bezug' gemeldet und sieben Eingaben 'mit dem Vorwurf eines sexuellen Übergriffs' gemacht. Man müsse 'von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer' ausgehen, so der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus, doch es handele sich nach seinem Kenntnisstand um 'Einzelfälle'. Bei insgesamt 4309 Eingaben sank die Zahl der Eingaben je tausend Soldaten von 23,9 im Vorjahr auf den Wert von 21,8.

Für Frauen ist die Bundeswehr offenbar noch immer eine gewöhnungsbedürftige Umgebung. Der Frauenanteil habe Ende des Jahres bei 9,65 Prozent und damit unter den gesetzlich vorgeschriebenen Quoten von 50 Prozent im Sanitätsdienst und 15 Prozent 'in den übrigen Laufbahnen' gelegen, heißt es im Bericht. Als Beispiel für besonders demotivierende Behandlung wird der Fall einer Soldatin aufgeführt, die sich auf einen Posten im Kommando Spezialkräfte, kurz KSK, beworben hatte. Sie kam erfolgreich durch das äußerst fordernde halbjährige Auswahlverfahren - durfte dann aber doch nicht zum KSK wechseln, weil sie, so die Formulierung im Bericht, 'nicht abkömmlich' sei. Für die Soldatin sei dies 'nicht nachvollziehbar' gewesen.

Viele Beschwerden drehen sich um die Veränderungen, mit denen sich die Soldaten wegen der Reform der Streitkräfte auseinandersetzen müssen. Königshaus" düsteres Fazit: 'Erwartungen, dass die Bundeswehr durch die Neuausrichtung leistungsstärker und effizienter wird, bestätigen sich im Berichtsjahr nicht.' Stattdessen, so der FDP-Mann, seien vor allem im Heer, bei der Marine und im Sanitätsdienst die 'Grenzen der Belastbarkeit erreicht, teilweise auch überschritten'. Durch die Verkleinerung gebe es derzeit vor allem zu wenig Mannschaftsdienstgrade. 'Dramatisch' sei die Situation in der Flotte, wo 700 dieser einfachen Soldaten fehlten.

Auch das Thema Auslandseinsätze nimmt breiten Raum ein. So seien Soldaten immer wieder ein halbes Jahr oder länger im Einsatz, obwohl eine Dauer von vier Monaten in der Regel nicht überschritten werden soll. Auch die Vorgabe, dass zwischen zwei Einsätzen 20 Monate liegen sollten, werde nicht eingehalten. Die Anzahl der behandelten posttraumatischen Belastungsstörungen stieg von 922 im vergangenen Jahr auf 1143, im Bericht wird die Zahl von 194 Neuerkrankungen genannt.

Eine Eingabe stammte von einem General, sie betraf das Thema 'Vereinbarkeit von Familie und Dienst' und damit ein Gebiet, zu dem die Eingaben 'deutlich angestiegen' sind. Besonders häufig ging es um Versetzungen und damit die Trennung von der Familie. Die Belastungen einer 'Pendlerarmee' seien 'durch die neuen Strukturen verfestigt worden'. Etwa 70 Prozent der Soldaten seien Wochenendpendler, häufig gebe es keine Planungssicherheit.

Zudem fehle es 'an einer tatsächlich gelebten Familienfreundlichkeit'. Als Beispiel nennt Königshaus den Fall eines Soldaten, der seine zu 80 Prozent schwerbehinderte Großmutter pflegen wollte und dafür seine Versetzung beantragt hatte - um sich dann anzuhören, dies sei 'lachhaft'. Der Wehrbeauftragte kritisiert zudem, dass es an Einrichtungen zur Kinderbetreuung mangele. Was hier bislang geplant sei, reiche 'keineswegs' aus.

Die Zahl der gemeldeten Vorkommnisse 'mit Verdacht auf rechtsextremistischen, antisemitischen oder fremdenfeindlichen Hintergrund' stieg (bei weniger Soldaten) im Vergleich zum Vorjahr um vier auf 67 Fälle an. Dabei habe es sich 'weit überwiegend' um sogenannte Propagandadelikte gehandelt - die Soldaten hatten etwa in der Kaserne einschlägige Musik gehört.

Auch der Umgangston von Vorgesetzten war wie üblich Thema einiger Eingaben. So wies ein Kompaniechef seine Soldaten zurecht und fragte, ob dies in ihre 'Scheißdrecksgehirne' gehe, während sich ein Stabsunteroffizier, der laut Bericht 'unter einer Störung der Bewegung der Augenlider litt' von einem Vorgesetzten mehrfach als 'Ticktack' ansprechen lassen musste.

Ein Lob hatte der Wehrbeauftragte allerdings auch parat: Die Ausrüstung der Soldaten habe sich, wie von ihm immer wieder gefordert, verbessert - auch wenn 'nach wie vor erheblicher weiterer Bedarf' bestehe.

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