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Heikle Entscheidungsfindung

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Organentnahme ohne Spendeausweis ist die Regel - denn nur jeder zehnte Organspender hatte seine Entscheidung vorher schriftlich dokumentiert.

Man kann den Eindruck gewinnen, in Deutschland drehe sich die Diskussion um die Organspende vor allem um einen Gegenstand: den Organspendeausweis. Der landläufigen Meinung zufolge verläuft eine Spende so: Ein Mensch stirbt, und wenn er einen solchen Ausweis bei sich trägt, wissen die Ärzte genau, was sie zu tun oder zu lassen haben. Die Realität sieht anders aus. Nur jeder zehnte Organspender hat seine Spendenbereitschaft schriftlich dokumentiert. Deutlich verbreiteter sind offenbar kooperative Angehörige: In der Hälfte aller Fälle beruht eine Organspende auf der Mutmaßung eines Angehörigen, dass der Verstorbene seine Organe wohl hätte spenden wollen - auch ohne Ausweis.

Grundsätzlich gilt: Hat jemand zu Lebzeiten eine Erklärung abgegeben und liegt diese den Ärzten vor, so müssen sie sich nach ihr richten. Hat aber jemand seine Bereitschaft nicht explizit erklärt, ist laut deutschem Transplantationsgesetz der sogenannte 'mutmaßliche Wille' des Verstorbenen zu beachten. Falls auch dieser nicht feststellbar ist, wird den Angehörigen unter Verweis auf das Totensorgerecht die Entscheidung überlassen, ob der Leichnam für eine Organ- und Gewebeentnahme zur Verfügung stehen soll.



Weil nur wenige einen Organspendeausweis besitzen, müssen bei den meisten Organspenden  stattdessen die Angehörigen entscheiden.

Der 'mutmaßliche Wille' eines Toten ist ein gewagtes Konstrukt. Man versucht so, einen Willen zu ergründen, der zwar unbekannt ist, von dessen Existenz man aber anscheinend plausibel ausgehen kann. Es handelt sich also um die gemutmaßte Antwort auf eine nie gestellte Frage: Wenn man den Verstorbenen zu Lebzeiten darüber befragt hätte, ob er seine Organe spenden wolle, was hätte er dann wohl geantwortet? Es ist jedoch alles andere als eindeutig, wie dieser mutmaßliche Wille eines Verstorbenen ermittelbar sein soll, wenn eine tatsächliche Willensäußerung zu Lebzeiten nicht stattgefunden hat.

Selbst im mutmaßlichen Idealfall dürfte dieser Wille nicht eindeutig zu bestimmen sein. Stellen wir uns eine Person vor - nennen wir sie Frau Maier -, die viele Jahre in leitender Position in der 'Deutschen Stiftung Organtransplantation' tätig war und in Folge eines Unfalls einen Hirntod stirbt. Frau Maier führt überraschenderweise weder einen Organspendeausweis bei sich, noch hat sie sich gegenüber ihren Angehörigen je dazu geäußert. Über ihren tatsächlichen Willen ist also nichts bekannt. Hätte Frau Maier ihre Organe und ihr Gewebe also spenden wollen? Die Antwort scheint ja auf der Hand zu liegen, schließlich hat sich Frau Maier beruflich für die Transplantationsmedizin engagiert. Also darf man wohl fest davon ausgehen, dass sie der Organ- und Gewebespende bestimmt nicht völlig ablehnend gegenüber stand. Andererseits hätte man aber doch gerade von ihr erwarten dürfen, dass sie einen Organspendeausweis bei sich trägt. Ist darum vielleicht das Fehlen dieses Ausweises ein Indiz dafür, dass sie gegenüber der Organ- und Gewebespende persönliche Vorbehalte hatte?

Es erscheint selbst in diesem konstruierten Fall praktisch unmöglich, eine wirklich fundierte Aussage darüber zu treffen, wie der'mutmaßliche Wille' lautet. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt ethisch und juristisch belastbare Kriterien, die für oder gegen eine mutmaßliche Einwilligung in die Organ- und Gewebespende sprechen? Eine pauschale Berufung auf Weltanschauungen, kulturelle oder soziale Hintergründe erscheint jedenfalls kaum tragfähig.

Selbst wenn sich beispielsweise eine Religionsgemeinschaft explizit für die Organspende ihrer Mitglieder ausspricht, kann man deswegen nicht davon ausgehen, dass auch jedes ihrer Mitglieder in eine Organspende einwilligt. Vielleicht hat jemand, der sich zu Lebzeiten nicht zur Frage der Organ- und Gewebespende äußert, diesbezüglich einfach keine klaren Prioritäten für sich setzen können. Man geht ja auch nicht automatisch davon aus, dass ein Verstorbener sein Vermögen bestimmt dem Roten Kreuz habe vermachen wollen - wäre es so, hätte er seinen Willen ja in testamentarischer oder anderer Form geäußert. Ohne eine relevante tatsächliche Willensbekundung laufen alle Mutmaßungen ins Leere.

Dies gilt gerade dann, wenn wir davon ausgehen können, dass der potenzielle Spender sich tatsächlich mit der Frage der Organspende auseinandergesetzt hat, wie es die nun geltende Entscheidungslösung vorsieht. Zur Zeit kommen viele Krankenkassen der gesetzlichen Forderung nach, ihre Versicherten mit eben dieser Frage zu konfrontieren. Was aber, wenn jemand das Informationsmaterial, das ihm zugeschickt wird, schlicht ignoriert? Zu behaupten, dass sich eine Person, der ein Organspendeausweis zwar zugestellt, dieser aber nicht von ihr ausgefüllt wurde, vermutlich trotzdem für die Spende ausgesprochen hätte, scheint absurd.

Wenn sich jemand trotz Aufforderung weder für noch gegen eine Spende ausgesprochen hat, dann kann es kaum zulässig sein, nach dessen Tod seinen Willen diesbezüglich zu bestimmen. Denn, wenn er seinen Willen hätte bekunden wollen, dann hätte er es doch wohl auch getan. Eine Entscheidungslösung, bei der über das Konstrukt 'mutmaßliche Einwilligung' gerade das Fehlen von Entscheidung zu einer Aussage führt, ist eine Fehlkonstruktion.

Nun könnte man formaljuristisch einwenden: Für das weitere Vorgehen ist es doch gar nicht erforderlich, dass der Angehörige den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen wiedergibt. Denn wenn der Angehörige nach reiflicher Überlegung nichts über den mutmaßlichen Willen aussagen kann, steht ihm ohnehin de jure die eigene Entscheidung zu, bei der er sich gar nicht vom Willen des Verstorbenen leiten lassen muss. Dieser juristisch besonders leicht zu handhabende Fall kam 2012 nur bei 16 Prozent der Organentnahmen vor - wobei die Hälfte aller Organ- und Gewebespenden durch den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen rechtlich abgesichert werden.

So entsteht das Problem, dass die moralische Verantwortung für die Organentnahme verlagert und verschleiert wird. Denn der ungezwungen konstruierte 'mutmaßliche Wille' kann jede Entscheidung der Angehörigen durch die Beteuerung legitimieren, dass der Verstorbene 'das sicher so gewollt hätte.' Und insofern muss der Angehörige sein Gewissen mit der Verantwortung für die so beschlossene Organentnahme auch nicht belasten.

Moralisch problematisch ist das aber auch, weil der 'mutmaßliche Wille' als Instrument der Beeinflussung Angehöriger durch die Ärzte genutzt werden könnte. Unter Verweis auf allgemeine Wertvorstellungen könnte so eine bestimmte Entscheidung nahegelegt werden: Die 'soziale Erwünschtheit' der Organ- und Gewebespende, die Tatsache, dass es partei- und institutionenübergreifend als geboten angesehen wird, sich für die Organ- und Gewebespende auszusprechen, könnte dazu führen, dass sich Angehörige häufig für eine solche Spende aussprechen, wenn sie zum mutmaßlichen Willen des Verstorbenen befragt werden. Man möchte ja nicht unnötig anecken. Zumal in einer Zeit, in der die Spenderzahlen hierzulande dramatisch einbrechen und Spenderorgane dringend benötigt werden.

Wenn ein Großteil der postmortalen Organ- und Gewebespenden darauf beruht, dass verunsicherte Angehörige auf der Grundlage hypothetischer Annahmen Vermutungen äußern, dann muss etwas falsch laufen. Wie viel erstrebenswerter erschiene da ein System, in dem umfassend informierte Bürger nach reiflicher Überlegung eine Entscheidung für oder gegen eine Spende ihrer Organe und ihres Gewebes treffen und nur diese Entscheidung im Todesfall respektiert wird. Letztlich kann nur diese Vision die tragfähige Begründung für eine Entscheidung liefern.

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