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Zwitschern im Museum

Deutsche Ausstellungshäuser entdecken zunehmend die sozialen Netzwerke für sich und bieten spezielle Veranstaltungen für Twitterfans an. Solche Tweetups sollen auch neue Zielgruppen zu einem persönlichen Besuch bewegen.

München - Susanne Steiger ist im Stress: Mit flinkem Daumen tippt sie in ihr Smartphone, was sie gerade über die Juden gehört hat, die in den Neunzigerjahren in der zusammenbrechenden Sowjetunion aufbrachen, um in Deutschland ihren Glauben neu leben zu können. Steiger lauscht, sieht, fotografiert, twittert. Mit ihr sind weitere 35 Augenpaare auf Smartphones, Tablets und Laptops gerichtet. Die Kulturkonsorten, ein Verein aus Journalisten, Kulturhistorikern und Wissenschaftlern, haben im Internet zum Tweetup im Jüdischen Museum nach München eingeladen und sorgen so dafür, dass sich das Museum der ganzen Welt öffnet.


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Museen öffnen sich zunehmend für Social Media-Plattformen wie Twitter.

An diesem Abend werden sie 170000 Menschen in der ganzen Welt die Geschichte, Erlebnisse und Erfahrungen der jüdischen Einwanderer vermittelt haben. So viele haben sich als Follower angemeldet. Sie erfahren unter anderem die Geschichte von Julia Gens. Die Enkeltochter von Julius Gens kam 1991 mit ihrem Ehemann mit einem Touristenvisum aus Estland nach Deutschland und brachte Fragmente der von den Nationalsozialisten zerstörten Kunstbibliothek und Kunstsammlung ihres Großvaters mit. Dieser zählte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den bedeutendsten Sammlerpersönlichkeiten Estlands.

Für Piritta Kleiner, Kuratorin der Ausstellung, ist diese Führung durch die eigentlich vertrauten Räume etwas Besonderes: 'Ich bin besonders gespannt auf die Fragen aus dem virtuellen Raum und ein wenig nervös. Wenn die Besucher gar keinen Blickkontakt mit mir suchen, während ich erzähle, wird es bestimmt seltsam.' Und sie weiß: Ihr Wissen erreicht auch britische, französische und russische Interessierte. Vor Ort begleiten Dolmetscher die Veranstaltung und füttern die Twitterwall mit kyrillischen Buchstaben. Auf der virtuellen Wand können Twitter-Nutzer alle Einträge, die unter dem Kennwort (Hashtag) #kukon gesendet wurden, auch zu einem späteren Zeitpunkt eingesehen und direkt kommentiert werden.

Immer mehr deutsche Museen nutzen die Social-Media-Kanäle für sich und reagieren auf Gruppen wie die Münchner Kulturkonsorten, um treue Besucher zu halten und neue zu gewinnen. Etwa 6500 Museen und Ausstellungshäuser sind dem Institut für Museumsforschung in Berlin zurzeit bekannt. Die Finanzierung erfolgt zu 90 Prozent durch Länder und Gemeinden. Deren Kassen sind leer, gespart wird an Kunst und Kultur. 'Mittlerweile nutzen fast all unsere Besucher unter 65Jahren Plattformen wie Facebook oder Twitter. Wenn wir die neuen Medien nicht bedienen, verlieren wir auch die Interessierten, die persönlich ins Museum kommen', stellt Silke Oldenburg vom Deutschen Museumsbund fest.

Zurzeit werden noch keine Experten für Neue Medien speziell für den Kulturbereich ausgebildet. Momentan bedienen hauptsächlich Volontäre und junge Auszubildende die sozialen Netzwerke. Das vorhandene Budget wird umverteilt. Bei der Installation von neuen digitalen Projekten seien Museen auf private Spenden und andere Drittmittel angewiesen, heißt es beim Deutschen Museumsbund. Auch wenn sich durch die Tweetups mehr Menschen für Ausstellungen interessierten, spüre man das nicht sofort durch höhere Besucherzahlen.

@#kukon: 'Ich bin nicht in ein bestimmtes Land gefahren. Ich bin aus einem bestimmten Land gefahren.' Dieser Satz eines jüdischen Einwanderers scheint Twitter-Nutzer Dieter Deubel besonders beeindruckt zu haben. Sofort wird sein Tweet von zahlreichen Nutzern kommentiert. Er folgte der Einladung der Kulturkonsorten und twittert seine Eindrücke in die virtuelle Museumswelt. Russische Diplome und Auszeichnungen, ein Kochbuch und Erinnerungsfotos der zurückbleibenden Familie. Im zweiten Ausstellungsraum können die Besucher persönliche Gegenstände von Münchner Bürgern sehen, die sie auf ihrem Weg nach Deutschland mitgenommen haben. Der Blick von vielen hebt sich nun, die schwere Wolldecke wärmte die Auswanderer auf der langen Reise nach Deutschland. Einige fotografieren sie mit ihrem Smartphone. Auch die Außenwelt soll an der Reise der jüdischen Einwanderer teilhaben. Unter dem Hashtag #kukon landet sie auf der Wall der Kulturkonsorten.

Das erste kulturelle Tweetup Deutschlands fand im September 2011 im Deutschen Museum in der bayerischen Landeshauptstadt statt. 'Das war eine Guerillaaktion. Die Verantwortlichen im Museum wussten zwar, dass wir da sind, aber keiner wusste so recht, was wir machen', beschreibt Mitbegründer der Kulturkonsorten, Christian Gries, die Anfänge. Als Plattform für Innovation, Wissen und Technik sei das Deutsche Museum perfekt für die Premiere geeignet gewesen. Und die Twitter-Gemeinde wurde aufmerksam: Tweetups in anderen Museen folgten. 'Wir wissen, wie vorsichtig gerade Kulturhäuser im Bezug auf Kanäle wie Twitter und Facebook sind, da dort oft Informationen ungefiltert an die Öffentlichkeit gelangen. Leider eben auch Falsches. Deshalb wollen wir ihnen eine seriöse und gut durchdachte Plattform bieten', sagt Gries.

'Wir überqueren nun die Grenze zu Deutschland': Piritta Kleiner führt die Teilnehmer in den letzten Teil der Ausstellung. Beim Grenzgang legt der ein oder andere sein Smartphone aus der Hand und probiert sich selbst als Einwanderer: Eine Maschine transkribiert den eigenen Namen ins Russische und erklärt die neue Bedeutung. 'Mit einem neuen Namen ausgestattet, den einem die deutsche Behörde aufgezwungen hat, verschwand für viele die eigene Identität Stück für Stück', erklärt Kleiner. Sehen, hören, ausprobieren - viele virtuelle Teilnehmer sind neugierig geworden und verkünden: 'Ich komme auf jeden Fall mal im Museum vorbei. Das will ich auch sehen.'

In den USA und auch in England gehören solche Social Media Days mittlerweile zum festen Programm der Museen. In Deutschland wächst die Anzahl der Museums-Tweetups: Inspiriert von den Kulturkonsorten in München, gründete Ulrike Schmid im März 2012 'KultUp' und twitterte sogar schon während eines Sinfoniekonzerts aus dem Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Bereits zwei Wochen vorher informierten Kenner der klassischen Musik die Twittergemeinde über Hintergründe zum Konzert, zu Musikern und Instrumenten. Welche Instrumente kommen zum Einsatz?

Welche Ausbildung haben die 118 Musiker des hr-Sinfonieorchesters? Beim HR ist man davon überzeugt, dass durch die Kultur-Twitter-Gemeinde neue Zielgruppen angelockt werden können. Auch die Schirn-Kunsthalle Frankfurt öffnete ihre Ausstellungsräume für 75 kunstinteressierte Twitterer, die vor Ort die virtuelle Welt mit Eindrücken und Diskussionsbeiträgen versorgte. 'Die Museen erkennen immer mehr, dass sich durch die Nutzung der Neuen Medien eine neue Zielgruppe entwickelt, die nach ihrer zunächst nur virtuellen Teilnahme an einem Tweetup natürlich auch vor Ort Kunst und Kultur erleben will', sagt Schmid. In Berlins Museen twittert #MuseUp, in Dresden das stARTem.

Nach gut einer Stunde beendet Kuratorin Kleiner die Reise auf den Spuren der jüdischen Einwanderer: 'Ich habe es mir schlimmer vorgestellt, doch ich hatte immer wieder Blickkontakt mit den Teilnehmern. Natürlich merkt man, wenn die Konzentration nachlässt, ich habe manche Details weggelassen und längere Pausen zum Tippen gelassen.' Die Twitterer packen ihre Smartphones ein, dann applaudieren sie. Auch Susanne Steiger, die von einer Bekannten auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht wurde. 'Das war ein toller Anlass mal wieder ins Museum zu gehen.' Den Rotwein beim anschließenden Erfahrungsaustausch genießt sie dann aber ohne Tweet.

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