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Regeln für ein tödliches Geschäft

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Die UN-Staaten verhandeln über Standards für den internationalen Waffenhandel. Viel dürfte dabei von den USA abhängen.

Es ist ein Milliarden-Geschäft und ein tödliches Business. 60, 70 Milliarden Dollar dürfte der globale Handel mit Waffen inzwischen umfassen. Schätzungsweise 2000 Menschen sterben weltweit Tag für Tag durch Waffen, die illegal verkauft worden sind. In New York hat nun der Versuch begonnen, den Handel mit dem Tötungswerkzeug durch ein paar verbindliche Regeln einzuschränken: Vertreter der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen verhandeln seit Wochenbeginn über den sogenannten Arms Trade Treaty (ATT), einen internationalen Waffenhandelsvertrag. Es ist der bisher ehrgeizigste Versuch der UN, Regeln für den internationalen Waffenhandel aufzustellen.

Bis Gründonnerstag soll der Vertragstext fertig und abgesegnet sein. Es gibt indes zwei Probleme: Alle, wirklich alle, müssen zustimmen. Es herrscht Konsensprinzip. Und ein erster Anlauf im Juli vergangenen Jahres ist schon gescheitert. Drei der fünf größten Waffenexporteure der Welt, Russland, China, vor allem aber die USA, hatten weiteren 'Gesprächsbedarf' angemeldet, wie es damals diplomatisch hieß. Und keiner weiß, ob dieser Gesprächsbedarf inzwischen befriedigt ist.


Über den Waffenhandel wird viel diskutiert

Das Abkommen würde zum ersten Mal international verbindliche Regeln aufstellen, die beim Handel mit Waffen beachtet werden müssten. 'Es gibt gemeinsame Standards selbst für den globalen Handel mit Sesseln', sagte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zur Eröffnung der neuen Verhandlungsrunde, 'aber keine Standards für den Handel mit Waffen'. So sollten künftig Staaten Geschäfte verbieten, wenn sie den Verdacht haben, dass die Waffen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder bei Menschenrechtsverletzungen eingesetzt würden. Verhindern sollten sie die Geschäfte auch, wenn die Gefahr besteht, dass die Waffen auf dem Schwarzmarkt landen, gegen Frauen und Kinder eingesetzt werden oder Korruption im Spiel sein könnte. Eine Meldepflicht soll eingeführt werden: Alle Regierungen müssten den UN künftig berichten, wie viel Waffen sie ins Ausland verkauft haben, und bescheinigen, dass die Geschäfte nicht gegen die Regeln des ATT verstoßen.

So sieht es jedenfalls der Vertragsentwurf vor, auf dessen Grundlage nun verhandelt wird. Deutschland steht da auf der Seite der Länder, die eine Aufweichung der geplanten Regeln in New York verhindern wollen. Berlin strebe ein 'weltweit verbindliches Abkommen mit hohen Standards' an, so ein Sprecher des Außenministeriums. Dafür hatte das Ministerium noch Ende Februar Experten aus 14 Ländern nach Berlin eingeladen, unter ihnen hochrangige Vertreter von Schlüsselstaaten wie den USA, Russland, Brasilien und China, um sie von der Notwendigkeit eines 'robusten Abkommens', wie es in der Diplomatensprache heißt, zu überzeugen.

Im Einzelnen sollen künftig acht Waffenkategorien der internationalen Kontrolle unterliegen: Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, großkalibrige Artillerie-Systeme, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Kriegsschiffe, Raketen und Abschussrampen sowie Kleinwaffen und leichte Waffen. Deutschland und andere Staaten wollen den Katalog noch erweitern und Munition sowie Waffenteile als eigene Kategorien aufführen. Das dürfte nicht auf allgemeine Gegenliebe stoßen. Es gibt vielmehr Versuche, die Kleinwaffen - also Gewehre und Pistolen - von der Kontrollliste zu streichen. Umstritten dürfte auch die Frage sein, wann Regierungen Geschäfte untersagen müssten. So wird es Vorstöße geben, den Verdacht auf Korruption oder Menschenrechtsverletzungen aus dem Prüfkatalog zu nehmen. Offen ist auch, wie verbindlich die Berichtspflicht der Staaten sein soll. Sollen sie jährlich berichten müssen? Sollen die Berichte öffentlich sein?

Das Schicksal des Abkommens dürfte vor allem von den USA abhängen. Washington hatte sich im Sommer nicht zu einer Zustimmung zum Vertrag durchringen können. Dem hatten sich dann China und Russland angeschlossen. Das Weiße Haus hatte befürchtet, sich im Präsidentschaftswahlkampf eine Blöße zu geben. Die amerikanische Waffenlobby lief bereits damals Sturm gegen das Abkommen. Auch im Senat, der den ATT mit Zweidrittelmehrheit absegnen müsste, rührte sich Widerstand. Allerdings hat sich nach dem Schulmassaker von Newtown das Klima gewandelt. Die Regierung Obama will in den USA selbst den Handel mit bestimmten Waffenkategorien und Munitionsarten einschränken. Deshalb erwarten Experten, dass sie dem ATT nun aufgeschlossener gegenüber steht. Außenminister John Kerry hatte vergangene Woche jedoch betont, dass die USA keine 'neuen Anforderungen' an amerikanische Waffenexporteure hinnehmen würden.

Kommentar: Die Kraft der Demokraten

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In der Debatte um ein NPD-Verbot verharmlost der FDP-Vorsitzende und Vizekanzler Philipp Rösler die Gefahr durch Rechtsextremismus in Deutschland und verhöhnt so dessen Opfer.

Die Rechtsextremen dürfen sich dieser Tage freuen. Denn die demokratischen Parteien zanken - quer über alle Lagergrenzen hinweg - lautstark untereinander, wie man der NPD am besten Herr werden könnte. Die CSU ereifert sich über die FDP, CDU-regierte Länder über die Bundesregierung, die SPD über die Koalition und die Bundeskanzlerin. Allein die Grünen halten sich zurück, wohlweislich. Schließlich sind sie in der Frage eines NPD-Verbotsverfahrens ebenso gespalten wie die Christdemokraten.



Vizekanzler Rösler (FDP) ist gegen ein NPD-Verbotsverfahren

Das ist ein trauriges Schauspiel. Traurig deshalb, weil die Politiker aus Bund und Ländern eine bedeutsame gesellschaftspolitische Frage - den Kampf gegen rechtsextremes, ausländer- und menschenfeindliches Gedankengut - zur parteipolitischen Profilierung missbrauchen. Dabei verbreiten sie viel Unsinn und führen die Bürger an der Nase herum. Mit dem Nein zu einem eigenen Verbotsantrag hat die Regierung nicht, wie Kritiker rügen, die Einheit der Demokraten aufs Spiel gesetzt. Sie hat in einer politisch und juristisch schwierigen Thema entschieden, dass sie das Risiko eines neuerlichen Scheiterns beim Bundesverfassungsgericht nicht eingehen will. Wer das als Zeichen für mangelndes Engagement im Kampf gegen rechts interpretiert, ist entweder einfältig oder böswillig. Den einzigen Vorwurf, den man der Bundesregierung machen kann, ist ihr Zögern und Zaudern. Ihr Nein hätte sie schon im Dezember kundtun können. Auch mindert die Bundesregierung mit ihrer Absage nicht die Erfolgschancen der Länderinitiative. Für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist es völlig unerheblich, wie viele Anträge eingereicht werden. Hier zählt Qualität, nicht Quantität.

Das allerdings gibt dem Vizekanzler und FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler nicht das Recht, die Befürworter eines NPD-Verbots zu schmähen. Sein törichter Satz, Dummheit lasse sich nicht verbieten, verharmlost nicht nur die rechtsextreme Gefahr und verhöhnt deren Opfer. Er diskreditiert auch all jene Politiker gerade in Ostdeutschland, die den braunen Banden Einhalt gebieten wollen. Die Ministerpräsidenten wissen natürlich sehr wohl, dass man faschistisches Gedankengut nicht mit einem Richterspruch aus der Welt schafft. Aber ein Verbot würde immerhin dafür sorgen, dass die NPD nicht mehr mit Staatsgeldern finanziert wird.

Befürworter und Gegner haben gute und respektable Gründe für ihre Positionen. Über die unterschiedlichen Sichtweisen kann und darf man streiten. Aber den jeweils Andersdenkenden als dumm oder feige zu denunzieren, ist unwürdig. Die Parteien haben allen Grund, sich nicht zu verfeinden; auch und gerade nicht im Bundestag, der im April entscheiden soll, ob er einen eigenen Anlauf wagt. Denn der Kampf gegen Neonazis braucht vor allem die Geschlossenheit der Demokraten - auch dann, wenn die neue Klage scheitern sollte, sei es in Karlsruhe oder vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Feind sitzt nicht im Bundestag. Er steht nach wie vor ganz rechts außen.

Konklave der Komasäufer

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Tausend Neonbikinis wippen im Takt, am Pool steht ein weißer Flügel und Disney-Girls erleben Momente der Transzendenz. Was bleibt nach dem Ende von allem? Harmony Korines Film "Spring Breakers" geht dieser Frage nach.

Die Sonne strahlt, der Alkohol spritzt glitzernd durch die candyfarbene Luft, und als der Kirmestechno endlich wieder einsetzt, wippen in Zeitlupe tausend Neonbikinis im Takt. Willkommen am Strand von Florida, willkommen bei 'Spring Breakers'.

Der unwahrscheinlichste Film des Jahres wirkt auf den ersten Blick wie ganz normales Privatfernsehen, Sendeplatz irgendwo zwischen 'Jersey Shore' auf MTV und 'Saturday Night - so feiert Deutschlands Jugend' auf RTL 2: junge Körper, die einander am Strand mit Sekt überschütten, sich frisches Kokain vom Sixpack lecken und mit blitzenden Augen von der Erleuchtung künden: 'Feels as if the world is perfect, like it"s never gonna end.'

Darüber wabert und wobbelt dann die brachiale elektronische Musik von Großraumdiscogott Skrillex. So weit, so stimmig. Die erste Irritation liefern die Hauptdarstellerinnen. Man glaubt es kaum, als mitten in diesem Garten der Lüste plötzlich der Name einer kleinen Disneyfee erscheint: Selena Gomez, bekannt geworden als niedliche Alex in der Serie 'Die Zauberer vom Waverly Place', jüngste UNICEF-Botschafterin aller Zeiten und Freundin des Kleine-Mädchen-Schwarms Justin Bieber. Ein saubereres Image kann man eigentlich gar nicht haben: Glaubt man den PR-Leuten des Micky-Mouse-Konzerns, war sie die gesamte Pubertät über nicht mal beim Duschen nackt. Und jetzt das.



Im März ist "Spring Break"-Zeit. Der Regisseur und Drehbuchautor Harmony Korines hat den Frühlingsfeierern einen Film gewidmet.

Aber Gomez ist nicht allein. Als nach fünf unglaublichen Minuten Musikvideo die Handlung einsetzt, sieht man Vanessa Hudgens und Ashley Benson, auch sie früher Kinderstars, die eine bei Disney, die andere beim nicht weniger verklemmten ABC Family Channel. Jetzt sitzen sie in einer Vorlesung, getaucht in das schöne, blassblaue Licht von einhundert Laptops. Sie langweilen sich und beginnen zu träumen: Von den Frühlingsferien. Von einer gemeinsamen Reise nach Florida. Und ja, sogar von großen Schwänzen - Disney World ist dann doch ziemlich weit weg.

Das wäre also die erste Unwahrscheinlichkeit: Irgendein Regisseur scheint es geschafft zu haben, die Unschuld selbst zu einem dreckigen Film zu verführen - und das gleich dreimal. Hut ab.

Für einen ordentlichen Ausflug an den Strand fehlt jetzt nur noch das Geld. So tun die Mädchen, was kleine Mädchen in solchen Fällen eben tun: Sie klauen sich ein Auto und überfallen mit Hämmern bewaffnet ein Fastfood-Restaurant. Während die brave Faith (Gomez) noch in der Kirchengruppe betet, ziehen die drei anderen (Hudgens, Benson und Rachel Korine) sich schon die Strumpfmasken über: 'Keine Angst', flüstern sie, 'das ist alles genau wie in einem beknackten Videospiel. Oder einem Film.' Dann kreist der Fluchtwagen langsam ums Gebäude, im Radio die Nicki-Minaj-Hymne 'Moment 4 Lyfe', während innen wie in einem gut ausgeleuchteten Diorama die Gewalt explodiert: Girls Gone Wild, Crime Edition.

Es läuft natürlich hervorragend. Die Welle aus Adrenalin und gestohlenem Bargeld trägt die Vier mitten ins Herz der Schönheit: nach St. Petersburg, Florida, wo College-Studenten aus dem ganzen Land im Frühling ein Konklave der Komasäufer abhalten, ganz ähnlich wie ihre europäischen Brüder und Schwestern in Lloret Del Mar, auf Ibiza oder am Ballermann.

Nur besser: 'Langsam wirkt das hier wie der spirituellste Ort, an dem ich jemals war', wispert ein Mädchen-Voiceover zu einer Zeitlupenmontage aus Partyszenen: 'Ich glaube, wir haben uns hier endlich selbst gefunden ... (dazu Bilder vom Vespafahren in der Sonne) ... wunderschöne Dinge gesehen ... (Pinkeln in den Rinnstein) ...neue Freunde gefunden ... (Tanzen) ... und alle waren süß, warm und freundlich (im Takt wippende Hintern)' - die Stimme klingt wie die von Faith, der Inhalt eher nach Ecstasy.

Tatsächlich sind all die lächerlichen Signifikanten der Enthemmung auf eine unerwartete, abstrakte Art: wunderschön. Diese Welt scheint von innen zu leuchten, die Farben kippen satt ins Neon, sensationelle Kamerafahrten übertragen den Trubel vom Strand direkt in den Kopf. Es waren offensichtlich Meister am Werk: an der Kamera Benoit Debie, der für Gaspar Noé den wohl längsten, härtesten und glaubwürdigsten Trip der Kinogeschichte gedreht hat ('Enter the Void'), und am Mischpult Cliff Martinez, dessen Soundtrack die Zuschauer schon bei 'Drive' durch die Straßen von Los Angeles peitschte.

Doch dann löst die Polizei die Party auf und die Mädels werden verhaftet: Drogen, überall Drogen. In Bikinis stehen sie vor dem Richter. Er verurteilt sie zu einer Geldstrafe, andernfalls müssen sie für eine weitere Nacht in den Knast: 'Das hätte nicht passieren dürfen,' sagt wieder das Voiceover, 'so darf dieser Traum nicht enden.'

Tut er auch nicht, im Gegenteil: Jetzt geht"s erst richtig los. Auftritt von Hollywood-Wunderkind James Franco - um ihn zu erkennen, muss man allerdings viermal hingucken. Er sieht aus, als hätte sich der 'Beißer' aus den alten Bond-Filmen eine afrikanische Flechtfrisur zugelegt: er trägt blonde 'Cornrows' und hat mehr blitzendes Metall auf den Schneidezähnen als ein alter Benz am Kühlergrill.

Alien jedenfalls übernimmt die Geldstrafe der vier Schönheiten und entführt sie in seinem tiefer gelegten Chevy Camaro mit Dollarzeichen auf den Felgen. Faith, irritiert und verängstigt von seinem Balzverhalten - Wedeln mit Geldbündeln, Rauschgiftsäcken und semiautomatischen Maschinengewehren -, nimmt den nächsten Bus nach Hause. Doch für die anderen Mädchen beginnt genau hier, mit Aliens leuchtendem Prollo-Prunkbett, flotten Sado-Maso-Dreiern und dem sich anbahnenden Territorial-Krieg mit einem Großdealer (Gucci Mane), jene Art von Ballett, von dem sie eigentlich ihr ganzes Leben lang geträumt haben. In der vielleicht schönsten Szene sitzt Alien am Pool an einem weißen Flügel und spielt die Britney-Spears-Ballade 'Everytime'. Die Bikinigirls tanzen dazu im warmen Abendlicht, mit pinken Skimasken und AK47-Gewehren. Es ist, mal wieder, ein Moment der reinen Transzendenz.

Der Mann, dem auch diese letzte Unwahrscheinlichkeit gelingt, der aus Britney Spears die Göttin und aus der Bikini-Teenie-Exploitation die Kunst herausholt, heißt Harmony Korine. Er war, bis jetzt, eine halb vergessene Independent-Legende. Nach seinem Drehbuch für den HIV-Schocker 'Kids' (1995) von so unterschiedlichen Figuren wie Werner Herzog, Björk und Sonic Youth verehrt, wurden seine zunehmend obskuren Filme zuletzt sogar von wohlwollenden Kritikern nur noch als 'Spektakel' bezeichnet, 'das man sich am besten im Vollrausch anguckt'. Klar, dass es nur so einem gelingen konnte, unter den Bedingungen von 2013 noch mal den American Dream zu verfilmen. Was bleibt, wenn es vorbei ist mit Fortschritt und Moral, Wahrheit und Gott? Nur Britney Spears, straffe Disney-Hintern und das satte Geräusch einer vollautomatischen Waffe beim Durchladen: Klick. Was die Kultur an Tiefe verliert, gewinnt sie an glitzernder Oberfläche zurück. Toll.

Spring Breakers, USA 2012 - Regie und Buch: Harmony Korine. Kamera: Benoît Debie. Mit James Franco, Selena Gomez, Vanessa Hudgens, Ashley Benson, Rachel Korine. Wild Buch, 93 Minuten.

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Immer mehr Menschen buhlen über spezielle Internetplattformen um Kundschaft auf der ganzen Welt. Ihre Aufträge erledigen sie zu Zeiten und an Orten, die eben gerade ins Leben passen.

München - Wenn Gary Swart Recht behält, wird in wenigen Jahren jeder Dritte nicht mehr ins Büro gehen. Die Menschen werden sich zu Hause an den Schreibtisch oder im Internetcafé an den Computer setzen. Frühmorgens, tagsüber oder nachts, wann es ihnen passt. Sie werden Webseiten programmieren, Bücher übersetzen und Werbekampagnen entwerfen. Sie werden sich in Videokonferenzen mit Menschen besprechen, die an diesem Tag oder auch für einige Monate Kollegen oder Vorgesetzte sind. Wenn das Projekt abgeschlossen ist, werden sie sich nach neuen Aufträgen umsehen. Ihr Arbeitsleben wird ausschließlich im Internet stattfinden.



Arbeiten in der Zukunft - immer und überall.

Swart ist Chef der Online-Arbeitsvermittlung Odesk, die weltweit Berufstätige und Unternehmen zusammenbringt. Es gehört also zu seinem Job, den virtuellen Arbeitsalltag vorherzusagen. Doch in einer Gesellschaft, in der sich immer mehr Beschäftigungsverhältnisse vom Acht-Stunden-Tag entfernen, in der Menschen ihre Arbeit zunehmend flexibel gestalten wollen, ist es durchaus vorstellbar, dass sich auch das Büro in den virtuellen Raum verschiebt. Odesk hat im vergangenen Jahr 35Millionen Arbeitsstunden abgerechnet, achtmal mehr als noch vor drei Jahren. Auch über Elance, eine ähnliche Plattform, suchten Unternehmen 2012 mehr Arbeitskräfte online, die Nachfrage stieg im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent.

Es ist eine Arbeitswelt, in der nicht mehr nur Rohstoffe nach Bedarf geordert werden - sondern auch Arbeitskraft. Unternehmen profitieren davon. Über die Vermittlungsportale finden sie Fachkräfte in aller Welt, ohne sie fest anstellen zu müssen. Das Technologie-Start-up im Silicon Valley muss dann nicht um die begehrten und vor allem teuren Programmierer buhlen, die an den Universitäten in der Region ihren Abschluss machen. Es kann die Aufträge auch an Entwickler in Indien vergeben. Und der deutsche Mittelständler tut sich leichter, bestimmte Projekte auch mal außerhalb des eigenen Unternehmens erledigen zu lassen. Die Mehrheit der Auftraggeber auf Odesk seien Unternehmen mit weniger als 100 Beschäftigten, die sich schwertun, den festen Mitarbeiterstamm in ihrer Region auch mal kurzfristig nach Auftragslage aufzustocken, sagt Swart. Odesk sammelt bei ihnen das Geld ein und leitet es an die Mitarbeiter weiter. Dafür bekommt die Plattform eine Provision: zehn Prozent, die auf den Lohn für jede bezahlte Stunde aufgeschlagen werden. Bislang haben sich etwa 550000 Firmen und drei Millionen Mitarbeiter weltweit angemeldet.

Auch für Arbeitnehmer bringt das Vorteile: Den Bewerbungsprozess verändern Arbeitsvermittlungen im Internet radikal, Unternehmen wählen Mitarbeiter auf den Portalen nicht mehr hauptsächlich nach Noten und Berufserfahrung aus, sondern danach, wie andere Auftraggeber deren Arbeit bewerten: ob sie Projekte pünktlich und zuverlässig erledigt haben. Marian Heddesheimer aus Lübeck beispielsweise hat sich viele Kenntnisse selbst beigebracht. Bei Odesk bietet er an, Internetseiten und Softwaremodule zu entwickeln. 'Wenn ich mich bewerbe, schicke ich dem Auftraggeber die besten Seiten, die ich gebaut habe', sagt er.

Als fest angestellter IT-Berater hatte er immer wieder gespürt, dass es nicht zu seinem Arbeitsrhythmus passte, acht Stunden im Büro zu sitzen, egal ob viel zu tun war oder auch mal nichts. Auch deshalb hat er sich selbständig gemacht. Vor etwa drei Jahren seien die Aufträge wegen der Krise ausgeblieben. Heddesheimer meldete sich bei Online-Vermittlungen an - und konnte plötzlich auch für Unternehmen in den USA oder Australien arbeiten. Um mit ihnen zu sprechen, arbeitet er auch mal früh am Morgen oder spät am Abend. Tagsüber macht er dafür mehr Pausen.

Mit der Auswahl an Kunden stieg für Heddesheimer die Konkurrenz. Ein großer Teil der Menschen, die bei Odesk angemeldet sind, lebt in Schwellenländern. Viele Programmierer aus China, Indien und von den Philippinen verlangen weniger als zehn US-Dollar als Stundenlohn. Heddesheimer kann davon nicht leben. Anfangs hat er 15 Dollar pro Stunde genommen, inzwischen kann er 29Dollar verlangen. 'Das ist ein Kompromiss zwischen den Billigpreisen von anderen und dem, was ich eigentlich verdienen sollte.' So viel Geld wie mit einer festen Anstellung könne er über das Portal nicht verdienen. Aber er verreise kaum, habe kein Auto.

Auch die Arbeitsabläufe im virtuellen Raum unterscheiden sich von denen im realen Büro. Telefon, E-Mails, Chat und Videokonferenzen ersetzen persönliche Kontakte, bei jedem Projekt kann es sein, dass man mit neuen Kollegen zusammenarbeitet, die man im echten Leben nie getroffen hat. 'Das zwingt alle dazu, sich klarer auszudrücken', sagt Heddesheimer. Schwammige Anweisungen wie 'Überarbeiten Sie das noch mal!' blieben aus.

Völlig frei in ihrer Arbeit sind Mitarbeiter aber auch im virtuellen Raum nicht. Über Odesk bekommt der Auftraggeber sechsmal in der Stunde ein Foto des Bildschirms des Mitarbeiters übermittelt. So kann er sehen, wie sich das Projekt entwickelt. Oder ob der Beschäftigte gerade Zeit bei Facebook verbringt, die ihm nicht bezahlt werden muss. Kontrolle, sagt Gary Swart, sei das nicht, die Mitarbeiter hätten nichts dagegen: 'Die Leute möchten jemandem berichten.' Die Beziehung zum Chef und zu Kollegen ist dennoch unverbindlicher, wenn man sich nicht täglich im Büro begegnet. 'Besonders Unternehmer-Typen, die nicht immer einen Schubser brauchen, werden mit dieser Arbeit glücklich', sagt Jan Ansink. Sein Start-up Expertcloud ist ein virtuelles Callcenter, selbständige Mitarbeiter beantworten von zu Hause aus Kundenanfragen. Über Facebook, eine eigene Plattform und Gespräche mit Teamleitern, die auch mal in die Kundentelefonate reinhören, will Expertcloud ein Gemeinschaftsgefühl unter den Mitarbeitern aufbauen: 'Sie sollen sich nicht verlassen fühlen, wir wollen keine Einzelkämpfer', sagt Ansink.

Im virtuellen Raum müssten Unternehmen stärker um die Mitarbeiter werben, weil sie ihnen keine feste Beschäftigung mit Aufstiegschancen bieten, sagt er. Das kann allerdings nur aufgehen, solange die Auftragnehmer nicht unmittelbar miteinander konkurrieren. Expertcloud vermittelt die Jobs, bei Odesk treten Unternehmen und Mitarbeiter direkt in Kontakt. Marian Heddesheimer jedenfalls kann nicht darauf warten, dass Unternehmen ihn umgarnen. Er sucht sich seine Projekte selbst.

Ermittlungen gegen Microsoft

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Mitarbeiter des US-Konzerns Microsoft sollen Schmiergeld gezahlt haben. Die Vorwürfe kommen von einem Informanten aus China.

Die Spuren führen nach China, Rumänien und Italien. Beweise gibt es noch nicht, nur einen Verdacht: Der amerikanische Technologiekonzern Microsoft soll in eine Schmiergeldaffäre verwickelt sein. Das Justizministerium in Washington und die Börsenaufsicht SEC prüfen Vorwürfe, wonach sich der Windows-Hersteller mit dubiosen Geschäftspartnern eingelassen hat. Wie US-Medien übereinstimmend berichten, befinden sich die Ermittlungen im Anfangsstadium. Es ist unklar, ob es jemals zu einer Anklage kommt.

Dennoch nimmt Microsoft die Vorwürfe ernst. Ohne sich konkret über die laufenden Ermittlungen zu äußern, schriebt der Justiziar John Frank in einem Unternehmensblog: 'Wie andere große Unternehmen mit weltumspannenden Aktivitäten, erhalten wir gelegentlich Hinweise auf mögliches Fehlverhalten von Angestellten und Geschäftspartnern, und wir gehen diesen Hinweisen nach, woher auch immer sie stammen.' In der Regel zerschlage sich der Korruptionsverdacht am Ende. Weder das Justizministerium noch die SEC haben sich bisher zu dem Fall geäußert.


Microsoft wird vorgeworfen, sich mit dubiosen Geschäftspartnern eingelassen zu haben.

Auslöser der Untersuchung war offenbar ein Tipp eines Informanten in China. Nach Informationen des Wall Street Journals behauptet der Whistleblower, von einem Manager einer Microsoft-Tochter den Auftrag erhalten zu haben, chinesische Beamten zu bestechen. Ziel soll es gewesen sein, öffentliche Aufträge an Land zu ziehen. Intern hat Microsoft die Anschuldigung offenbar schon vor ein paar Jahren geprüft, konnte aber keinerlei Vergehen feststellen. Zugleich gehen die US-Ermittler aber noch weiteren Hinweisen nach. So untersuchen sie, ob Vertriebspartner des Unternehmens aus Seattle in Rumänien versucht hätten, sich mit Schmiergeld Software-Aufträge vom Telekommunikationsministerium des Landes zu sichern. Ebenso werden Kontakte zu Beratern in Italien durchleuchtet.

Die Regierung von Präsident Barack Obama hat angekündigt, mit besonderer Härte gegen Wirtschaftskriminalität vorzugehen. Dennoch kommt es nur in Ausnahmefällen zu einem Prozess: Die meisten Vorwürfe werden außergerichtlich ausgeräumt. Dabei einigen sich beide Seiten auf ein Schuldeingeständnis und ein Strafgeld, dessen Höhe von Fall zu Fall erheblich schwankt. Besonders hart traf es den deutschen Industriekonzern Siemens im Jahr 2008. Das Unternehmen räumte ein, Schmiergeldkonten verwaltet zu haben, und verpflichtete sich, 800 Millionen Dollar an die US-Behörden zu zahlen. Die Deutsche Telekom kam dagegen vor zwei Jahren wesentlich glimpflicher davon. Der Konzern war über eine ungarische Tochterfirma in einem Korruptionsfall in Makedonien und Montenegro verwickelt und legte das Verfahren mit 64 Millionen Dollar bei. Eine groß angelegte Schmiergeldermittlung läuft gegen den Einzelhändler Wal-Mart. Jahrelang soll das Unternehmen sein Wachstum in Mexiko mit Schmiergeld beschleunigt haben. Anders als im Fall Microsoft deutet vieles darauf hin, dass auch die Konzernführung von den Machenschaften wusste.

Das Gesicht ist eine Maske aus Latex

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Keine Sensation, und gerade deshalb aufregend: die Foto- und Videokünstlerin Gillian Wearing in München.

Help steht auf dem Stück Papier, das der englische Polizist in die Kamera hält. 'We are hardcore' haben zwei Jugendliche auf ihr Blatt gekritzelt, der junge Mann teilt mit, dass er 'queer + happy' ist. Und der Typ in Nadelstreifen hat sich für das Wort 'desperate', verzweifelt, entschieden, als Gillian Wearing ihn bat, ein Schild zu malen, auf dem steht, was er zu sagen habe. Die Künstlerin erzählt, er sei danach eilig weggelaufen, fast verstört. Andere posieren sichtbar stolz auf ihre Einfälle - wie die Dunkelhaarige, die schreibt, dass sie vielleicht diesen Satz beenden werde, niemals jedoch ihre Gedanken. Die Foto-Serie, mit der jetzt eine Retrospektive von Gillian Wearing in der Münchner Sammlung Brandhorst einsetzt, dieses Experiment in Londoner Fußgängerzonen muss als eines der meistkopierten Kunstwerke der Nachkriegszeit gelten. Nicht nur Kurzfilmer, auch Werber und PR-Agenturen haben wieder und wieder Menschen mit handgebastelten Statements fotografiert. Doch die ausgetüftelten Botschaften der Kreativindustrie bleiben blass gegenüber den Resultaten des künstlerischen Ur-Experiments. Wobei sich nicht nur der Einfallsreichtum und der Charme der Londoner hier abbildet -die Serie, entstanden in den Jahren 1992 bis 1993, ist so etwas wie der Beweis dafür, wie sehr die Menschen, die Gillian Wearing porträtiert, die Einladung nicht als entblößend empfinden, sondern als Aufmerksamkeit schätzen. Als Angebot, das sie gerne annehmen.


Gilian Wearings Arbeiten sind noch bis zum siebten Juli im Museum Brandhorst zu sehen.

Es ist wichtig, das festzuhalten. Denn Gillian Wearing interessiert sich bald darauf fürs Extreme: Filmt prügelnde Eltern, Betrunkene, hilflose Mütter, pöbelnde Jugendliche. Menschen erzählen ihr vor laufender Videokamera von ihren sexuellen Vorlieben, von peinlichen Momenten, heimlichen Wünschen. Das war Mitte der Neunziger Jahre ungewohnt, lange bevor Fotografen wie Martin Parr oder Richard Billingham berühmt wurden, die TV-Beichte erfunden war und das Privatfernsehen Super-Nannys auf komplizierte Familien losließ. Doch Gillian Wearing spürt den Outcasts der britischen Gesellschaft nicht aus Voyeurismus nach - ihr Werk sucht Nähe, zeigt Sympathie und lässt die Menschen selbst zu Wort kommen, einen Ausdruck finden.

Einmal erzählt sie in ein paar zufälligen Sekunden einer Session das Drama eines zu frühen Todes. Das bisschen Footage, die sie von Lindsey aufnehmen konnte, bildet schmerzhaft die Sehnsucht ab, mehr von dieser jungen Frau zu erfahren, die Gillian Wearing mit einer Gruppe von Alkoholikern zu Probeaufnahmen ins Studio gebeten hatte. Doch bevor die Künstlerin sie noch einmal treffen konnte, starb Lindsey an Leberzirrhose und Lungenentzündung, wie ihre Schwester erzählt, deren frei formulierte Erinnerungen an eine Wohnung voller Blut und die Zehn-Minuten-Beerdigung Gillian Wearing dann als Tonspur für die kurze schwarz-weiße Aufnahme verwendet. Wie eine kostbare Zeugenaussage bleibt die Geschichte ungekürzt, stattdessen zieht Gillian Wearing das Bildmaterial für 'Prelude' etwas in die Länge: 'Lin' hat sich in der Großaufnahme offensichtlich nicht unwohl gefühlt. Beim Lächeln zeigte sie die breite Zahnlücke, sie trank Dosenbier, rauchte, hatte die nächste Zigarette schon hinterm Ohr bereit. Dass dieses Leben nun von seinem Ende her erzählt wird erinnert zwar durchaus an die - sehr britische - Erzähltradition der Moritat, mehr aber noch an den Ton eines Charles Dickens oder die sozialkritischen 'moralischen Bilderfolgen' von William Hogarth. Warum die eine Zwillingsschwester noch lebt, die andere aber krepiert, muss die Kunst nicht erklären, wo es ihr gelingt, die beiden noch einmal zu zeigen.

Gillians Wearings Kunst wurde so zum Gegenbild. Nicht nur, weil sie im boomenden Millenium-London auf die Ränder der Gesellschaft fokussierte, sondern auch, weil sie sich der Verwandtschaft zur populären Young British Art verweigerte, der sie als 1963 geborene Absolventin des Goldsmith-College eigentlich eingeboren sein müsste. Doch hat sie sich ferngehalten vom Hype und aller funkelnden, marktgerechten Kunstproduktion, blieb bei Video und kleinformatiger Fotografie und setzte auf die raue Ästhetik einfachster Effekte. Dass sie den Film, der 'Sacha and Mum' (1996) bei einer Prügelei im Wohnzimmer zeigt, rückwärts laufen lässt, akzentuiert häusliche Gewalt als Choreografie, statt diese zutiefst gestört wirkende Mutter-und-Tochter-Beziehung dem Voyeurismus auszuliefern. Wie auch die einfache Vertauschung der Stimmen bei '2 into 1' (1997), einem Gespräch mit einer Mutter und ihren beiden Söhnen. 'Ich finde, sie erpresst uns ziemlich', sagt Hilary mit der Stimme ihres Sohnes Alex. Der kontert mit Hilarys Beobachtung, dass Liebe vielleicht 'die normale, vorwiegende Empfindung' sei, 'aber manchmal empfindet man wirklich Hass, man hasst sie'. Das Unsagbare, das sich hier ausdrückt, gewinnt, disloziert, ausgesprochen von der Gegenseite, eine irritierende Dimension.

Die Starrheit der Rollenverteilung spielt auf die klassischen Muster der Tragödie an. Die Zugehörigkeit zu Generationen, die Schicksale scheinen unausweichlich. Es ist ein theatralisches Verständnis von Gesellschaft, aus dem sich auch die intensive Beschäftigung mit dem Motiv der Maske ergibt, die bei Gillian Wearing einsetzt, nachdem sie 1995 mitten in der Stadt einer Frau mit einem starren, weiß bandagierten Gesicht begegnete, die sie mit der Kamera kurz verfolgte. Ein paar Tage später läuft sie als Hommage an die Unbekannte selbst maskiert durch ihr Viertel.

Wer ihr nun von seinem 'Trauma' (2000) beichtet, darf sich hinter den starren Zügen einer Maske tarnen, bald lässt sie sich selbst aus Latex die Gesichtszüge anderer anpassen: Die Porträts zeigen sie als Robert Mapplethorpe und Andy Warhol, verstörender sind aber die Aufnahmen, in denen sie in die Haut ihres Großvaters schlüpft oder ihrer noch jungen Mutter.

Kurator Bernhart Schwenk kann im Museum Brandhorst diese pastellhell gerahmten Großfotos direkt zwischen Warhols Porträts und Siebdrucke hängen. Wobei Wearings Konzept irritierenderweise fast obsessiv wirkt: Irgendwann posiert Gillian Wearing auch mit dem Abguss ihres eigenen Gesichts. Die umfassende Retrospektive gewinnt im Untergeschoss der Sammlung Brandhorst - erst in unmittelbarer Nähe zur jüngeren Kunstgeschichte wird der Abstand sichtbar, in dem sich dieses Werk entfaltet.

Dass die Schau gegenüber den vorherigen Stationen Düsseldorf und London etwas verknappt wurde, steht dem Werk gut an - das, mit wachsendem Einfluss, unkonzentrierter wurde, sensationalistischer: Inzwischen, aber das zeigt nur der Katalog, gießt Gillian Wearing auch Bronzen. Was wirkt, als habe sie ihrem eigenen Werk einen Grabstein gesetzt.

Die Politik der großen Scheine

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Vieles spricht dagegen, dass Zyperns Parlamentarier wirklich das Wohl der Kleinsparer im Sinn haben.

Im 'Checkpoint Charlie Berlin' sind alle Tische besetzt nach der Abstimmung in Zyperns Parlament. Vor dem Abgeordnetenhaus waren tausende Demonstranten aufgezogen, viele hielten Plakate mit Verwünschungen der deutschen Kanzlerin hoch. Aber in dem beliebten Souvlaki-Restaurant in Nikosias Innenstadt, das die Erinnerung an die deutsche Teilung im Namen trägt, ist von Deutschenfeindlichkeit nichts zu spüren. Auch nicht von Katastrophenstimmung. Nur das Bier im Checkpoint Charlie, unweit der Demarkationslinie zum türkischen Teil der Stadt, geht an diesem turbulenten Abend zu früh zur Neige. Protest macht durstig.


Wie es mit Zyperns Kleinsparern weiter geht, ist bisher unklar

Am Mittwochmorgen sehen die Zyprer dann schon zum Frühstück den Erzbischof auf allen TV-Kanälen. Chrysostomos II. hat in aller Früh den Präsidenten Nikos Anastasiadis besucht. Beim Verlassen des Präsidentenpalasts sagt der höchste Vertreter der orthodoxen Kirche auf der Insel, 'für das Vaterland' sei er bereit, den gesamten Besitz von Kirchen und Klöstern auf Zypern 'zu beleihen'. Zypern solle auf eigenen Füßen stehen, meint der Mann noch - und solle gute Beziehungen zu Russland pflegen. Die Kirche ist größter Anteilseigner der zyprischen Hellenic Bank und hat den Rettungsplan der Euro-Gruppe vehement kritisiert. Die Zyprer gelten nicht als sehr religiös, trotzdem hat die Kirche beträchtlichen Einfluss. Ihre Führung war 2004 auch strikt gegen den UN-Plan zur Wiedervereinigung der Insel.

Informierte Kreise erzählen in Nikosia, der erst kürzlich gewählte Anastasiadis wollte den Erzbischof bitten, über Moskaus Patriarch Kyrill I. ein gutes Wort bei Russlands Präsident Wladimir Putin einzulegen für das vor dem Staatsbankrott stehende Zypern. Anastasiadis, so berichten zyprische Zeitungen, hatte Putin in einem halbstündigen Telefonat in der Abstimmungsnacht persönlich über die letzten Entwicklungen unterrichtet. Finanzminister Michalis Sarris befindet sich schon seit Dienstag in Moskau. Zypern hofft, nicht nur eine Verlängerung eines schon 2011 von Russland gewährten Kredits von 2,5 Milliarden Euro zu erreichen. Moskau soll auch Interesse an den Gasfeldern vor Zyperns Küste haben. Gazprom-Flaggen gab es am Dienstagabend auch vor dem Parlament, wo 36 Abgeordnete gegen das EU-Hilfspaket stimmten und keiner dafür. Die anwesenden 19 Vertreter der Partei Disy von Anastasiadis enthielten sich.

Wie ein 'Plan B' für eine Rettung Zyperns mit Hilfe von EU und Internationalem Währungsfonds aussehen könnte, bleibt zunächst ein großes Rätsel. Niemand weiß, wie Zypern den geforderten Eigenanteil von 5, 8 Milliarden Euro erbringen könnte, zusätzlich zur Kredithilfe von zehn Milliarden Euro. Im Präsidentenpalast wurde eine Nationalisierung von Pensionsfonds erwogen. In Brüssel hatte Zypern zuvor schon angeboten, künftige Gaseinnahmen als Sicherheit einzusetzen, damit aber keine Resonanz gefunden.

Weiterhin gibt es Streit über die Haltung der Euro-Retter gegenüber Zypern. Der Deutsche Hubert Faustmann, Chef der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung auf Zypern, hält die Politik der Euro-Gruppe für 'völlig falsch'. Die Zwangsabgabe auf alle Bankkonten in Zypern habe zwar aus Gerechtigkeitsgründen etwas für sich. 'Warum wurde das aber dann nicht auch von den Iren verlangt?', fragt Faustmann. Brüssel habe einen 'Riesenbock' geschossen, weil niemand den enormen Geldabfluss von der Insel einkalkuliert habe.

Ist das wirklich so? 'Ohne eine Verringerung der Größe des überdurchschnittlich großen Bankensektors würden dauerhaft hohe Risiken für die Solvenz des zyprischen Staates bestehen bleiben', schrieb das Bundesfinanzministerium an den Bundestag zur Erläuterung der Euro-Gruppen-Beschlüsse. Ein Hilfsprogramm für Zypern sähe daher vor, den Bankensektor 'bis zum Jahr 2018 deutlich auf EU-Durchschnitt zu verkleinern'. Und zwar durch den Verkauf des griechischen Geschäfts der zyprischen Banken, außerdem durch 'die weitgehende Reduzierung des internationalen Geschäfts der zyprischen Banken und die Rückführung des einheimischen Geschäfts der zyprischen Banken auf den zur Finanzierung der zyprischen Realwirtschaft notwendigen Umfang'. Genau das aber wollten die Abgeordneten des zyprischen Parlaments nicht. Die Bankgeschäfte tragen wesentlich zu Zyperns Ökonomie bei. Politik und Finanzwirtschaft sind zudem eng miteinander verflochten.

Und wie sieht Zyperns Plan aus für den Fall, dass es keine Rettung gibt? 'Es gibt keinen Plan B', sagt ein kundiger zyprischer Finanzexperte am Mittwochmorgen. Den ganzen Tag über wird dann beraten. Die Parteiführer tagen mit Vertretern der Zentralbank. Auch mit Vertretern der Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF wird in Nikosia konferiert. Aus Moskau kommt nur Nebulöses. Schon unter der kommunistischen Akel-Regierung, die Anastasiadis" konservative Disy erst vor drei Wochen abgelöst hat, wurde mit Moskau über einen Verkauf der kriselnden Cyprus Popular Bank verhandelt, Moskau war das Geldinstitut aber nicht solvent genug. Zudem verlangte der Kreml schon mit dem ersten Kredit etwas, das Nikosia nicht gewähren wollte: Informationen darüber, wer wie viel Geld angelegt hat. Nicht alle Russen, die ihre Millionen auf die Insel gebracht haben, sind Freunde Putins. Doch diese Auskunft wäre für Zyperns Banken wohl mindestens so geschäftsschädigend gewesen wie die Zwangsabgabe auf die Konten.

Die Banken sind auch am Mittwoch geschlossen, die Geldautomaten aber gut gefüllt, 500 Euro geben sie jeweils aus. Manches spricht dafür, dass es gar nicht die Leute mit dem kleinen Geld waren, auf die die Regierung Rücksicht nahm, sondern jene mit den großen Scheinen.

In der Ledra-Straße, der Fußgängerzone im Zentrum Nikosias, treffen sich Frauen mit kleinen Kindern in einem Café. Sie kommen aus Rumänien, arbeiten schon seit Jahren in Nikosia. 'Wir essen hier unser Brot', sagt eine der Mütter, die als Kellnerin arbeitet. 'Ich habe nicht viel Geld, aber ich würde etwas geben, wenn es Zypern hilft.' Federico, 25, ein Grieche, verkauft Kekse in einem Kiosk. Er kam nach Zypern, weil er hoffte, hier besser zu leben als in seiner Heimat. 'Notfalls', sagt er, 'gehe ich nach Australien.'

Der kleine Unterschied

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Um auf das Jahresgehalt eines Mannes zu kommen, müssen Frauen knapp 15 Monate arbeiten - in diesem Jahr rechnerisch bis zum heutigen Donnerstag, dem 'Equal Pay Day'. Zehn Gründe, warum Frauen weniger verdienen.

Der 21. März ist Tag der Abrechnung - Equal Pay Day. Dieses Datum markiert den Tag, bis zu dem Frauen über den Jahreswechsel hinaus länger arbeiten müssen, um auf das Entgelt zu kommen, das Männer bereits am Ende des Vorjahres in der Tasche haben. Die Lohnlücke - die Differenz zwischen den durchschnittlichen Stundenlöhnen von Männern und Frauen - beträgt in diesem Jahr 22 Prozent. Das heißt, dass Frauen im Schnitt ein Fünftel weniger als ihre männlichen Kollegen verdienen; im gleichen Job, oft bei gleicher Qualifikation. Zehn Gründe, woran das liegt:

Bescheidenheit: Frauen sind anscheinend mit weniger Gehalt zufrieden als ihre männlichen Kollegen. Bei einer Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in 10000 Haushalten, wie hoch ein gerechter Lohn sein sollte, gaben Frauen durchschnittlich 25 Prozent weniger an als Männer. In Gehaltsverhandlungen, so die Untersuchung, fühlen Frauen zunächst vor, was man ihnen anbieten könne. Männer hingegen platzen mit ganz konkreten Summen heraus - und bekommen diese meist. Im Berufsleben scheint Bescheidenheit eine weibliche Untugend zu sein.


Auch in Berlin wurde vergangenes Jahr am Equal Pay Day demonstriert

Rollenbilder: Der Soziologe Reinhard Bispinck vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung kommt zu einem vernichtenden Urteil darüber, was in den Köpfen der Chefs vor sich geht. 'Vorstellungen einer diffusen männlichen Höherwertigkeit' prägten die Einstellungs- und Beförderungspraxis - was sich wiederum auf die Selbsteinschätzung der Frauen auswirke. Das ist das Fazit einer Studie über geschlechtsspezifische Lohndifferenzen, die er für das Bundesfamilienministerium angestellt hat. Auch ohne geringere Qualifikation oder Berufsunterbrechungen ist das Gehalt von Frauen bei gleicher Position oft niedriger. Bispinck sagt: 'Frauen verdienen weniger, weil sie Frauen sind.'

Zufriedenheit: 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen sind zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz. Nur jede Vierte will ihre Karriere vorantreiben (28 Prozent), bei den Männern ist es jedoch fast jeder Zweite. Eine Studie, für die im Jahr 2011 der Dienstleister Accenture 3400 Berufstätige befragt hat, kommt weiter zu dem Schluss, dass Frauen die Schuld für mangelnde Aufstiegschancen stärker als ihre männlichen Kollegen bei sich selbst sehen. Für Accenture-Geschäftsführerin Catrin Hinkel sind das alarmierende Ergebnisse: 'Offensichtlich haben sich viele Frauen damit eingerichtet, dass es für sie im Job häufig nicht weitergeht, und haben die sogenannte gläserne Decke akzeptiert.'

Falsche Jobwahl: Frauen gehen anders als Männer auch in schlecht bezahlte Berufe, etwa im sozialen Bereich. Auch andere 'typisch weibliche' Berufe wie Sekretärin und Verkäuferin stehen in der Verdienst-Skala ganz unten. Die schulische Ausbildung ist ganz klar begrenzt, vor allem im Büro- und Dienstleistungsbereich. Deshalb bestehen hier kaum Aufstiegs- und Fortbildungsmöglichkeiten. In 'typisch männlichen' Bereichen wie Industrie und Handwerk wird hauptsächlich betrieblich ausgebildet. Mit Weiterqualifikationskursen bis etwa zum Meister bieten sich danach wesentlich mehr Perspektiven, die Karriere zu verfeinern und voranzutreiben. Somit steigen die Gehälter.

Mangelnde Fortbildung: Wer Erfolg will, muss lernen. Doch das Interesse, sich beruflich weiterzubilden, ist bei Frauen (62 Prozent) weniger stark ausgeprägt, als bei Männern (73 Prozent). Ursache ist eine weitere Ungerechtigkeit: Zwölf Prozent der Frauen müssen ihre Seminare zur beruflichen Fortbildung komplett selbst bezahlen. Bei Männern sind es laut Studie nur acht Prozent. Der Seminaranbieter Management Circle hat bei einer Befragung von 1600 Angestellten und 300 Personalern festgestellt, dass Chefs mit den Geschlechtern vollkommen unterschiedlich umgehen. Die hohen Kosten sind für 71 Prozent der Frauen der Hauptgrund, an den Seminaren gar nicht erst teilzunehmen. Der Faktor Zeit ist nicht so entscheidend: Familiäre Verpflichtungen sind nur für ein Viertel der Frauen Hinderungsgrund.

Wenige Stellenwechsel: Frauen pokern seltener, um ein besseres Gehalt zu bekommen. Männer wechseln häufiger ihre Stelle, um am Monatsende mehr Geld auf dem Konto zu haben, so eine Studie des Bundesfamilienministeriums zur Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern. Dies liegt aber keineswegs an mangelnder Flexibilität oder Mutlosigkeit der Frauen - vielmehr sind diese froh, eine Stelle gefunden zu haben, bei der sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren können. Die wollen sie nicht so schnell aufgeben, weil sie mit der Organisation ihres Familienbetriebes nicht wieder von vorne beginnen wollen.

Ungerechte Beurteilungskriterien: Im Öffentlichen Dienst, beispielsweise in Bayern, würdigen die Vorgesetzten in den Personalbeurteilungen das ehrenamtliche Engagement oder dienstlich veranlasste Nebentätigkeiten ihrer Beschäftigten. Wer sich also in seiner Freizeit vorbildhaft im Verein oder der Gemeinde einbringt, sammelt dafür dicke Pluspunkte in der Rubrik 'sonstige Fähigkeiten'. Die Vorsitzende der Frauen-Union, Angelika Niebler (CSU), hat nun Bayerns Staatsregierung aufgefordert, auch die besondere Leistungsfähigkeit von Frauen mit Doppelbelastungen in diesen Beurteilungen zu berücksichtigen, denn: 'Frauen, die neben ihrer Erwerbstätigkeit eigene Kinder erziehen, sind häufig derart ausgelastet, dass ihnen die Zeit fehlt, zusätzlich ehrenamtlich aktiv zu sein oder Zusatzaufgaben in der Behörde wahrzunehmen.'

Berufspausen: Großen Einfluss auf die Höhe der Gehaltsunterschiede haben die beruflichen Unterbrechungen, die Frauen einlegen, wenn sie in die sogenannte Familienphase eintreten, also Kinder bekommen und großziehen. Sie erreichen deshalb keine so lange Betriebszugehörigkeit wie Männer, der ein oder andere Bonus geht flöten. Das Bundesfamilienministerium weist in seiner Entgeltstudie nach, dass Frauen nach einer Babypause häufig nicht auf der gleichen Gehaltsstufe wie früher beginnen. Sie werden zurückgestuft oder müssen sich mit Teilzeitjobs und freiberuflichen Tätigkeiten arrangieren. Forscher Bispinck: 'Frauen in Teilzeit wird unterstellt, dass sie weniger leisten.'

Geringe Wertschätzung: Typische Männerjobs werden auch deshalb besser bezahlt als frauentypische Berufe, weil bei ihnen besondere Belastungen anders gewichtet werden - im wahrsten Sinne des Wortes. Bei Müllmännern etwa ist das Heben schwerer Lasten ein Kriterium für die Arbeitsplatzbewertung, es schlägt sich positiv im Gehalt nieder. 'Bei Pflegeberufen, die vor allen Dingen von Frauen ausgeübt werden, ist das jedoch nicht der Fall, obwohl zur körperlichen Belastung oft auch noch die psychische hinzukommt', bemängelte Bundesfamilienministerin Kristina Schröder erst vor Kurzem am 102. Internationalen Frauentag. Sie fordert, körperliche Belastungen auch in typischen Frauenberufen bei der Bezahlung zu berücksichtigen und andere Maßstäbe anzulegen.

Wohnort im Süden: Frauen, die im Süden Deutschlands wohnen, haben noch mehr Pech. Hier ist die Ungleichheit bei den Entgelten am größten - Männer verdienen in Baden-Württemberg 27 Prozent, in Bayern 26, im Saarland 25 Prozent mehr als Frauen. Diese Daten beruhen auf der Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes, eine Erklärung für dieses Nord-Süd-Phänomen gibt es nicht. Wohl aber für das wesentlich geringere Lohngefälle zwischen Männern und Frauen im Osten Deutschlands. Die Werte liegen zwischen nur vier Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und neun Prozent in Sachsen. 'Frauen arbeiten hier häufiger Vollzeit und seltener in Minijobs, unterbrechen ihre Berufstätigkeit kaum für längere Zeit und sind häufiger in Führungspositionen', sagt Christina Klenner vom WSI. Und noch einen ganz simplen Grund gibt es: Der Gehaltsunterschied kann gar nicht so groß ausfallen - weil die Männer im Osten durchschnittlich sowieso weniger verdienen als ihre westdeutschen Kollegen. Da haben dann die Männer einfach mal Pech gehabt.

Gut gebräunt

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Die Band Frei.Wild wird nach dem Protest zweier konkurrierender Gruppen an diesem Donnerstag keinen 'Echo' erhalten - trotz ihres Erfolgs. Deutschlands Musikindustrie hat beschlossen, die Südtiroler auszugrenzen.

Wenn es eine Auszeichnung für Duckmäuserei und volle Hosen gäbe, die Phono-Akademie der deutschen Musikindustrie hätte sie sich verdient. Da wird die Südtiroler Band Frei.Wild automatisch für einen 'Echo'-Musikpreis nominiert - weil sie 2012 so viele Alben verkauft hat. Daraufhin drohen Mia und Kraftklub, zwei ebenfalls nominierte Bands, mit einem Boykott der Verleihung, falls die erste Band mit von der Partie ist: weil deren Weltbild 'zum Kotzen' sei. Und was macht die Phono-Akademie als Veranstalter? Wirft Frei.Wild kurzerhand aus dem Wettbewerb. Ohne die Betroffenen vorher anzuhören. Gegen die eigenen, bis eben noch geltenden Regularien. Und mit einer Erklärung, die so schwiemelig ist, dass man erst mal denkt, es handle sich um einen Sketch: 'Um zu verhindern, dass der Echo zum Schauplatz einer öffentlichen Debatte um das Thema der politischen Gesinnung wird, hat sich der Vorstand nach intensiven Diskussionen dazu entschlossen, in die Regularien des Preises einzugreifen und die Band Frei.Wild von der Liste der Nominierten zu nehmen.'


Frei.Wild hat trotz des Erfolges keinen Echo erhalten

Wie soll man das nennen? Zensur? Ein Zensor sagt wenigstens: Ihr seid raus, ihr habt die falsche Gesinnung. Die Deutsche Phono-Akademie sagt nur: raus. Nicht weil dahinter eine Haltung stünde, sondern aus purer Angst. Und da liegt das Problem.

Frei.Wild, die im vergangenen Jahr mit 'Feinde deiner Feinde' eines der bestverkauften Rock/Alternative-Alben veröffentlicht haben, gilt als rechts. Nicht extrem oder radikal, aber irgendwie rechts. Die Rede ist von einer Grauzone, und die Attribute, die der Band vor allem von linken Netzaktivisten und Sozialwissenschaftlern verpasst werden, wechseln zwischen 'rechtsoffen', 'rechtslastig' und 'ultrapatriotisch'. Das klingt erst mal schwammig, so als wüssten die Kritiker nicht genau, was sie sagen wollen. Aber hinter der Vagheit steckt Absicht. Es geht um einen Stempel, der haften bleiben und abschrecken soll.

Irgendwie rechts. Der erste Beleg dafür ist die Vergangenheit des Sängers Philipp Burger, der als Teenager, wie er selbst sagt, ein 'rechter Skinhead' war und später auf Bezirksebene für die rechtspopulistische Partei Die Freiheitlichen aktiv wurde, dann aber ausstieg. Der zweite Beleg sind Texte, in denen die Band ihre glühende Heimatliebe beschwört. Besonders gerne wird das Lied 'Südtirol' vom 2003 erschienenen Album 'Wo die Sonne wieder lacht' zitiert: 'Südtirol, du bist noch nicht verlor"n, in der Hölle sollen deine Feinde schmor"n.' Oder 'Das Land der Vollidioten' aus dem Jahr 2009. Da heißt es spöttisch: 'Kreuze werden aus Schulen entfernt, aus Respekt vor den andersgläubigen Kindern.' Musikalisch geht es mal schunkelig, mal punkig zu, mit heiserem Gesang und stampfenden Off-Beats; nichts Ambitioniertes, aber solider Mitgröhlrock.

Zu den bekanntesten Kritikern der Band gehört der Autor Thomas Kuban, der jahrelang verdeckt im neonazistischen Rechtsrockmilieu recherchiert hat. Seine gruseligen Berichte über halbnackte Skinheadhorden, die bei Konzerten besoffen den Führer hochleben lassen, sind auch schon in der SZ gedruckt worden. In seinem 2012 erschienenen Buch 'Blut muss fließen: Undercover unter Nazis' hat Kuban - der in Wahrheit anders heißt und bei Auftritten stets eine Perücke, falschen Bart und Sonnenbrille trägt - der Band Frei.Wild ein ganzes Kapitel gewidmet. Titel: 'Wie braun ist die Grauzone?' Das Fragezeichen ist dabei rhetorisch gemeint. Frei.Wild-Sänger Philipp Burger sei kein Geläuterter, sondern bewege sich in Wahrheit 'wie ein Chamäleon' zwischen Braun- und Grauzone, meint Kuban. Er tue das nicht explizit, aber mit Anspielungen, die jeder echte Neonazi sofort verstünde.

Die Mitglieder und auch die Fans von Frei.Wild weisen solche Vorwürfe vehement und auf allen Kanälen von Youtube bis Facebook zurück. Man sei überzeugt von konservativen Werten wie 'Freundschaft, Familie, Loyalität, Gerechtigkeit, Tradition und Kultur', heißt es bei der Band - aber gegen jede Form von Extremismus. Man arbeite von der Security bis zur Produktion mit Menschen aller Hautfarben zusammen, teilte Sänger Philipp Burger der SZ am Mittwoch auf Nachfrage mit: 'Für uns gibt es keinen Unterschied nach Herkunft, Religion, Sprache oder einer anderen Form der Zugehörigkeit. Was zählt, sind die menschlichen Qualitäten und die fachliche Qualifikation. Darüber hinaus sind wir doch alle gleich.'

Bei Konzerten brüllt der Sänger regelmäßig 'Nazis raus', und auch die Ordner werden angewiesen, keine Neonazis in die Hallen zu lassen. Ein Logo der Band zeigt eine dunkle Hand vor einem Stoppschild, daneben steht: 'Frei.Wild gegen Rassismus und Extremismus.' Unter ihren Videos im Netz kommentiert die Bande sogar die Nutzerkommentare. Ein aktuelles Beispiel: 'Es sollte schon zu denken geben, dass die NPD eine Mahnwacht bei ihnen durchführt', schrieb diese Woche ein Nutzer. Antwort der Band: 'Die NPD plant eine Mahnwache bei der Echo- Verleihung. Von dieser haben wir uns bereits klar distanziert.'

Der SZ sagte Burger, dass seine Band an diesem Donnerstag anlässlich der Echo-Verleihung ebenfalls in Berlin sein würde, um sich von dem Umarmungsversuch der NPD zu befreien: 'Wir würden das nicht einmal als Gegen-Demo bezeichnen, sondern sehen es als unvermeidbares Zeichen gegen eine Instrumentalisierung unsererseits durch politisch extreme Gruppierungen. Wir wollen einzig und allein Präsenz zeigen, und zwar auf eine Art und Weise, die deutlich macht, dass wir nicht bei den einen und auch nicht bei den anderen Extremisten zu finden sind. Wir haben unseren eigenen Platz, und wir werden in aller Stille, in Besonnenheit Flagge zeigen, ohne uns provozieren zu lassen.'

Der eigene Platz: Er ist in diesem Fall ganz schön wackelig. Auf der einen Seite stehen Kritiker wie Kuban, die sinngemäß sagen: Ihr und Euer Gerede, alles Tarnung. Letztlich seid ihr genauso schlimm wie Sleipnir, Lunikoff und all die anderen bekennenden Rechtsrocker. Auf der anderen Seite lacht sich die NPD ins Fäustchen und bietet, wie damals bei Thilo Sarrazin, ihren sehr unerwünschten Beistand an. Und in der Mitte steht das Publikum, das hier und dort mal etwas aufgeschnappt hat, letztlich aber auch nicht weiß, was von alledem halten soll: Sind das jetzt verkappte Neonazis oder Opfer übertourter Nazijäger?

Wenn man sich etwas länger mit der Musik der Band beschäftigt, muss man sagen: Nein, der Beweis des Extremismus ist nicht erbracht. Natürlich kann man all die Hymnen auf die heilige Südtiroler Erde und gegen die angeblich überall lauernden linken Moralapostel fragwürdig und plump finden. Nur: Darf deshalb gleich die Naziglocke bimmeln? Darf der Spitzenverband der deutschen Musikindustrie, der sonst bei jeder Gelegenheit trompetet, wie wichtig die Freiheit der Meinungen und der Kunst doch sei, Musiker allein wegen eines Verdachts ausgrenzen? Oder, weg von den aktuellen Charts: Müssten dann nicht noch ganz andere Lieder verboten werden, etwa die schwer weißblaue Bayernhymne oder das Niedersachsenlied ('Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm').

Weil Frei.Wild als 'irgendwie rechts' gilt, sind solche Fragen, die man dringend mal öffentlich diskutieren müsste, schon abgewürgt, ehe sie ausgesprochen sind. Denn mindestens so subversiv wie die unterstellte Strategie der musikalischen Mimikry wirkt auch das Gift der politischen Ausgrenzung. Das, was heute 'Kampf gegen rechts' heißt, mag einst als bitter notwendige Sache begonnen haben; vor allem im Osten, wo die Fremdenfeindlichkeit vielerorts immer noch groß ist. Doch anderswo ist dieser Kampf völlig aus dem Ruder gelaufen. Da geht es längst nicht mehr nur gegen Verfassungsfeinde, sondern gegen alles, was sich auch nur einen Hauch von der gefühlten Mitte der Gesellschaft wegwagt, angefangen mit der Sprache. Begriffe wie Volk oder Heimat sind längst verdächtig geworden. Und Heimatstolz: Das ruft nach Ansicht vieler Extremismusjäger schon laut nach dem Verfassungsschutz.

Wer"s nicht glaubt, muss sich nur die Reaktionen von Mia und Kraftklub anschauen, der Bands, die beim 'Echo' gedroht haben, auszusteigen, wenn Frei.Wild mitmachen darf. 'Kein Kommentar', lässt das Management der Chemnitzer Indie-Rocker Kraftklub auf Anfrage ausrichten. Dabei war die Band beim Echo 2012 noch so mutig, sich zusammen mit dem Rapper Casper auf der Bühne über Frei.Wild lustig zu machen - vermutlich, weil die Band nicht anwesend war. 'Es gibt absolut nichts zu sagen', heißt es beim Label von Mia, einer Band die vor zehn Jahren selbst mal wegen eines zaghaft patriotischen Liedes ('Was es ist') wochenlang verprügelt und einmal sogar mit Eiern beworfen wurde.

Schade. Sehr gerne hätte man Mieze Katz, die sonst so resolut auftretende Mia-Sängerin, gefragt, warum sie nur über und noch nie mit Frei.Wild geredet hat. Oder warum deren Weltbild 'zum Kotzen' ist, sie als dezidiert linke und sozial engagierte Künstlerin aber kein Problem mit dem 'Zuhälterrap' von Kollegah und Farid Bang hat. Die beiden Düsseldorfer sind ebenfalls für einen Echo nominiert, und wenn in ihren Liedern von Frauen die Rede ist, dann gehören 'Nutte' und 'Schlampe' noch zu den freundlichen Anreden.

Immerhin eine Kritikerin hat sich geäußert. Die Sängerin und Schauspielerin Anna Loos wurde vergangene Woche von der Deutschen Presse-Agentur mit den Worten zitiert, auch sie 'begrüße' den Frei.Wild-Ausschluss vom Echo. An diesem Montag nun sah sich Silly, die Band der Sängerin, genötigt, eine eigene Meldung herauszugeben. 'Ihr Lieben, die in einigen Medien verbreiteten Meldungen (...) zum Rauswurf der Band Frei.Wild beim Echo implizieren ein falsches Bild.' Ein Zitat von Loos gegen 'nationalistische Spielereien' sei einem 'allgemeinen Gespräch' entsprungen und habe sich definitiv nicht auf Frei.Wild bezogen. Deren Texte und Musik kenne man gar nicht.

Schaut man nun, ein paar Tage später, ins Netz, findet man von dieser Korrektur: nichts. Auf Hunderten Nachrichtenseiten heißt es weiter, dass 'auch Anna Loos' jetzt gegen Frei.Wild sei. Wie das so ist mit solchen Stempeln. Sie bleiben haften, auch dann, wenn alles gar nicht so gemeint war.

Nichts zu lachen

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Medikamente fehlen, Ersatzteile auch, und die Preise steigen gen Himmel - die Strafmaßnahmen des Westens machen vielen Menschen das Leben im Iran richtig schwer. Aber sei's drum. Sie richten sich ein.

Endlose Bänder von Blech, die sich durch die Stadt schieben. Den Berg hinauf, den Berg hinunter, hoch und quer. Im Abendgrau über Teheran schimmert der Schnee. Irgendwo unten, auf der Kreuzung im Smog, steht Ashgan. Er springt auf und ab in seinem roten Gewand zwischen den abbremsenden Autos, die Anstrengung faltet sein geschwärztes Gesicht, die Schminke verläuft schon, doch er tanzt und singt weiter: 'Warum lachst du denn nicht, du Ziegenbock?' Dann tritt der Harlekin ans Seitenfenster, hält die Hand fordernd auf, die Stimme schnellt nach oben: 'Heb Deinen Kopf! Warum lachst Du nicht, mein Herr?'


Ashgan verdient sein Geld als Harlekin


Weil es nichts zu lachen gibt. Weder für den Mann am Steuer noch für Ashgan, den singenden Harlekin, den Haji Feruz. Der vertreibt den Winter, kündigt das persische Neujahr Nowruz an. Aber an diesem Abend ist der Haji im Kopf längst auf der Heimfahrt. Eine Stunde mit der Metro bis nach Hause, in ein Viertel, dessen Besuch die meisten Teheraner meiden: Drogen, Kriminalität, Armut. Ashgan lebt in Shush im Süden der Hauptstadt, zusammen mit seinem Cousin Adel. Nicht da, wo die Superreichen und die Partygirls in den Villen und den Marmortürmen wohnen, sondern dort, wo die Junkies hausen und Heroinspritzen im Rinnstein liegen. In einem kleinen Haus mit vier Familien: Ashgan, Adel und zwei andere Jungs schlafen in einem fensterlosen Kellerraum, 15 Quadratmeter, nebeneinander aufgereiht auf dem schmuddeligen Teppich wie Sardinen in der Dose. Einige Monate im Jahr arbeiten Adel und Ashgan als Obstpflücker auf den Feldern vor der Stadt, Saisonarbeit. Dazu Gelegenheitsjobs - und der eine Monat vor Nowruz als Haji Feruz. Deshalb stehen sie in roten Kostümen und mit geschwärzten Gesichtern auf der Kreuzung, Ashgan tanzt, Adel trommelt, bis die Stadtverwaltung sie verjagt oder doch so viel zusammen gekommen ist, dass der Tag sich gerechnet hat.

Die Einnahmen dieses Abends sind bescheiden - 20000 Toman, etwa vier Euro. Das reicht gerade für Huhn, Reis, Tee, die Metro. Jobs sind rar für einen Analphabeten wie Adel, der Cousin hat die Schule nach der 5. Klasse abgebrochen, auch auf ihn wartet keiner. Heiraten, eine eigene Familie und eine eigene Wohnung stehen in weiter Ferne, Ashgans vorläufiges Lebensziel ist ein Mobiltelefon. Weitere Fragen erübrigen sich: 'Warum lachst du nicht, mein Herr?'

Der Mann am Steuer denkt beim Anblick des Haji Feruz an das Naheliegende: Er hofft, dass die rote Ampel endlich auf grün umspringt und fragt sich, ob wirklich Neujahr schon wieder vor der Tür steht. Die Preise steigen, das Kilo Pistazien kostet jetzt doppelt so viel wie im vergangenen Jahr. Obst, Nüsse und Fleisch werden auch immer teurer. Dreizehn Tage dauert das Fest, Verwandte, Nachbarn und Freunde kommen vorbei - ein iranischer Neujahrstisch ohne Pistazien ist wie Silvester ohne Feuerwerk. Glanzlos.

'Pistazien sind kein Luxus. Sie finden immer ihren Käufer.' Der Pistazienhändler hat etwas von einem Kosaken, der sein Pferd vor dem Haupttor des Basars angebunden hat, um ein paar Kebabs zu verschlingen, bevor er wieder in die Steppe reitet: Fellmütze, kaftanartiger Frack, Vollbart - alles tiefschwarz, fehlt nur der Patronengurt. Doch der schwarze Mann reitet nirgendwo hin. Mohamed sitzt in seinem Laden hinter dem Schreibtisch, breitbeinig - im Basar sitzen alle Chefs in ihren Läden breitbeinig hinter dem Schreibtisch -, und sortiert Pistazien. Er wählt die Exemplare nach Form und Qualität, lässt die beim Rösten aufgeplatzten Früchte durch die Finger rieseln, häuft sie auf. Wenn die Hand leer ist, schiebt sie die Pistazienberge zusammen, alles fängt von vorne an. So rieseln die Pistazien durch die Finger, klacken auf der Schreibtischplatte, kommen auf neuen Häufchen zur Ruhe, während Mohamed die Wirtschaftslage zusammenfasst: 'Die Leute meckern, aber sie haben noch immer Geld.'

Händler wie er, die Pistazienexporteure, was machen sie angesichts der Isolation Irans in der Bankenwelt? 'Schwierig.' Er zitiert ein Gedicht, es hat mit dem Thema nicht das Geringste zu tun. Dann fragt er: 'Was macht ein Mann, dem die Frau stirbt? Er sucht sich eine Amme, die säugt seine Kinder.' Mohamed ist klug. Er gibt wenig auf die Regierung. Aber irgendwie, und wenn es Sentimentalität ist, steht er seinem Land bei im Kampf gegen den Rest der Welt. 'Die Hufe der Pferde unseres Landes werden die Erde in Washington, DC eines Tages erbeben lassen', sagt er zum Abschied. Also doch ein wilder Reiter.

Dem 70-Millionen-Volk geht es ähnlich wie ihm: Es sucht nach Auswegen und gibt sich stark. Das ist nicht einfach: Die Inflation bewegt sich in Richtung 40 Prozent, die Währung verfällt, Ölindustrie und Handel werden von den internationalen Sanktionen erdrosselt. Iran verkauft nur noch halb so viel Rohöl wie früher auf dem Weltmarkt, lässt seine Lagerbestände auf Supertankern rund um den Globus schiffen, um sie außer Landes zu halten. Das Leben ist hart geworden. Die Geldinstitute sind abgeschnitten vom Geflecht der internationalen Bankenwelt. Ware nach Iran zu bringen oder Produkte zu exportieren wird immer schwieriger. Regierung und Firmen bezahlen ihre Rechnungen im Ausland inzwischen mit Gold, tauschen Güter - Kriegswirtschaft. So sehen es die iranischen Zeitungen, sie schreiben vom 'Wirtschafts-Dschihad' gegen die Islamische Republik.

Wirtschaftskrieg oder nicht - der Westen meint es ernst nach zehn Jahren Atomstreit. Er droht, weiter nachzulegen bei den Strafmaßnahmen, fordert politische Botmäßigkeit: kontrollierter Atomverzicht gegen volle Handelsfreiheit und Wirtschaftsaufschwung ist die vereinfachte Formel. Das seit zehn Jahren andauernde Geschacher der Diplomaten lähmt die Perser. Sie denken vor Neujahr an Pistazien und deren steigende Preise, nicht an neue Zentrifugen und die herausposaunten Erfolge bei der Urananreicherung. Sie behalten im Hinterkopf, dass sie bombardiert werden könnten von den Israelis oder den Amerikanern und dass sie an ihrem politischen Regime derzeit nichts ändern können.

Außerdem kommt erst einmal Neujahr. Die Teheraner werden zum Picknicken in die Berge fahren, die Familien sich besuchen. Nowruz ist der persische Blick in den Spiegel: Selbstversicherung. Das zoroastrische Neujahrsfest, bei dem der Winter vertrieben und der Frühling begrüßt wird, ist für sie Beweis, dass Iran mehr ist als die Diva auf der Achse des Bösen oder ein unterdrückerisches Regime, mit dem man zu leben gelernt hat und dessen Ayatollah-Revolution nun Teil der eigenen Geschichte geworden ist. Beim Thema Geschichte sind Iraner eigen. Nowruz belegt, dass die ihre älter als der Islam (1400 Jahre), älter als die USA (300 Jahre), älter auch als die Geschichte all der anderen Staaten des Westens ist. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Iraner sich so aufregen über 'Argo', wenn sie nicht gerade an die steigenden Preise denken: Der Hollywood-Thriller über die Besetzung der US-Botschaft während der Revolution zeichnet die Iraner als Mob auf Abruf.

Aber bei 40 Prozent Inflation verlieren selbst 5000 Jahre Kultur oder ein auf die US-Seele zielender Thriller an Bedeutung.

Eigentlich ist Iran ein modernes Land. Anders als in Ägypten oder dem Jemen ist die Armut überschaubar, wirkliche Analphabeten wie Adel gibt es nicht allzu viele, die Infrastruktur ist vergleichsweise modern. Die Iraner sind gut ausgebildet, viele haben in Kanada, England oder den USA studiert. Der Staat hat auch in der Islamischen Republik eine Struktur und Institutionen, die respektiert werden, wenn es nicht gerade um Steuern geht. Die Sozialversicherung funktioniert, das Gesundheits- und Schulsystem, die Universitäten arbeiten. All diese Errungenschaften drohen die Sanktionen der Vereinten Nationen, der EU und der USA nun zu zerstören: Staaten, die über Jahre derart eng abgestimmten Strafmaßnahmen unterliegen, enden als politische, wirtschaftliche und militärische Krüppel: wie der Irak unter Saddam Hussein.

Aber noch ist es nicht soweit. 'Die Reichen spüren die Sanktionen nicht und die Armen kommen zurecht. Wer leidet, ist der Mittelstand. Aber der muckt nicht auf.' Siad Zibakalam ist einer der wenigen unabhängigen Beobachter, die noch den Mund aufmachen in Teheran. Seine Exklusivität hat der Politologe seinem Hang zum klaren Wort zu verdanken und der Tatsache, dass die meisten anderen Regimekritiker das Land verlassen haben, im Gefängnis sitzen oder nach längerer Haft laut schweigen. Er weiß von den Verhaftungswellen: 'Ich beachte die roten Linien. Ich bin nicht wild darauf, ins Evin-Gefängnis zu kommen.' Zibakalam, der Gerissene, meint: Die Reichen in Iran haben immer noch mehr als genug, die Armen bekommen staatliche Subventionen und die Mittelklasse hat 2009 ihre Lektion gelernt.

Damals hatte das Regime klargemacht, was geht und was nicht geht in Iran. Die 'grüne Revolution' wurde brutal niedergeschlagen, hinter der demokratischen Reformbewegung hatten die Bürgerlichen gestanden. 'Wenn irgendwer im Westen gehofft haben sollte, dass die Iraner sich wegen des Sanktionsdrucks gegen ihre Führung erheben, hat er sich verkalkuliert.'

Arraije Abbasi wird sich sicher nicht erheben, obwohl er es eigentlich müsste. Er ist müde. Er sitzt auf einer Bank auf dem Grünstreifen, die Laptoptasche auf dem Schoß, die Hände schützend davor gefaltet. Er schaut ins Leere. Um ihn herum schieben sich endlose Autoschlangen über die Vali Asr, die Luft brennt in Augen und Lungen, der Preisanstieg beim Benzin hindert Teherans Autofahrer nicht am täglichen Amoklauf. Ali Abbasi wandert seit Tagen durch den Smog, fragt sich durch von einer Apotheke zur anderen, ruft am Eingang: 'Line Zolid?' Ausverkauft, sagt der Apotheker. Derzeit nicht aufzutreiben. Keine einzige Ampulle.

Abbasi braucht zehn Ampullen. Sein Sohn leidet an Blutarmut, ihm wurde Rückenmark transplantiert, es geht ihm schlecht nach der Operation. Infektionen sind häufig nach solchen Eingriffen. Ohne das Antibiotikum droht der Zwölfjährige zu sterben. Der Junge hat bereits Durchfall. Kein gutes Zeichen. Das Geld für die zehn Dosen 'Line Zolid' hat Abassi zusammengekratzt, rund 200 Euro. So, wie er auch das Geld für die Operation und die Kosten des Spenders aufgebracht hat - umgerechnet etwa 18000 Euro. Schulden hat er gemacht, ein paar Wertsachen verkauft. Und jetzt soll alles umsonst gewesen sein, wegen zehn Ampullen eines Antibiotikums, hergestellt von einer US-Firma mit Niederlassungen in Europa? Abbasi sagt: 'Die Sanktionen! Nichts kommt ins Land. Auch keine Medikamente.'

Ali Abbassi ist mit dem Sohn und seiner Frau aus Ilan angereist, tiefste Provinz. Sie haben in der Hauptstadt eine Wohnung gemietet, der Schwager stellt sich solange in den Lebensmittelladen in Ilan: Seine Frau verbringt den Tag in der Klinik beim Sohn. Abbasi ist ein höflicher, beherrschter Mann. Aber jetzt wird er deutlich: 'Die, die immer von den Menschenrechten sprechen, müssen sich jetzt doch einmal äußern! Medikamente sind ein Menschenrecht für den, der sie braucht!'

Leute wie die Abbassis leiden ganz direkt unter den Sanktionen. Aber es gibt auch andere. Besuch in einer Fabrik, Schwerindustrie. Ein Industriegelände am Rande von Teheran, aus der Schmelze in der Halle schlagen orangerote Flammen hoch. 'Luleh va Mashinsazi' stellt Wasserrohre her, seit 1957. Die Winde des Krans ächzt, ein Block mit Industrieschrott versinkt im Schmelztiegel, Material für neue Rohre. Irgendwo hinten in der Halle kommen die Endprodukte heraus, sie rollen dann über Schienen, schlagen dumpf wie Glocken an: Zwei Meter hat so ein Rohr im Durchmesser, tonnenschwer. 1000 Arbeiter in zwei Werken beschäftigt 'Mashinsazi', der größte Teil der Produktion geht in den Export, weil der Staat nichts bestellt. Wegen der angespannten Haushaltslage hat die Regierung ihre Infrastrukturprogramme eingefroren. Privatunternehmen können froh sein, wenn die Führung ihre Altschulden bezahlt.

'Wir setzen auf Export', sagt Direktor Alireza Maghsoudi. Im Büro riecht es nach kaltem Pfeifentabak, der Direktor ist ein Mann, der sich Zeit nimmt. Maghsoudi macht den Job seit 30 Jahren, er pflegt Kontakte nach Katar und Irak. Dort wird gebaut. Dort brauchen sie Rohre. Dort ist Geld. Der Ingenieur weiß, dass seine Anlagen alt sind, die Lager und Getriebe ausgeschlagen, einige Maschinen tragen das Logo deutscher Hersteller, angeschafft noch zu Zeiten des Firmengründers, er wurde nach der Revolution enteignet. 'Ja, wir tun uns schwer, mit den Rohstoffen, Geräten, Ersatzteilen', sagt Maghsoudi. 'Aber wir haben gelernt, Teile selbst zu produzieren. Wir haben das Know-how.' Und wo das Know-how nicht reicht - in Iran mit seinem hohen Bildungsstandard geht es weniger um theoretisches Wissen als darum, die praktischen Probleme zu umschiffen -, bleiben China und Indien: billiger Preis, schlechte Qualität. 'Den Rest importieren wir über Dritte. Dubai und so.' Die Botschaft ist eindeutig: Es gibt tausend Wege, die Sanktionen zu umgehen. Dem Direktor ist klar, dass deutsche Firmen und Behörden sich denken können, wer die Spezialteile bestellt - Wasserrohre sind kein Massenprodukt, ihre Hersteller weltweit bekannt. Aber Maghsoudi weiß, wie man die Bezahlung abwickeln kann, trotz des Bankenembargos: 'Das Geld findet seinen Weg.'

Der verschlungene Weg führt über Kontaktmänner mit Koffern, über Drittstaaten, über islamische Finanznetzwerke, durch Wechselstuben zurück nach Iran. Das dauert. Aber da die Rohre von ihren Käufern in Hartwährung bezahlt werden, steigen Dank des absurd hohen Wechselkurses in Iran die Gewinne für Maghsoudi. So ist am Ende mehr als genug Geld da, Löhne und Kosten in Rial zu bezahlen. Die iranische Währung ist im Vergleich zum US-Dollar nur noch die Hälfte wert, aber die Löhne steigen nicht so hemmungslos wie der Wechselkurs: 'Sicher zerstören die Sanktionen auf die Dauer die industrielle Infrastruktur meines Landes' sagt der Direktor. 'Aber für uns sind die Sanktionen wegen des Devisenkurses von Vorteil.'

Ein Land wurstelt sich durch: Das Wirtschaftsembargo tut ihm weh. Aber das Sanktionsregime kann in den Augen von Zwangsoptimisten wie Maghsoudi sogar den Standard der eigenen Industrie heben. Die Konzentration auf den Export erzwingt bessere Qualität bei der heimischen Produktion. 'Innovation und Unabhängigkeit sind doch wichtig', sagt der Direktor. 'Gerade in der Wirtschaft.'

Arkadijs Welt

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Arkadij Abramowitsch ist erst 19. Doch schon jetzt steigt er ins Erdöl-Geschäft seines Vaters Roman Abramowitsch ein.

Auch Arkadij Abramowitsch hat mal klein angefangen, so wie eben Babys auf die Welt kommen, laufen und sprechen lernen. Beruflich gesehen kann man aber nicht gerade sagen, dass er klein angefangen hat, wie sich jetzt wieder zeigt. Er ist gerade einmal 19 Jahre alt, ein Teenie mit modisch schräg gescheiteltem Haar, und er ist gerade für 46 Millionen Dollar ins Erdölgeschäft eingestiegen.

Arkadij Abramowitsch ist der Sohn des russischen Milliardärs Roman Abramowitsch. Er tritt nun in die Fußstapfen des bekannten Vaters. Der hatte einst mit dem Ölunternehmen Sibneft einen gewaltigen Reichtum angehäuft, den Konzern vor einigen Jahren jedoch an Gazprom verkauft. Und nun ist sein Spross schon ein kleiner Player im russischen Energiegeschäft.


Der Vater, Roman Abramowitsch, ist Multimilliardär

Arkadij Abramowitsch kontrolliert bereits seit Längerem die in London ansässige Investmentfirma ARA Capital. Über diese stieg er in ein Unternehmen ein, das er in Zoltav Resources umbenannte, das nun wiederum für 26 Millionen Dollar die CenGeo Holding erwarb. Weitere 20 Millionen sollen in die Entwicklung fließen. Diesem Unternehmen gehören die Lizenzen am westsibirischen Ölfeld Koltogor. Die dortigen Reserven werden von russischen Medien auf 100 Millionen Barrel geschätzt.

Ein mächtiger Schritt ist dies für einen jungen Mann, der erst im Februar ein Praktikum bei der britischen Filiale der russischen Investmentbank VTB gemacht haben soll. Andererseits ist Arkadij Abramowitsch bereits dank seines Vaters früh in die große kapitalistische Welt hineingewachsen.

Er ist der älteste Sohn des russischen Oligarchen, der seit Jahren als reicher Eigentümer des englischen Fußballklubs FC Chelsea längst häufiger in den Sportnachrichten als im Wirtschaftsteil der Zeitungen auftaucht. Seinen Namen erhielt er in Gedenken an Roman Abramowitschs verstorbenen Vater, der ebenfalls Arkadij hieß. Viel ist bisher nicht bekannt über den jungen dunkelhaarigen Spross, doch diese Anekdote aus einem Buch zweier britischer Autoren über Roman Abramowitsch ist fester Bestandteil aller bisherigen biografischen Notizen: Arkadij war zwölf Jahre alt, als er nach einem Heimspiel von Chelsea auf einer Brücke im Stau stand. Staus kannte der Junge natürlich auch aus Moskau, nicht aber, dass er mit dem Auto darin feststeckte. Ungeduldig, wie Kinder nun mal sind, sagte er: 'In Moskau fahren wir mit bewaffnetem Begleitschutz über die Mittelspur.'

Doch das Gespräch mit dem Chauffeur ging noch weiter, es drehte sich um Fußball, und da fragte ihn der Fahrer: 'Möchtest du Fußballer werden, wenn du erwachsen bist?' Und Arkadij antwortete: 'Nein, ich glaube nicht, dass ich gut genug wäre. Aber mein Vater sagt, dass er mir vielleicht Manchester United zum 18. Geburtstag schenkt.'

In einem New Yorker Restaurant erlebte er einmal mit, wie sein Vater mit Familie und ein paar Freunden speiste und trank und daraus eine Rechnung von fast 50000 Dollar wurde. Die pralle Welt des Geldes ist ihm also vertraut, auch das Prassen. Aus Manchester als Geschenk ist dann aber doch nichts geworden, ebenso wenig wie aus den Verhandlungen, die Arkadij vor zwei Jahren angeblich führte. Damals soll er Interesse an der Übernahme des dänischen Fußballmeisters FC Kopenhagen gehabt haben.

Erste Rückschläge in einem jungen Kapitalistenleben? Vielleicht hat ihm sein Vater geraten, doch erst einmal in Ruhe Fuß zu fassen in der Wirtschaftswelt, ernst genommen zu werden als Unternehmer. Trotz der jüngsten Investition in das sibirische Ölfeld wird Abramowitsch junior dafür wohl noch einige Jahre brauchen.

Bei aller Freundschaft

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Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Israel und den USA wird von den unterschiedlichen Interessen der Länder stark beeinflusst.

Es flattern die Fahnen der Freundschaft im Wind, und an jeder Ecke ist das Logo zu sehen, das eigens für diesen ach so ersehnten Besuch von US-Präsident Barack Obama in Israel entworfen wurde: 'Star and Stripes' ist das Motto, zu sehen sind die rot-weißen Streifen der amerikanischen Flagge mit einem blauen Davidstern. Symbolhaft aufgeladen, wird in diesen Tagen wieder das 'unzerbrechliche Bündnis' zwischen den Vereinigten Staaten und dem jüdischen Staat beschworen, so als sei Israel der 51. amerikanische Bundesstaat.


Obama heute nach seiner Rede im International Convention Center in Jerusalem

Tatsächlich gibt es wohl kein zweites internationales Bündnis wie das zwischen der Supermacht und dem nahöstlichen Zwerg mit knapp acht Millionen Einwohnern. Doch jenseits des sorgfältig choreografierten Weihefestes sollte niemand - vor allem nicht in Jerusalem - vergessen, dass am Ende Politik von Interessen bestimmt wird. Und Gegensätze, wie sie zwischen den USA und Israel unübersehbar sind, können selbst die stärkste Allianz ziemlich unter Spannung setzen.

Es lohnt sich also, daran zu erinnern, dass das heute so felsenfest erscheinende Bündnis ein relativ später Glücksfall in Israels Geschichte ist. Gewiss: Vom Pioniergeist bis hin zur Bedeutung des Heiligen Landes für die evangelikalen Christen in den USA verbindet die beiden Gesellschaften vieles. Selbst wenn man einmal den meist überschätzten, aber oft zitierten Einfluss der jüdischen Lobby auf die amerikanische Politik beiseite lässt, so sind die Schutzmacht und der Schützling auf vielfältige Weise miteinander verwoben. Doch diese besondere Beziehung ist nicht vom Himmel gefallen und nicht in Stein gemeißelt - sie ist das Ergebnis eines mühsamen und von Interessen geleiteten Annäherungsprozesses.

Nach Israels Staatsgründung vor 65Jahren hatte Washington noch ein Waffenembargo gegen den jüdischen Staat verhängt. Erst einige Zeit nach dem Sechstagekrieg von 1967 nahmen die USA allmählich die Rolle der Schutzmacht ein. Richard Nixon war der erste US-Präsident, der Israel besuchte, Barack Obama ist erst der fünfte. Die historische Basis also ist schmaler, als man gemeinhin denkt.

Bei aller gewachsenen Treue zu Israel sind die USA in ihrer Nahost-Politik zuvörderst immer daran interessiert, die Region zu befrieden. Einst war das wichtig für Amerikas Rohstoffversorgung, heute ist es essenziell für Amerikas Stellung in der Welt, deren Gleichgewicht vom Antagonismus zwischen dem Westen und den muslimischen Ländern bedroht wird. Präsident Jimmy Carter wurde deshalb 1979 zum Schutzpatron des Ausgleichs mit Ägypten, Bill Clinton hielt 1994 seine Hand über den Friedensschluss mit Jordanien - scheiterte aber bei dem Versuch, Israelis und Palästinenser zu versöhnen. Bis heute schwelt dieser Konflikt, er ist eine Aufgabe für Barack Obama geblieben. Doch auch seine Erfolgschancen sind nicht allzu groß, und sie werden nicht größer dadurch, dass sich mit den iranischen Atom-Ambitionen eine neue Bedrohung in den Vordergrund geschoben hat.

Denn weder in der Iran-Frage noch im Friedensprozess ziehen Washington und Jerusalem derzeit an einem Strang. Selbst die nun gefundenen Formelkompromisse können die Streitpunkte nicht übertünchen. Israels Premier Benjamin Netanjahu droht Iran mit einem militärischen Angriff, notfalls im Alleingang, und beruft sich auf Israels Recht zur Selbstverteidigung; Obama setzt auf Diplomatie, weil sich die von den Abenteuern in Afghanistan und Irak ermüdeten USA einen neuen Krieg nicht zumuten wollen.

Ähnlich kontrovers sind die Positionen im Friedensprozess. Netanjahu baut trotz ständiger Ermahnungen aus Washington die jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland aus und torpediert damit alle internationalen Bemühungen. Obama aber hat den Palästinensern stets - und auch bei seinem Besuch in Ramallah am Donnerstag wieder - den eigenen Staat versprochen.

Israels Politik kann zu einer ernsten Bedrohung für Washingtons Interessen werden - und das werden die USA, bei aller Freundschaft, nicht zulassen. Weil die Kräfteverhältnisse in dieser Beziehung klar sind, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder Israel bewegt sich und passt sich zumindest teilweise den amerikanischen Positionen an, oder die USA werden über kurz oder lang mehr Distanz schaffen zum Verbündeten. Anzeichen dafür sind selbst bei dem gerade inszenierten Fest der Völkerfreundschaft zu beobachten. Denn als Höhepunkt der Reise hat der US-Präsident keine Rede vor der Knesset gehalten, wie dies die Führung in Jerusalem gern gehabt hätte. Er hat sich sein Publikum selber gesucht und vor Studenten seine Vision vom Frieden ausgebreitet; nicht vor den Politikern.

'Ich will Musik dreidimensional'

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Die nächste Runde der David-Bowie-Festspiele: eine große Ausstellung im Victoria & Albert Museum in London.

Ein Juli-Abend 1972, fünf Millionen Fernseher sind eingeschaltet, es läuft 'Top of the Pops', die BBC-Musik-Show für die ganze Familie. An das was dann folgte, erinnern sich die Zuschauer noch Jahrzehnte später: Dass so etwas überhaupt möglich war, so fremd, so dekadent, so ausgelassen. Angekündigt ist David Bowie, es erscheint Ziggy Stardust, rothaarig, ein Körper wie aus Schlangenhaut, der Einbruch ultraschlanker Virilität ins Format der Massenunterhaltung. Alle anderen werden noch lange brauchen, um zu begreifen. Ein Coup.


Das Londoner Museum erlebt in diesen Tagen einen riesigen Ansturm wegen David Bowie.

Die Epoche des Glam, in der Schein triumphiert über Sein, sie beginnt in diesem Moment. Ziggy ist dafür ja der lebende Beweis: Die Kunstfigur des Alien-Messias muss David Bowie nicht lange spielen - die Ziggymania bricht aus und die Behauptung, dass Ziggy ein Superstar ist, erfüllt sich wie von selbst. Die BBC kann Ende des Jahre nur konstatieren, dass dieser 'bizarre, selbstentworfene Freak' als 26-Jähriger tatsächlich eine halbe Million Pfund im Jahr verdient und sich einen persönlichen Make-Up-Künstler leistet, der ihm die Fingernägel silbern lackiert.

Denn anders als alle Musiker vor ihm ist David Bowie ein Rockstar, dessen Karriere aus viel mehr gewirkt ist als Songs und Texten. Eine Ausstellung im Londoner Victoria & Albert Museum, die am Samstag eröffnet wird, kann mehr zeigen als Bowies erstes Grafton-Saxofon, Gitarre, Plattenhüllen, Star-Fotos, Poster und ein paar zerschlissene T-Shirts. Die Kuratoren des Museums für Angewandte Kunst durften sich in einem Archiv bedienen, in dem seit vierzig Jahren auch Kostüme aufbewahrt werden wie eben dieser Zweiteiler aus wattierter Baumwolle, dessen Paisley-Druck und leuchtfarbene Stromlinienmuster so wirkungsvoll kontrastierten. Der Zeitpunkt kann nicht besser gewählt sein: Gerade hat David Bowie seit Jahren wieder ein neues Album veröffentlicht, während ein Spielfilm über seinen vierzehnmonatigen Aufenthalt mit Iggy Pop im West-Berlin Ende der Siebzigerjahre gecastet wird.

Die Ausstellung selbst kämpft, das vorweg, nicht mit den üblichen Problemen ihres Genres. Sie hat alle Ansprüche auf kulturhistorische Erhellung von vorneherein über Bord geworfen, hat das Licht auf die Lux-Zahl bunter Disco-Spots gedimmt, reichlich Video-Footage, Monitore, Spiegelwände, sogar etwas Kunst mehr verdichtet als ausgebreitet und eine Woche vor der Eröffnung 50000 Eintrittskarten verkauft. Die Fans müssen sich nicht vor abgelegten Kostümen langweilen, sie behalten die Kopfhörer auf, aus denen alle Versionen von 'Heroes' hallen, während sie vor Vitrinen stehen, deren Abmessungen exakt den doppelstöckigen Schaufensterfassaden der Luxusboutiquen im nahen Mayfair entsprechen. Hier hält nichts inne, hier wird das Abgelegte und Unbelebte am Laufen gehalten, es ist wie in der Geisterbahn: Kurz bevor die Illusion zerfällt, ist man schon eine Ecke weiter.

Dabei wäre das hier ausnahmsweise gar nicht nötig gewesen: Denn es sind vor allem die Kostüme, über die man dem Phänomen David Bowie näher kommt, der 1969 zwar noch als Mod auftritt, sich ein Jahr später für sein drittes Album 'The Man Who Sold The World' aber schon auf einer Chaiselongue so ausstreckt, dass die kniehohen Boots ebenso gut zu sehen sind wie die schulterlangen Locken. Das Cover, und das ist wichtig in einer Zeit, in der das Musikvideo noch nicht erfunden war, soll mehr zeigen, als eine Figur in Jeans und T-Shirt. 'Ich will Musik dreidimensional', sagt er, 'ein Song soll Charakter annehmen, Form, Körper und die Menschen so beeinflussen, dass sie diesen für ihre eigenen Zwecke gebrauchen können. Er soll sie nicht nur als Lied, sondern als Lifestyle beeinflussen.'

Auf der Rückseite zeigt er sich noch einmal im Kleid, einer Kreation des angesagten Couturiers Dr Fish, der auch die kurze, griechisch anmutende Tunika entwarf, in der Mick Jagger ein Jahr zuvor im Hyde Park aufgetreten war. Auch das war ein Kleid, das mehr androgyn als weiblich wirkt, das Feminine durch einen älteren Anspruch der Männer an Mode ablöste, der irgendwo zwischen indischem Herrschergewand und Shakespeares Frauendarstellern wurzelt. Der amerikanische Vertrieb mochte übrigens nicht folgen. In den USA erschien das Album mit einem kernigen Comic-Cowboy auf dem Titel.

Doch noch provokanter als alle Rotzigkeit ist die Ansage, dass man als Rockmusiker nicht länger so tun wird, als greife man nach dem Aufstehen nach den ersten Klamotten, die auf dem Boden der Hotelsuite herumliegen: Angie Bowie, die den außergewöhnlichen Songs der Band eine adäquate Bühnenshow verordnet, sucht ständig nach Looks und Stilen für ihren Mann, mit dem sie sich den Kleiderschrank teilt.

Doch Bowie ist nicht Drag - und auch das öffentliche Statement, er sei schon immer homosexuell gewesen wirkt wie eine bloße Ausweitung seiner Persönlichkeit. Seine zartblonde Schönheit, die perfekte Symmetrie seines Gesichts - attraktiverweise von einem starren Auge gestört -, ist bereit zum Anziehen und Ausmalen. Seinen wahren Charakter enthüllen, wie so häufig in dieser Zeit, Polizeifotos, die nach einer Drogenrazzia aufgenommen werden: Bowies Haare sind gescheitelt, der Anzug perfekt gebügelt - ein Antiopode zu den fast zu grellen Figuren wie Ziggy, der noch nicht einmal in der Welt ist, als das Album am 6. Juni 1972 erscheint.

Das menschliche Alien, der als Messias und Superstar in einem exzessiven Lifestyle gefangen ist, entwickelt sich in aller Theatralik auf einer langen Welt-Tournee. Während Freunde wie der Designer Freddie Burretti, Nachbarn und Babysitter an den aufwendigen Steppnähten und irren Mustern der Overalls verzweifeln, beginnt die Transformation mit ein paar Magazinstrecken, die das Ehepaar Bowie der Friseuse Suzi Fussey in Beckenham vorlegt, der Schnitt soll gleichermaßen an die abgeraspelten roten Haare eines Vogue-Models erinnern, wie auch an die Modestrecke des Japaners Kansai Yamamoto. Neben viel Lotion braucht es zum roten Strubbel deswegen viel Schwarzkopf-Farbe in den Tönen Georgette 256 und Kirschrot - und der japanbegeisterte Bowie lässt sich bald in Tokio vom Kabuki-Meistern erklären, wie man mit reishellem Puder umgeht. Am Ende der Tournee braucht er zwei Stunden in der Schminke. Und Ziggy scheint ihm stets im Nacken zu sitzen, auch jenseits der Bühne schmückt sich Bowie mit fliederfarbenen Samtjäckchen von Issey Miyake, wenn er nicht die bunten, körperbetonten Zweireiher trägt, die ihm Burretti maßschneidert.

Die nächste Tour stattet dann Kansai Yamamoto persönlich aus, der begeistert ist von dem energiegeladenen Briten, der sich im Schlussverkauf einen ersten Mini-Overall aus dünnem Leder geleistet hat, über und über mit asiatischen Kaninchen und einem züngelnden Rapport in Orange und Schwarz bedeckt. Kann man weniger anhaben? Sogar aus heutiger Perspektive, wo Plattenverkaufs-Millionärinnen in Outfits auftreten, in denen sie an keiner Strandbar bedient würden, wirkt die Nacktheit der Figur Aladdin Sane auf der Bühne verstörend: Dass Yamamoto einen engen Bodysuit aus flauschiger Wolle stricken lässt, betont den glatten Arm und das Bein, die unbedeckt bleiben. Die Kleidung tut dem Körper durchaus etwas an, wie auch der Bodysuit 'Tokyo Pop', der aus festem Lack mit weißen Abnäherbögen wirkt, als stecke da ein verflachter Musiker in einer Schallplatte fest.

David Bowie ist zur Mode-Ikone geworden, dessen Einfälle bis heute von Designern und Fashion-Fotografen aufgegriffen werden. Nicht weil er Stil hatte, sondern weil er professionell mit Kleidung umging. Erst rückblickend erscheint die Vielfältigkeit als Qualität. Der ernsthaft um Stil bemühte David Bowie hatte nämlich auch begriffen, dass es nicht der Wechsel ist, der anzieht, sondern das Versprechen, dass man mit jedem neuen Stil einen endgültigen, perfekten Zustand erreicht. Nach 'Ashes to Ashes' verkündet Bowie, erschöpft von der Mode: 'Ab jetzt sind die Outfits für die Bühne funktionaler. Ich entwerfe nicht mehr für Charaktere.'

Die Ausstellung überspielt allerdings diesen fundamentalen und aufschlussreichen Bruch, präsentiert den engen Bodysuit im gleichen Saal wie die opulenten Gewänder aus Rüschen und Brokat, die Alexander McQueen Bowie in den Neunzigern anpasste, die metallgeschäumten Pierrot-Verkleidungen und die von Armani mit viel weißer Spitze aufgeweichten Konturen des Thin White Duke.

Doch vor allem ist es bedauerlich, wie sehr die Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst versagt, wo es um Bowies künstlerische Ambitionen geht: Anders als Pete Townsend oder Brian Eno hat Bowie nie Kunst studiert. Aus seinen Zeiten bei einer Werbeagentur hat er sich nur die Fähigkeit bewahrt, visuelle Einfälle in Skizzen oder Bilderfolgen präzise festzuhalten. Vor allem die Verweise auf Andy Warhol sind insofern tautologisch, als der es mit seiner Factory ja umgekehrt darauf angelegt hatte, wie eine Agentur zu funktionieren. Ein Film, entstanden bei der einzigen Begegnung der beiden in der Factory im September 1971, belegt vor allem Fremdheit: Bowie führt für die Kamera eine kurze Pantomime auf, die Nummer mit dem Abtasten der Glasscheibe. Als er bemerkt, dass Warhol, der den nach ihm benannten Song hasst, nicht einmal hinschaut, verbirgt Bowie sein Gesicht hinter langen Haarsträhnen wie ein Eingeborener, der Angst hat, dass ihm die Seele geraubt wird.

Am nächsten kommen sie sich nach dem Tod des Künstlers, als Bowie ihn im Film 'Basquiat' spielte und sich ausbat, während der Dreharbeiten Brille und Perücke des Verstorbenen zu tragen. Es ist der Paradiesvogel, der Alien, der hier erneut nach dem genau richtigen Accessoire greift. Der mit seiner Erscheinung dafür einsteht, dass er vielleicht ganz anders ist, als alle hier - aber auch das Versprechen verkörpert, dass es irgendwo noch viele, eine ganze Population gibt, die so ist wie er. Dass da eine Welt auf uns wartet.

David Bowie Is. Bis 11. August, Victoria & Albert Museum, London. Der Katalog kostet 20 Pfund. www.vam.ac.uk.

Von der Politik im Stich gelassen

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Umfrage zeigt: Viele Kinder und Jugendliche wollen mitgestalten, wissen aber nicht wie. Sie fühlen sich von der Politik allein gelassen.

Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen in Deutschland fühlt sich einer Umfrage zufolge von der Politik im Stich gelassen. Zwei Drittel hätten den Eindruck, dass es die Bundesregierung zu wenig interessiert, was junge Menschen denken, sagte der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes, Thomas Krüger, am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung einer Studie zum politischen Engagement von Jugendlichen. Sie basiert auf einer Umfrage unter 10- bis 17-Jährigen.


Laut der Umfrage seien viele Jugendliche politisch uninteressiert.

Noch schlechter ist es um das Ansehen der Kommunalpolitik bestellt. Hier haben nur 15 Prozent den Eindruck, dass sich Lokalpolitiker für junge Menschen und deren Anliegen interessieren, heißt es weiter. Die Hälfte der Befragten gab an, sich nicht politisch engagieren zu wollen. Andererseits zeigte sich aber jeder Dritte (32 Prozent) 'interessiert' am politischen Engagement. Deutschlandweit wurden dafür 830 Kinder und Jugendliche befragt. Die Umfrage wurde vom Bundesfamilienministerium gefördert.

Krüger forderte als Konsequenz einen Ausbau der Beteiligungsmöglichkeiten von jungen Menschen. Neben einer Senkung des Wahlalters auf 16 oder sogar 14 Jahre müsse insbesondere der Wunsch nach Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule ernst genommen werden, sagte Krüger. Die Schulgesetze der Länder müssten entsprechend verändert werden. Laut Umfrage besteht bei Kindern und Jugendlichen ein großes Informationsdefizit bei den Themen Mitbestimmung und Beteiligung. 44 Prozent der Befragten wussten nicht, ob sie auf Entscheidungen vor Ort Einfluss nehmen oder sich politisch engagieren können. Als Hauptinformationsquellen in dieser Frage gaben mehr als die Hälfte (58 Prozent) Schule und Lehrer an. 'Schule ist der Lernort für Politik schlechthin', betonte Krüger.

Hier finde der Transfer sozialer Kompetenzen statt, politisches Interesse könne geweckt werden. Deshalb dürften Fächer wie Politik, Sozialkunde und Geschichte nicht weiter zugunsten von Pisa-relevanten Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen zurückgedrängt werden. 'Die Ergebnisse geben Anlass zur Unruhe', sagte Kinderhilfswerk-Präsident Thomas Krüger. Viele Kinder hätten 'zugemacht' und ließen politische Kommunikation nicht mehr an sich heran. Die meisten kannten nicht einmal den Namen des Bürgermeisters in ihrem Ort.

'Die Politik muss auf allen Ebenen alles daran setzen, das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen wiederherzustellen', forderte Krüger. Das Gefühl, dass die Bundespolitik sie im Stich lasse, sei bei den Schülern aber immer noch weniger stark ausgeprägt als bei vielen Erwachsenen. Bei einer ähnlichen Frage im Fairnessbarometer hätten fast drei Viertel der Erwachsenen die Regierung als unfair bezeichnet. Der Wille zu politischem Engagement steigt bei Kindern der Umfrage zufolge bis zum 15. Lebensjahr an. In dieser Zeit helfe die Schule beim Bilden von Werturteilen und schüre Interesse. Danach - in der zentralen Phase der Pubertät - sei ein deutlicher Bruch zu verzeichnen, sagte Krüger. Das sei ein Grund, über das Wahlalter nachzudenken. Ziel müsse sein, Jugendliche dann wählen zu lassen, wenn sie politisch am meisten interessiert seien, also bereits mit 14 Jahren.

Rassismus-Verdacht beim Verfassungsschutz

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Geheimdienst-Mitarbeiter sollen von Kollegen jahrelang beleidigt und wegen ihrer Herkunft verspottet worden sein.

Im Bundesamt für Verfassungsschutz gibt es schwere interne Spannungen wegen mutmaßlich islamfeindlicher und rassistischer Äußerungen von Mitarbeitern. Beamte, die Wurzeln im Ausland haben, sollen sich darüber vor ein paar Jahren intern beschwert haben. Der Konflikt über diese Fälle soll andauern und zu Zerwürfnissen im Dienst geführt haben, heißt es in Sicherheitskreisen. Andere behaupten, der Fall sei gelöst und erledigt. Ein Sprecher des Bundesamts sagte, zu Personalangelegenheiten könne die Behörde nicht öffentlich Stellung nehmen.


Beim Geheimdienst soll es islamfeindliche Äußerungen gegeben haben

Ein Mitarbeiter soll von anderen 'Muselmann' und 'Ölauge' genannt worden sein, wird in Sicherheitskreisen erzählt. In einem Fall soll ein Beamter eine SMS mit islamfeindlichen Inhalten an einen Kollegen geschickt haben, der Migrant ist. Ein Beamter der Islamismus-Abteilung hatte offenbar in seinem Büro eine Kreuzritter-Spielfigur aufgestellt, die ihr Schwert auf eine Miniatur-Moschee gerichtet haben soll. Bei einem Essen soll ein Verfassungsschützer gehöhnt haben, der Migranten-Kollege habe erst vor Kurzem gelernt, mit Messer und Gabel zu essen.

In der Abteilung, die für die Beobachtung militanter Islamisten zuständig ist, sollen über einen längeren Zeitraum abfällige Bemerkungen über Muslime gemacht worden sein. Deutsche seien einmal als 'Herrenrasse' bezeichnet worden. Die Beschuldigten sollen die Vorwürfe zum Teil eingeräumt, zum Teil bestritten haben. Zudem sei intern darüber diskutiert worden, ob die Äußerungen als lediglich flapsige, nicht ernst gemeinte Bemerkungen zu verstehen gewesen seien. Während die einen die Auseinandersetzung für symptomatisch für den Zustand der Behörde halten, sprechen andere von einer absoluten Ausnahme. Da die Vorfälle wenige Jahre zurückliegen, betreffen sie noch nicht die Amtszeit des Präsidenten Hans-Georg Maaßen. Er rückte vorigen Sommer als Nachfolger von Heinz Fromm an die Spitze des Bundesamts. Die Angelegenheit sei aber noch nicht bereinigt, sagen Kritiker. Weiterhin gebe es Groll und Rassismus-Vorwürfe sowie eine Unzufriedenheit über den Umgang mit der Affäre.

Zwar soll es interne Untersuchungen gegeben haben. Dabei soll allerdings einer der Beamten, der sich als Opfer sah, selbst mit einem Disziplinarverfahren belegt worden sein - angeblich weil er einmal einen Witz über den Papst gemacht habe. Der Beamte soll in ein anderes Referat versetzt worden sein. Kritiker seien in ihren Karrieren gebremst, mutmaßliche Täter dagegen in der Islamismus-Abteilung belassen und teilweise befördert worden. Andere sagen, der Konflikt sei gelöst worden, doch manch einer wolle keine Ruhe geben und verfolge eigene Ziele.

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, kritisierte, dass der Verfassungsschutz als eine 'rein deutsche Institution' erscheine. Es gebe dort zu wenige Migranten. Dieser Eindruck sei unzutreffend, sagte ein Sprecher des Verfassungsschutzes. Es gebe bei den Mitarbeitern eine beträchtliche Vielfalt.


Whistleblower ohne Schutz

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Ein UN-Experte macht auf krumme Geschäfte aufmerksam - und wird gefeuert. Sechs Jahre später erhält er eine Entschädigung, doch die Höhe ist bedenklich.

München - Wer den Mund aufmacht, wird bestraft bei den Vereinten Nationen. Jedenfalls muss das James Wasserstrom so sehen. Und er hat guten Grund dazu. Der Anti-Korruptions-Experte hatte bei der UN genau das gemacht, was seine Aufgabe war: seine Oberen in New York auf mutmaßliche krumme Geschäfte und Durchstechereien aufmerksam zu machen. Und was geschah? Er wurde gefeuert. Fristlos. Von der UN-Polizei in Kosovo, wo er seinerzeit arbeitete, wurde er sogar wie ein Krimineller behandelt.



Wer bei den Vereinten Nationen die Wahrheit sagt, wird bestraft.

Kaum sind sechs Jahre vergangen, rehabilitierte ihn nun ein UN-Schiedsgericht in New York und sprach ihm eine Entschädigung zu: 65000 Dollar als Ersatz dafür, dass ihn die UN nach 27 Jahren Dienst ohne Anspruch auf Pensionszahlungen entlassen hatte. Wasserstrom selbst ist frustriert. Er sieht das als eine lächerlich geringe Summe an. Er wollte 3,8 Millionen Dollar. Dem US-Magazin Foreign Policy sagte Wasserstrom: 'Die Botschaft ist doch klar. Wenn man sich traut und das Richtige macht, dann macht man das auf eigenes Risiko. Es gibt absolut keinen Schutz.'

Tatsächlich dürfte die Entscheidung des United Nations Disputes Tribunal zumindest zweischneidig sein. Auf der einen Seite ist das Urteil nach Einschätzung des Government Accountability Project (GAP), einer Organisation in Washington, die sich für Menschen wie Wasserstrom einsetzt, ein böser Tadel für die Vereinten Nationen und insbesondere für UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Das Schiedsgericht sei 'hochkritisch', was den Umgang der Vereinten Nationen mit Whistleblowern angeht, also mit Angestellten, die auf Missstände innerhalb der Organisation aufmerksam machen - und oft genug dafür auch noch gemaßregelt werden. Auf der anderen Seite sei Wasserstroms Entschädigung, so sagt Shelley Walden, die den Fall beim GAP seit Jahren begleitet, eben 'eindeutig nicht genug' für das, was ihm widerfahren ist.

Wasserstrom, ein aus den USA stammender UN-Diplomat, hatte Anfang 2007 schriftlich Hinweise ans UN-Hauptquartier in New York weitergegeben, denen zufolge bei der Auftragsvergabe für den damals geplanten Neubau eines großen Kohlekraftwerks in Kosovo Bestechungsgelder in Millionenhöhe geflossen seien - an den zuständigen Minister in Kosovo, aber auch an Beamte der UN-Mission dort. Ein Vierteljahr später erhielt Wasserstrom seine Kündigung. Er wurde an der Grenze von UN-Polizisten festgenommen, sein Pass konfisziert, und sein Haus und Büro wurden durchsucht - ohne dass es einen Gerichtsbeschluss dafür gegeben hätte.

Wasserstrom beschwerte sich beim UN Ethics Office, der Aufsichtsbehörde, die das Verhalten von UN-Beamten prüft, und bei Generalsekretär Ban persönlich. Der reagierte erst gar nicht auf die Eingaben. Und das Ethics Office bescheinigte Wasserstrom zwar, dass Festnahme und Rauswurf 'exzessiv zu sein gewesen scheinen'. Einen Racheakt seiner Vorgesetzten wollte es indes nicht darin sehen.

Das wiederum vermochte nun das Schiedstribunal ganz und gar nicht zu verstehen. 'Klar und unbestritten' hätten Wasserstroms Vorgesetzte ihn als Whistleblower abgestraft. Dass das UN Ethics Office das nicht habe erkennen wollen, sei ein 'Versäumnis' und stelle 'ernsthaft seine Eignung als Aufsichtsbehörde in Frage'.

Das findet auch Shelley Walden von der GAP in Washington. Das UN Ethics Office, das 2006 extra geschaffen wurde, um die Eingaben zu prüfen und Whistleblower zu schützen, habe eine 'grauenvolle Bilanz'. Tatsächlich sind von 2006 bis 2012 dort 343 Beschwerden von Whistleblowern eingegangen, die sich über Racheakte ihrer Chefs beschwerten. Von denen wurden nur 13 als gerechtfertigt anerkannt, und exakt einer erhielt ohne Klage vorm Schiedstribunal eine Entschädigung. 99,7 Prozent aller Eingaben wurden also als unerheblich erledigt.

Walden glaubt indes, dass Wasserstroms Fall nicht folgenlos bleiben dürfte - und verweist auf das Haushaltsgesetz der USA, in dem die amerikanischen Beitragszahlungen für die UN geregelt werden. Danach müsste Washington 15Prozent der Beiträge für eine UN-Behörde zurückhalten, wenn sie nicht die geeigneten Schritte zum Schutz von Whistleblowern unternimmt und die Folgen der Racheakte von Vorgesetzten wiedergutmacht. Was im Fall Wasserstrom nicht wirklich geschehen ist. Shelley Walden jedenfalls glaubt, dass die Folgen gravierend sein könnten: 'Die Vereinten Nationen gefährden die Beitragszahlungen der USA.'

Im Sinne der Anklage

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Seit 23 Jahren sitzt die gebürtige Berlinerin Debra Milke in der Todeszelle. Nun hob ein Gericht das Urteil gegen sie auf. Die Geschichte eines Skandals.

Washington/München - Am Abend des 3.Dezember 1989 begegnet Debra Milke dem Mann, dessen Aussage sie in die Todeszelle bringen wird: Detective Armando Saldate vom Phoenix Police Department. Debra Milkes vierjähriger Sohn Christopher wird seit dem Nachmittag des Vortages vermisst, und die damals 26-Jährige wartet in einem Befragungszimmer der Polizeistation in Florence, Arizona, darauf, eine Aussage dazu zu machen. Es wird ihr bis heute letzter Tag in Freiheit bleiben.



Seit 23 Jahren sitzt die gebürtige Berlinerin Debra Milke in der Todeszelle.

Saldate hat die gerade mal 60 Meilen von Phoenix nach Florence an jenem Abend spektakulär mit dem Hubschrauber zurückgelegt, und auch sein Auftritt wird großes Kino sein.Bad-Cop-Kino.

Kurz vor acht Uhr betritt er den Raum, bittet alle außer Debra Milke zu gehen und schließt die Tür. Es gibt keine Zeugen. Entgegen der ausdrücklichen Dienstanweisung seines Vorgesetzten nimmt Saldate das Gespräch nicht auf Band auf.Er rückt seinen Stuhl unmittelbar vor den ihren und setzt sich. Dann beugt er sich nach vorne, sein Gesicht ist jetzt nur noch eine Armlänge von ihrem entfernt. Das Verhör kann beginnen.

Tatsächlich bekommt Armando Saldate an diesem Abend sein Geständnis: Debra Milke gibt zu, dass sie ihren Sohn Christopher ermorden ließ. Das jedenfalls behauptet der Polizist. Milke hat nie ein Geständnis unterschrieben und bestreitet bis heute, die Tat gestanden und, erst recht, sie begangen zu haben.

Es gibt keine anderen Beweise, nur dieses Geständnis. Selbst seine handschriftlichen Aufzeichnungen hat Saldate angeblich vernichtet, nachdem er seinen Bericht geschrieben hatte. Dennoch wird Debra Milke, eine in Berlin geborene Amerikanerin, am 12. Oktober 1990 wegen Mordes, Verschwörung zum Mord, Kindesmissbrauch und Entführung schuldig gesprochen. Das Strafmaß ist der Tod.

Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, könnte sie in die Freiheit zurückkehren. Ein Berufungsgericht hat vergangene Woche angeordnet, ihren Prozess neu aufzurollen - oder sie aus der Haft zu entlassen. Der Vorsitzende Richter Alex Kozinski begründet seine Entscheidung damit, dass das Urteil gegen Milke allein auf der Aussage eines Polizisten basiert, der seine Glaubwürdigkeit längst verloren hatte. Jener Saldate nämlich hatte in seinen 21 Dienstjahren vor Milkes Verurteilung immer wieder die Rechte von Verdächtigen missachtet, Kompetenzen überschritten und sogar mehrfach unter Eid vor Gericht gelogen. Davon haben die anklagende Staatsanwaltschaft und Saldates Vorgesetzte gewusst. Aber nicht die Verteidigung und auch nicht die Geschworenen. 'Dies ist ein verstörender Fall', sagte Richter Kozinski.

Damit ist Debra Milke wohl das Opfer eines doppelten Justizversagens. Zum einen ist sie an einen notorisch unzuverlässigen Polizisten geraten, dessen Verfehlungen bis in die siebziger Jahre zurück aktenkundig sind, und der im Grunde nicht mehr bei derart gravierenden Verbrechen hätte ermitteln dürfen. Zum anderen vertuschten die Behörden des US-Bundesstaates Arizona die Vorgänge und schickten Debra Milke in den Todestrakt, statt Saldates Machtmissbrauch offenzulegen.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist dennoch kein Freispruch. 'Sie könnte schuldig sein, selbst wenn Saldate ihr Geständnis nur erfunden hätte', schreibt Richter Kozinski. Aber sie wäre, merkt er an, wohl nicht verurteilt worden, wenn die Geschworenen die Wahrheit über den Polizisten gewusst hätten.

Noch sitzt Debra Milke, heute 49, Häftling Nummer 83533, im Arizona State Prison Perryville, aber 'Debra ist in Ekstase nach diesem Beschluss', sagt ihre Anwältin, Lori Voepel. 'Sie fühlt sich bestätigt - zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hat.' Allerdings sei ihre Mandantin frustriert darüber, dass der Staat Arizona die Entscheidung Kozinskis anfechten wird. Das bedeutet nämlich, dass sie vorerst im Gefängnis bleiben muss - bis der Fall, der seit zwei Jahrzehnten durch die Instanzen geht, endlich in der letzten angekommen ist. Aber immerhin hat die US-Justiz anerkannt, dass jenes Verhör im Dezember 1989 und das daraus angeblich hervorgegangene Geständnis nicht zu einer Verurteilung hätten führen dürfen.

Wer Saldates Vernehmungsbericht von damals liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Polizist längst zu wissen glaubte, was geschehen war. Und dass er nicht gewillt war, sich von seiner Wahrheit abbringen zu lassen.

Auszug aus Detective Armando Saldates Bericht vom 6. Dezember 1989, 8:40 Uhr. Interview vom 3. Dezember 1989 mit Debra Jean Milke, weiblich, geboren am 3.10.1964 in Berlin, 172 cm, 73 Kilogramm: 'Ich habe Debra erklärt, dass ihr Sohn Chris in der Wüste gefunden wurde und dass er erschossen wurde. Debra fing sofort an "Was? Was?" zu schreien. Sie begann Geräusche zu machen, als würde sie weinen, aber es waren keine Tränen zu sehen. Ich habe ihr gesagt, ich würde ihr Weinen nicht dulden, und dass sie still sein solle. Dann habe ich ihr ihre Rechte vorgelesen.'

Vor Gericht wird Saldate sagen, Milke habe 'versucht zu weinen'. Was er damit bezweckt, scheint klar zu sein: Wer keine Tränen hat, der weint nicht. Und wer nicht weint, wenn das eigene Kind stirbt, ist gefühlskalt und damit schon mal verdächtig. Der unbarmherzige Ton gehört zu Saldates Verhörtechnik, auf die er stolz ist. Er sei sehr direkt, wird er dem Gericht erklären, gerne konfrontativ und provozierend.

'Wieder tat Debra so, als weine sie, und sie schrie, aber ich sah keine Tränen. Ich sagte ihr wieder, dass ich das nicht dulde. Ich erklärte ihr, dass ich nur aus einem einzigen Grund hier war: um die Wahrheit zu hören, und dass ich Lügen nicht dulde.'

Auf die Spur Debra Milkes kam Saldate am Nachmittag jenes 3. Dezember. Der Polizist verhörte einen gewissen Roger Scott, der unter dem dringenden Verdacht stand, mit einem Mann namens Jim Styers für das Verschwinden des kleinen Christopher Milke verantwortlich zu sein. Styers, ein psychisch labiler Vietnam-Veteran mit posttraumatischen Störungen, war Debra Milkes Mitbewohner. Roger Scott, ein Alkoholiker, war mit ihm befreundet.

Tatsächlich gestand Roger Scott die Beteiligung an dem Mord, allerdings in verschiedenen Versionen. Eine Version lautete, Jim Styers, Milkes Mitbewohner, sei von dem Kind genervt gewesen und habe es deswegen erschossen. Eine andere war: Debra Milke habe Styers darum gebeten, weil sie ihren Sohn loswerden wollte. Gemeinsam ist den Versionen, dass Scott nicht geschossen haben wollte.

Jim Styers wiederum behauptete, Scott habe geschossen - und Debra Milke habe mit der Sache nichts zu tun. Beide wurden wegen des Mordes an Christopher Milke zum Tode verurteilt. Bei Scott wurde später Schizophrenie diagnostiziert und die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. Dass er Milke der Anstiftung beschuldigt hatte, wurde vor Gericht als Hörensagen verworfen. Roger Scott weigerte sich, im Verfahren gegen Milke auszusagen.

Jim Styers Hinrichtung ist nach wie vor geplant. Er bleibt dabei, dass Debra Milke unschuldig sei.Die einzige Verbindung Debra Milkes zu dem Mord an ihrem Sohn war das von Armando Saldate niedergeschriebene Geständnis. Es fehlte jeder Sachbeweis für ihre Beteiligung an der Tat.

Vor Gericht stand also sein Wort gegen ihres, das Wort eines erfahrenen Polizisten und geübten Zeugen gegen das Wort einer geschiedenen, alleinerziehenden Mutter, die nicht gerade eine heile Welt vorweisen konnte: Debra Milke wurde als Tochter eines US-Soldaten geboren, der zum Alkoholiker wurde und die Familie tyrannisierte. Auch Milkes Ex-Mann, der Vater ihres Sohnes, war ein Trinker. Außerdem war er ein Gewohntheitskrimineller, der meist in Gefängnissen saß.

Die verkorkste Existenz ihres Ex-Mannes soll laut Saldate auch der Grund für Debra Milke gewesen sei, ihren Sohn töten zu lassen. In seinem Bericht behauptet Saldate, sie hätte ihm gesagt: 'Ich wollte einfach nicht, dass er wird wie sein Vater.'

Die Jury glaubte seinen Ausführungen. Allerdings wohl nur, weil die Justiz Arizonas gegen ein fundamentales Prinzip des US-Rechtssystems verstieß: Dieses besagt, dass Staatsanwälte nicht nur alles vortragen müssen, was einen Angeklagten belastet, sondern auch alles, was ihn entlastet. Und dazu gehören selbst Fakten, die Zeugen der Anklage diskreditieren und die Anklage unterminieren könnten.

Aber obwohl Milkes Verteidigung immer wieder klagte, dass ihr der Zugang zu Saldates Dienstakte verweigert werde, sorgte die Justiz nicht dafür, dass der Hintergrund des Polizisten - des einzigen Zeugen für Milkes angebliches Geständnis - ausgeleuchtet werden konnte.

Je länger Milkes Anwaltsteam sich aber durch die Instanzen kämpfte, desto mehr Unterlagen über Saldates Vorgeschichte tauchten auf. Es stellte sich unter anderem heraus, dass Saldate nachweislich viermal unter Eid gelogen hatte - davon zweimal, um Angeklagte schuldiger wirken zu lassen, als sie waren. In vier weiteren aktenkundigen Fällen hatten Gerichte Geständnisse anderer Beschuldigter verworfen oder Schuldsprüche widerrufen, weil Saldate die Rechte der Verdächtigen massiv missachtet hatte.

So wurde 1984 in Saldates Akte festgehalten, dass er einen Verdächtigen verhört hatte, der nach einer Schädelfraktur verwirrt in einem Krankenhausbett lag. Dessen Aussagen wurden anschließend sogar in eine Anklage aufgenommen, obwohl der Mann zur Zeit seiner Befragung durch Saldate nicht einmal in der Lage war, den Ärzten seinen Namen, das Jahr oder den gegenwärtigen Präsidenten zu nennen.

Ein weiterer Vorfall datiert zurück bis ins Jahr 1973: Damals suspendierte die Polizei Saldate für fünf Tage vom Dienst. Er hatte eine Autofahrerin wegen eines kaputten Rücklichts angehalten, sich zu ihr ins Auto gesetzt, sich 'gewisse Freiheiten' genommen und sich anschließend mit ihr zum Sex verabredet.

Internen Ermittlern gestand er diese Geschichte erst, nachdem er am Lügendetektor durchgefallen war. Am Ende des Disziplinarverfahrens hieß es, Saldates 'Ehrlichkeit, Kompetenz und Zuverlässigkeit' stünden in Frage.

Als im ersten Prozess Wort gegen Wort stand, wäre dieser Eintrag in der Dienstakte unschätzbar wertvoll gewesen für die Verteidigung. Und tatsächlich hätte die Anklage das Dokument damals offenlegen müssen, was sie aber nicht tat - ein offensichtlicher Verstoß gegen das Grundrecht auf ein faires Strafverfahren.

Die ganze Wahrheit über Saldate wurde erst bekannt, nachdem Milkes Verteidigung in einem Kraftakt zehn Mitarbeiter in die örtliche Gerichtskanzlei schickte und Saldates Namen in sämtlichen Justizakten der Jahre 1982 bis 1990 suchen ließ. Nach 7000 Stunden Arbeit hatten sie, was die Behörden ihnen illegaler Weise fortwährend verweigert hatten: eine Dokumentation der vielen Verfehlungen Saldates und damit das Fundament für die jetzige Entscheidung des Berufungsgerichts.

Dennoch wäre es für Debra Milke beinahe zu spät gewesen:Anfang 1998 schien ihre Hinrichtung unausweichlich zu sein. Sie hatte schon ihre Henkersmahlzeit ausgewählt, Zeugen für die Hinrichtung bestimmt und mit dem Anstalts-Geistlichen gesprochen. Sogar der Gefängnisarzt war schon bei ihr gewesen und hatte ihre Venen abgetastet, um herauszufinden, wo er die Giftspritze - 'eine intravenöse Injektion von Substanzen in Mengen, die ausreichen, den Tod herbeizuführen' - am besten setzen könnte. Dann konnte ihr Verteidiger doch eine Verschiebung erwirken.

'Mein Körper ist nur noch Hülle', so beschrieb Debra Milke sich danach.Auf diplomatische Hilfe aus Deutschland konnte sie nicht hoffen: Milke stammt zwar von einer deutschen Mutter ab, besitzt aber selbst nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. So durfte sich der deutsche Honorarkonsul in Arizona nicht im Namen der Bundesrepublik für die Inhaftierte einsetzen.

In seiner Entscheidung hält Richter Alex Kozinski ausdrücklich fest, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur ihre Pflichten zur Offenlegung von Beweisen vernachlässigt, sondern Saldates Geschichte 'aktiv vertuscht' habe. Die Gerichte im Bundesstaat Arizona hätten es gleichzeitig versäumt, die Rechte der Angeklagten zu schützen. Mehr staatliches Versagen in einem einzigen Kriminalfall ist - in Rechtsstaaten jedenfalls - kaum möglich.

Der Staat Arizona allerdings gibt sich noch nicht geschlagen. Generalstaatsanwalt Tom Horne hat erklärt, Debra Milke habe die Tötung ihres Sohnes veranlasst, dies sei ein schreckliches Verbrechen. Deswegen werde er persönlich in Washington plädieren, falls der Fall vor das Oberste Gericht der USA gelange.

Sollte der Staat Arizona mit seinen nächsten Rechtsmitteln scheitern, muss er einem örtlichen Bundesgericht zunächst einmal die komplette Personalakte Saldates aushändigen. Anschließend dürfte das Gericht die Freilassung Debra Milkes anordnen, es sei denn, der Staat verlangt einen neuen Strafprozess. Wie lange sich all das noch hinzieht, ob über Wochen, Monate oder Jahre, ist noch völlig unklar.

Detective Armando Saldate wurde, nachdem er den Fall Milke in kürzester Zeit und unter dem Beifall der örtlichen Medien gelöst hatte, zum Constable gewählt - ein angesehener Posten am Gericht, eine Mischung aus Sheriff und Gerichtsvollzieher. Heute soll er als Rentner in Phoenix leben. Würde der Fall neu aufgerollt, müsste Saldate wohl erneut als Zeuge erscheinen. Er, der Debra Milkes Mutter nach der Totenfeier für Christopher Milke gesagt hatte, ihre Tochter sei 'schuldig wie die Hölle und das Böse'.

Operation Parkverbot

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Schicke Optik, dröhnende Rhetorik - trotzdem steckt 'Inspire', das Magazin für den Al-Qaida-Nachwuchs, in der Krise.

Als Inspire im Sommer 2010 zum ersten Mal erschien, war das Dschihad-Magazin eine Sensation. Die neue Ausgabe hingegen ist eher peinlich - und sagt einiges über die aktuelle Situation von Al-Qaida aus. Am ersten März war es wieder soweit: Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel veröffentlichte nach rund zehn Monaten Pause eine neue Ausgabe von Inspire, ihres englischsprachigen Online-Magazins. Sogleich stürzten sich Sicherheitsbehörden, Journalisten und Dschihadisten auf das Heft. Nach der Lektüre waren die einen erleichtert, die anderen vermutlich enttäuscht. Denn die zehnte Ausgabe wirkt eher wie eine Parodie früherer Ausgaben.



Schicke Optik, dröhnende Rhetorik -"Inspire", das Magazin für den Al-Qaida-Nachwuchs.

Interessant ist das aktuelle Heft vor allem für Autofahrer. Denn Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAH) hat den Straßenverkehr zur neuen Kampfzone auserkoren: Nagelbretter und Öl auf der Fahrbahn sollen Unfälle provozieren, parkende Fahrzeuge seien in Brand zu stecken. Natürlich nur, wenn es sich dabei nicht um Autos von Muslimen handele. In der Logik der Dschihadisten sollen die durch diese Aktionen entstehenden Kosten zunächst die Versicherungen in den Ruin treiben und schließlich die Regierungen zwingen, ihre 'Tyrannei gegen die Muslime' zu beenden.

Diese Logik mag abstrus, die Ratschläge albern sein. Spätestens die Hinweise zum Anzünden von Autos - bei AQAH die 'Operation No Parking' - sind jedoch unfreiwillig komisch. Denn der Verfasser rät, sich beim Ausschütten von Benzin nicht selber zu übergießen. All das klingt mehr nach betreutem Arbeiten denn nach der Ausbildung potenzieller Attentäter.

Dennoch sollte man diese Vorschläge nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn sie erscheinen in einem anderen Licht, wenn man sich vor Augen führt, an wen sich diese Ratschläge richten: junge, bereits radikalisierte Muslime im Westen, die vor dem Schritt in die Militanz stehen. Für diese kann ein Magazin wie Inspire den entscheidenden Anstoß geben.

So wie im Fall von Keramat G., einem Deutsch-Afghanen, der im Februar 2011 einen Sprengkörper herzustellen versuchte. Die Anleitung dazu stammte aus der ersten Ausgabe von Inspire. In seinem Übereifer verwendete G. jedoch die zehnfache Menge an Sprengmaterial. Die Chemikalien explodierten bereits beim Mischen, G. verletzte sich schwer, seine Wohnung wurde stark beschädigt. Er muss sich derzeit vor dem Frankfurter Landgericht wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat verantworten.

Einzeltäter wie Keramat G., die sogenannten einsamen Wölfe', sind von den Sicherheitsbehörden gefürchtet. Sie sind besonders schwer aufzuspüren, da sie keine Verbindungen in die Dschihad-Szene haben. Hinzu kommt, dass der Prozess ihrer Radikalisierung sehr schnell und von der Außenwelt unbemerkt verlaufen kann. Derartige Einzeltäter, die zum intellektuellen Fußvolk des Dschihadismus zählen, könnten sich auch von der neuen Ausgabe angesprochen fühlen. Neue Leser dürfte AQAH aber kaum gewinnen. Denn der geistige Niedergang von Inspire manifestiert sich auch in allen inhaltlichen Aspekten. Weder schicke Optik noch dröhnende Rhetorik können darüber hinwegtäuschen, dass das Heft nichts ist als ein müder Aufguss der sattsam bekannten Mischung aus Propaganda, praktischen Terror-Tipps und Reden von Al-Qaida-Führern, alles abgeschmeckt mit Dschihad-Lyrik.

Ein dominierendes Thema ist die französische Intervention in Mali, der sich gleich mehrere Texte widmen. Tenor: Die Intervention sei ein 'Kreuzzug' gegen den Islam, der Frankreich schaden werde: zu stark sei der Gegner, zu schwach die französische Wirtschaft. Und überhaupt: Im Jemen, in Mali, in Syrien - überall seien die Mudschahedin auf dem Vormarsch, weil sie den Kampf um die Herzen und Seelen der Menschen für sich entschieden.

Für Aufregung in der westlichen Öffentlichkeit soll vermutlich eine 'Fahndungsliste' mit prominenten Islamkritikern sorgen - prahlerisches Motto: 'Eine Kugel am Tag hält den Ungläubigen fern.' Doch auch hier kommt nichts Neues; die aufgeführten Personen stehen seit geraumer Zeit im Visier von Islamisten: der radikale US-Prediger Terry Jones, der dänische Zeichner Kurt Westergaard, ebenso Ayaan Hirsi Ali und Geert Wilders.

Jedoch offenbart das Heft bei näherer Betrachtung interessante Einsichten über den Zustand der Al-Qaida-Filiale im Jemen: Der dürftige Inhalt und eine verstärkte Betonung der Strategie des 'individuellen Dschihad' sind Indizien dafür, dass AQAH sich derzeit in der Defensive befindet - und ein Personalproblem hat.

Schuld daran ist in erster Linie der Drohnenkrieg, den die USA gegen die Dschihadisten im Jemen führen. Hinzu kommt das massive Vorgehen der jemenitischen Armee. Die Drohnenangriffe haben in den vergangenen Monaten stark zugenommen und große Lücken in die Reihen von AQAH gerissen; unter den Toten ist auch Führungspersonal wie Adil al-Abbab, ein hochrangiger Scharia-Gelehrten von AQAH.

Die Drohnen sorgten auch für den bis dato größten Verlust von Inspire: Im September 2011 töteten sie den populären Prediger Anwar al-Awlaki, der eine Art Galionsfigur der Zeitschrift war und bei Dschihadisten in der westlichen Welt enormes Ansehen genoss. Mit seinem Tod ist die Qualität der Terror-Postille spürbar gesunken, die Strahlkraft erloschen.

AQAH steht nun vor dem grundsätzlichen Problem, geeignetes Personal zu finden, das fließend Englisch spricht und über die notwendigen redaktionellen Kenntnisse verfügt. Derartigen Nachwuchs gibt es zwar, doch er wird inzwischen häufig schon während der Ausbildung getötet. Ein Beispiel für diese jemenitische Variante des brain drain ist Abu Yazeed al-Qatary. Er tauchte erstmals in einem AQAH-Video im Dezember 2011 auf und sorgte damals ob seiner ungeklärten Identität für Rätselraten bei den Sicherheitsbehörden. In der neunten Ausgabe erschien er dann erstmals als Autor. Ein langer Nachruf in der aktuellen Ausgabe belegt nun, dass seine publizistische Karriere nur eine Ausgabe lang währte.

Angesichts des hohes Verfolgungsdrucks und der Unfähigkeit, derzeit selber größere Anschläge durchzuführen, setzt AQAH nun umso mehr auf Einzeltäter, die im Westen Anschläge begehen sollen. Subtext: Lieber viele kleine Anschläge als überhaupt keine.

Hinter all der dröhnenden Propaganda schimmert eine leise Verzweiflung ob der eigenen Handlungsunfähigkeit. Da wären schon ein paar brennende Autos ein Erfolg. Doch am größten scheint die Furcht der Terroristen vor der Nichtbeachtung: Die ersten Ausgaben schlugen ein wie eine Bombe, das aktuelle Heft hingegen findet kaum öffentlichen Widerhall - zu Recht.

Qual der Waffen

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Die Aufständischen in Syrien brauchen Hilfe, um Assad zu stürzen. Doch in Deutschland passiert nicht viel.

Ferne Ereignisse, insbesondere schreckliche, können auch in der Innenpolitik Druck aufbauen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Lektion gelernt und sie nach der Atomkatastrophe von Fukushima mit einer rasanten Energiewende beherzigt. Jene Katastrophe aber, die sich seit zwei Jahren in Syrien entfaltet und 70000 Menschen das Leben gekostet hat, bewirkt in der Innenpolitik auf seltsame Weise: gar nichts. Die Kanzlerin und ihr Außenminister versichern, dass sie unter dem endlosen Morden leiden. Gewiss quält beide, was jeden fühlenden Menschen quälen muss. Sie stehen aber deshalb nicht etwa unter Druck. In Fragen von Krieg und Frieden wissen sich Angela Merkel und Guido Westerwelle einig mit dem allergrößten Teil der deutschen Bevölkerung. Worin? Darin, dass Deutschland gut sein und keine neue Schuld auf sich laden soll.


Assad hat genügend Waffen, die Opposition nicht.

Solange es um das Wünschen geht, ist auch klar, was das im Falle Syriens bedeutet. Die Herrschaft des Baschar al-Assad soll zu Ende gehen und das Morden aufhören. Die moderate Opposition soll die Macht im ganzen Land übernehmen und ein Gemetzel zwischen Volksgruppen und Religionen verhindern. Gotteskriegern soll nicht erlaubt werden, die ganze Region ins Unglück zu stürzen. Gute Ziele sind das. Ziele, die zumindest im Westen fast jeder teilt. Die Probleme beginnen beim Tun. Oder auch beim Nicht-Tun. Hier wird es tückisch, denn beides kann im Krieg Schuld nach sich ziehen. Der Streit über Waffenlieferungen an die syrische Opposition demonstriert, wie schwer es trotz bester Absichten sein kann, die richtige Seite zu finden.

Deutschland gehört bislang in der Europäischen Union zu jenen, die am Waffenembargo festhalten wollen. Es gibt dafür gute Gründe. Das Kriegsgerät kann in die Hände von Extremisten geraten, die in großer Zahl in Syrien versammelt sind. Es birgt die Gefahr, dass sich die Spirale der Gewalt noch schneller dreht und Nachbarländer in Mitleidenschaft gezogen werden. Waffenlieferungen könnten den Konflikt weiter anheizen, hat die Kanzlerin gewarnt. Das klingt danach, dass die Bundesregierung auf der sicheren, der guten Seite steht, die den Menschen in Syrien noch mehr Leid ersparen will. Auf dieser Seite ist jedenfalls die 'Kultur der militärischen Zurückhaltung' (Westerwelle) zu Hause und damit wohl auch die große Mehrheit der Bundesbürger.

Gegen die angeführten Argumente spricht nichts außer vielleicht die Wirklichkeit in Syrien. Die Aufständischen kontrollieren mittlerweile Teile des Landes, doch bisher sind sie nicht in der Lage, den Krieg für sich zu entscheiden. Der seit Monaten von Geheimdiensten, auch deutschen, prophezeite Zusammenbruch des Assad-Regimes lässt auf sich warten. Assad setzt derweil auf Massenmord, lässt Kämpfer wie Zivilisten mit Artillerie, Raketen und aus Flugzeugen beschießen. Er muss dabei nicht fürchten, dass ihm die Munition ausgeht. Er wird versorgt vom befreundeten Regime in Teheran und wohl auch von Russland. Das Embargo der EU hat eben diesen einen gewichtigen Haken: Es trifft nur die Opposition.

Die Politik des Westens im komplizierten syrischen Gemenge lässt sich ausführlich erklären. In den Ohren der syrischen Opposition wird sie knapp zusammengefasst, aber in etwa so klingen: 'Wir sind mit euch und wollen euren Sieg. Wir können militärisch aber nicht selbst eingreifen, weil ein Mandat des UN-Sicherheitsrates illusorisch wäre und wir ohnedies ein Desaster fürchten. Bedauerlicherweise können wir euch auch keine Waffen schicken, weil wir fürchten, dass das den Konflikt anheizt. Aber ansonsten tun wir, was wir können.' Es sollte nicht zu viel verlangt sein, die Wirkung dieser Worte auf jene zu bedenken, die in Homs oder Aleppo unter Beschuss stehen.

Das lässt die Gegenargumente nicht verschwinden, sollte aber doch die Gewissheit stören, mit der Verlängerung des Embargos zwingend Gutes zu tun. Waffenlieferungen sind nicht per se schlecht. Es gäbe heute keinen Staat Israel, dessen Sicherheit Deutschland zum Teil seiner Staatsraison erklären könnte, hätte nicht die Tschechoslowakei ihn im ersten Krieg gegen die arabischen Nachbarn umfänglich bewaffnet. Das heutige Deutschland ist einer der größten Waffenexporteure der Welt. Die Bundesregierung, übrigens nicht erst die jetzige, entwickelt große Kreativität, wann immer Rüstungsgeschäfte auch mit Diktaturen und Ländern in Spannungsgebieten zu begründen sind - mit Saudi-Arabien etwa, auf das beides zutrifft. Die Kultur der militärischen Zurückhaltung ist offenkundig auch eine der Flexibilität.

Es gibt also nicht den sicheren moralischen Grund, von dem aus Deutsche im Streit um das Embargo etwa über die Franzosen richten könnten. Wenn Präsident François Hollande sich für einen Wechsel in der Syrien-Politik ausspricht, so tut er das gewiss auch aus innenpolitischen Motiven. Das zeugt allerdings auch davon, dass in Frankreich die innenpolitische Diskussion eine andere ist und folglich auch der Druck größer. Im Land der Résistance ist das Verständnis für den Waffenbedarf Aufständischer augenscheinlich stärker ausgeprägt als in Deutschland oder auch in Österreich. An diesem Unterschied zeigt sich ein klassisches Problem, das europäische Außenpolitik zwar nicht unmöglich macht, aber doch sehr erschwert. Es droht nun im Embargostreit eine Blockade, die niemandem nützt außer natürlich Assad.

Beide Seiten sollten zugeben, dass niemand wirklich weiß, wie Krieg und Leiden in Syrien am schnellsten zu beenden sind. Dazu gehört das Eingeständnis einerseits, dass die aus Sicht des Westens Falschen, die Dschihadisten, ja längst bewaffnet werden von Saudi-Arabien und den Golfstaaten. Europäer könnten in dieser Lage also wenigstens versuchen, die Moderaten zu stärken. Nötig wäre auch das Eingeständnis andererseits, dass keine Macht der Welt garantieren kann, dass Waffen nur in die richtigen Hände geraten. In Libyen hat sich überdies gerade erst gezeigt, wie leicht Waffen ihren Weg zum nächsten Krieg finden - in diesem Fall nach Mali. Wer Waffen liefern will nach Syrien, muss daher Verantwortung übernehmen und zumindest alles Mögliche tun, um Missbrauch zu verhindern.

So oder so werden die meisten EU-Länder, darunter Deutschland, der Opposition auch künftig keine Waffen schicken. Es geht nur darum, ob Franzosen und womöglich Briten es doch tun können, ohne dass es in dieser Frage zum Eklat kommt. Andernfalls wäre Europa blamiert, und auch die gemeinsame Sanktionspolitik gegenüber Syrien ginge in die Brüche. Wer diesen Preis zu zahlen bereit ist, sollte sich seiner Sache sehr sicher sein.

Ein Hoch auf das Geben

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Gute Ideen, aber zu wenig Geld, sie umzusetzen? Auf Crowdfunding-Plattformen im Internet kann man sich Kapital beschaffen - eine Methode, die auch in Deutschland mehr und mehr Freunde findet.

Am Anfang war das Problem: 'Ich liebe Espresso. In meiner Firma gibt es aber nur eine Kaffeeküche mit einer Mikrowelle', sagt der Münchner Erfinder Christoph Meyl. Also entwickelte er eine Espressomaschine für die Mikrowelle. Viel zu schade, um sie nur selber als Prototyp zu verwenden. Doch größere Stückzahlen produzieren zu lassen, kostet Geld, 250000 Euro. Geld, das Meyl nicht hat. Aber seine Freunde vielleicht. Und die Freunde dieser Freunde, ja sogar wildfremde Leute, die es einfach gut finden, dass es eine Espressomaschine für die Mikrowelle gibt. Das ist die Idee hinter Crowdfunding, Geldbeschaffung nach dem Massenprinzip. Das gab es im Prinzip schon immer, aber erst das Internet und seine Technik der Vernetzung machen es wirklich einfach, mit vielen Kleinbeiträgen ein großes Projekt zu starten.


Online Spenden zu sammeln findet auch in Deutschland immer mehr Anklang.

So liehen 15 000 Fans des Rollenspiel-Klassikers 'Shroud of the Avatar' mehr als eine Million Dollar, um eine Fortsetzung des Spiels möglich zu machen. Spiele-Erfinder Richard Garriott hatte die Idee zu der Fortsetzung auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter.com vorgestellt. Mehr und mehr Spieleentwickler greifen mittlerweile zu dieser Möglichkeit: Entwickler Tim Schafer sammelte im März 2012 mehr als drei Millionen Dollar für die Entwicklung eines klassischen Adventure-Spiels ein. Und der Erfinder des Weltraumabenteuers 'Wing Commander', Chris Roberts, holte über Kickstarter sogar 8,4 Millionen Dollar für ein neues Spiel herein - die Masse macht"s.

Christoph Meyl hat über die deutsche Plattform Startnext.de knapp 9000Euro von rund 300 privaten Geldgebern für seine Espressomaschine eingesammelt. Vier Wochen hat er nun noch Zeit, die restliche Summe einzuwerben - das könnte knapp werden. Meyl ist dennoch optimistisch, dass seine Idee eines Tages produziert wird. Erst mal in Kleinserie, 2000 Stück. Sollte es nicht klappen, bekommen die Kleinanleger ihr Geld zurück.

Auch bei Filmen wird auf Crowdfunding zurückgegriffen: Bei 'Iron Sky', der Science-Fiction-Komödie des finnischen Regisseurs Timo Vuorensola, wurden etwa 900000 Euro der Gesamtkosten von insgesamt 7,5 Millionen Euro per Crowdfunding im Internet eingesammelt. Wie dabei üblich, bekommen die Geldgeber für ihre Leihgabe keine Zinsen und auch keine Gewinnbeteiligung. Fans, die sich an der Finanzierung beteiligten, erhielten aber einen frühen Einblick in die Produktion. Als Beispiel für erfolgreiches Crowdfunding fand der Film bereits vor seinem Start im April 2012 viel Beachtung. Ein Verlustgeschäft war er dennoch: Er spielte nur 6,15 Millionen Euro ein. Neu war an 'Iron Sky' aber auch, dass Fans per Internet Ideen zu dem Film beisteuern konnten. Das hatte Vuorensola auch schon bei früheren Filmen ausprobiert.

Das Prinzip Crowdfunding nützt auch die Anfang des Jahres gestartete Plattform Krautreporter von Sebastian Esser. Mit niedrigen vierstelligen Beträgen können Recherchen und Veröffentlichungen zu Themen aus Geschichte, Gesellschaft, Kultur und Politik ermöglicht werden. Auch investigative Projekte, wie ein Lobbyplag zur Kontrolle von Gesetzestexten auf Vorlagen aus der Industrie, wurden auf der Plattform Krautreporter mit rund 8000 Euro gefördert. Der Mehrwert ist das Ermöglichen und Erscheinen der gemeinsam finanzierten Geschichte.

Noch einen Schritt weiter geht Crowdinvesting: Das Prinzip ist das Gleiche wie beim Crowdfunding, doch hier gibt es auch Rendite und Gewinne, die an die Investoren ausgeschüttet werden. Eine junge Plattform für Crowdinvesting ist Companisto. 'Beim Crowdinvesting investieren die Nutzer in ein Start-up-Unternehmen und werden damit zu Anteilsinhabern, die am Gewinn des Start-ups und im Fall des Verkaufs an einen Großinvestor partizipieren. Dagegen ist Crowdfunding mit einer Spende zu vergleichen. Sofern es überhaupt eine Gegenleistung beim Crowdfunding gibt, ist sie nicht monetärer Art, wie beispielsweise ein persönliches Dankesschreiben', sagt David Rhotert, Geschäftsführer von Companisto. Mit Crowdinvesting lässt sich sogar Geld verdienen, wenn auch nicht ohne Risiko.

Crowdfunding und Crowdinvesting über das Internet, das sind noch relativ neue Wege, Kunden einzubinden, lange bevor ein Produkt entsteht. Erfinder und Firmen sammeln aber nicht bloß Geld ein, sie nutzen die Vernetzung auch, um Ideen zu gewinnen und das Gold der Informationsgesellschaft zu schürfen: Daten. Das wohl bekannteste Beispiel für dieses Crowdsourcing genannte Verfahren ist das Online-Lexikon Wikipedia. Allein die deutsche Ausgabe von Wikipedia enthält heute mehr als 1,5 Millionen Artikel, geschrieben von rund 7000 ehrenamtlichen Mitarbeitern. Ohne freiwillige Helfer und Spender wäre das Wissen-Sammel-Projekt nie so erfolgreich geworden.

Ein anderes Projekt, Open Street Map, knackte zu Beginn des Jahres die Eine-Million-Mitglieder-Grenze. Die Zahl der Mitglieder hatte sich innerhalb von 14 Monaten verdoppelt. Ziel des Projekts ist es, eine frei zugängliche Weltkarte im Netz zu erstellen. Kommerzielle Anbieter wie Navteq, TeleAtlas oder Google lassen das Straßennetz weitgehend von eigenen Mitarbeitern erfassen, indem diese nacheinander von Spezialfahrzeugen abgefahren werden. Das kostet: Google etwa investiert pro Jahr etwa eine Milliarde US-Dollar in seinen Kartendienst Maps.

Anders Open Street Map: Die eine Million Mitglieder erstellen nicht bloß die digitalen Straßenkarten, sie halten sie auch laufend aktuell. Kostenlos und in ihrer Freizeit. Von einer kleinen, eingeschworenen Gemeinde hat sich das Projekt in wenigen Jahren zur größten Karten-Community der Welt entwickelt. Per kostenloser Smartphone-App können die Mitglieder schnell eingeben, wenn sich etwas an der Straßenführung verändert hat und es zur Überprüfung weiterleiten. Die hohe Zahl der aktiven Nutzer wird dabei zum strategischen Vorteil. Zudem ist die App sehr einfach zu bedienen, was immer mehr Nutzer dazu bringt, Daten einzugeben. Der Vorteil für den Kunden, auch wenn er nicht zum Mitarbeiter wird: Navi-Apps, wie das in Berlin entwickelte 'Skobbler' kosten nur ein Bruchteil kommerzieller Navi-Apps. Kein Wunder, dass die Skobbler-App in Deutschland zu den meistgekauften zählt.

Auch Navigations-Marktführer Tomtom setzt auf die Crowd: Nutzer von Smartphones und vernetzten Tomtom-Navis liefern ständig Massen von Bewegungsdaten über den Verkehrsfluss. Dazu melden Navis und Smartphones per Mobilfunk ständig anonym die aktuelle Geschwindigkeit, Position und Fahrtrichtung an einen Server. Diese Infos werden mit historischen Verkehrsdaten verglichen, um festzustellen, ob sich das Fahrzeug in einem Stau befindet oder nicht. Derzeit sind Millionen Geräte mit diesem Prinzip auf den Straßen Europas unterwegs und liefern so permanent ein aktuelles Bild der Verkehrslage im Straßennetz. Diese Daten sehr viel genauer und aktueller als die Verkehrsinfos im Radio. Außerdem gibt man ausgewählten Nutzern auch die Möglichkeit, Änderungen am Straßennetz zur Überprüfung zu melden.

Einen ähnlichen Crowd-Ansatz verfolgt auch die Verkehrs-App 'iCoyote', die Anfang 2013 in Deutschland gestartet ist und bis Mitte März bereits 250000-mal heruntergeladen wurde. Sie soll Autofahrer vor Blitzern, Unfällen, Staus und Baustellen warnen. Mit der App können sich Autofahrer über Gefahrenstellen informieren - und gegenseitig warnen. Derzeit ist die Verbreitung in Deutschland, im Gegensatz zum Heimatland Frankreich, noch etwas dünn, je mehr Nutzer das System hat, desto besser wird es. Die Masse, das gilt eben auch hier, die Masse macht"s.
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