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Die Würde und die Grillini

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Ein Besuch bei dem Rechtsphilosophen Paolo Becchi in Genua, der in Italien in eine Gewaltdebatte verstrickt wurde.

In Italien leben - bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen Einwohnern - über acht Millionen Menschen unter bedrückenden sozialen Verhältnissen. Sie haben keine Arbeit oder nur Zeitverträge oder sie beziehen nur die Mindestrente. Viele von ihnen leben unterhalb der Armutsgrenze. Zu diesen acht Millionen kommen viele Familien, deren Einkommen oft nicht bis zum Monatsende reicht.

Unter der Wirtschaftskrise sei 'die Würde des Menschen in Gefahr', sagt darum der Rechtsphilosoph Paolo Becchi. Er lehrt an der Universität Genua. In der italienischen Verfassung ist die Würde des Menschen ähnlich wie in der deutschen verankert. Die italienische Formulierung geht allerdings noch über die deutsche hinaus. In Artikel drei heißt es, dass alle Staatsbürger 'gleiche soziale Würde' (pari dignità sociale) genießen. Die Menschenwürde ist demnach durch die Gesellschaft vermittelt. Diese weitgehende Formulierung gibt es in keiner anderen Verfassung. 'Und doch', sagt der Philosoph, 'fehlt heute genau dieses Recht in einer Gesellschaft, die für einen Teil ihrer Mitglieder kein würdevolles Leben mehr garantieren kann.'



Acht Millionen Italiener leben unter der Armutsgrenze, etwa 13 Prozent der italienischen Bevölkerung. 

Paolo Becchi steht dem 'Movimento Cinque Stelle' (M5S) von Beppe Grillo nahe und wird von den Medien gern als der 'Ideologe der Grillini' bezeichnet, was er vehement abstreitet. Die Fünf-Sterne-Bewegung sei prinzipiell unideologisch, sie habe deshalb auch keine Ideologen. Beppe Grillo, so der 58jährige Becchi, sei es gelungen, die im Internet entstandene Bewegung 'mit der Piazza', mit den Menschen, zu verbinden und der italienischen Politik neues Leben einzuhauchen.

In Deutschland wird die Bewegung als populistisch, sogar demokratiefeindlich eingeschätzt. 'Das ist ein falscher Eindruck.' Der M5S erinnert Becchi eher an die Grünen während ihrer Gründungsphase in Deutschland. Auch wenn es im M5S wertkonservative und teilweise 'rechte' Mitglieder gebe, handele es sich im Kern doch um eine 'linke, ökologische Bewegung.' Um etwas Neues, das dabei sei, die alten linken Parteien wie den Partito Democratico (PD) abzulösen. Der PD sei 'eine Partei ohne Identität' mit einem Führungspersonal von 'Männern und Frauen ohne Eigenschaften.'

Nicht immer wählt der Professor seine Worte so mit Bedacht. 'Wenn jemand in ein paar Monaten zu den Waffen greift, dürfen wir uns nicht beklagen. Wir haben wieder einen Bankier zum Wirtschaftsminister gemacht.' Diese Aussage von Becchi während eines Telefoninterviews von Radio 24 löste einen Sturm der Entrüstung aus. In Rom hatte vor zehn Tagen ein Arbeitsloser durch Schüsse vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten zwei Carabinieri schwer verletzt. Zum selben Zeitpunkt wurden die Minister der neuen Regierung von Staatspräsident Giorgio Napolitano im Quirinal vereidigt. Becchi nennt sie 'eine Koalition der Verlierer, das sind Reste der Vergangenheit.' Zum Wirtschaftsminister wurde mit Fabrizio Saccomanni ein hoher Beamter der italienischen Zentralbank und Absolvent der privaten Mailänder Nobeluniversität Bocconi berufen. Medien wie die Zeitung 'La Repubblica', stellten die Aussage Becchis in einen Zusammenhang mit Gewaltandrohungen gegen Berlusconi und mit Flugblättern, die das Attentat von Rom verherrlichten. Irritation löste auch die Bemerkung des Philosophen aus, dass das Attentat der Regierungsmehrheit geholfen habe, weil danach die innerparteiliche Opposition des PD ihren Widerstand gegen eine Koalition mit der Berlusconi-Partei PDL nicht mehr offen formuliere.

Der Rektor der Universität Genua meinte, der Professor solle 'sein Gehirn einschalten', bevor er sich öffentlich äußere. Sogar die Abgeordneten des M5S distanzierten sich von Becchi, weil er die Fünf-Sterne-Bewegung in eine Gewaltdebatte verstrickt hat. Das löste wiederum unter den Grillini im Netz eine Sympathiewelle für Becchi aus, welche die beiden wichtigsten Blogs der Bewegung (www.beppegrillo.it und www.byoblu.com) überschwemmte. Ein Tweet von Beppe Grillo führte dann zur 'Rehabilitierung' des Philosophen und Byoblu überschrieb einen Beitrag des Gelehrten mit: 'Becchi reloaded'.

Vielleicht sei er bei diesem Telefoninterview wie bei anschließenden Fernsehauftritten 'zu naiv' gewesen, räumt der Professor heute ein. Doch seien seine Aussagen bewusst 'instrumentalisiert' worden. Natürlich wolle er der Bewegung nicht schaden, die 'absolut gewaltfrei' sei. Wenn es bislang in Italien nicht zu größeren gewalttätigen Aktionen gekommen sei, dann sei das schließlich der Grillo-Bewegung zu verdanken, die den Protest gegen das alte System 'demokratisch kanalisiert' habe. Eine Gefahr für die Demokratie gehe dagegen von den Regierungsparteien aus, die mit einer 'Tyrannei der Mehrheit' (Tocqueville) verhinderten, dass der Vorsitz wichtiger Parlamentsausschüsse (etwa zur Kontrolle der Geheimdienste oder des öffentlichen Fernsehens RAI), die traditionell mit Kandidaten von der Opposition besetzt werden, an den M5S fällt.

Paolo Becchi belächelt die hitzige Debatte, die er ausgelöst hat. Nicht nur die Würde jener Millionen Menschen sei in Gefahr, denen die Wirtschaftskrise die Lebensbasis raube, so Becchi. Sondern auch die Würde von Medien, die in dieser Krisensituation ihre Unabhängigkeit aufgäben und aus Gründen einer vorgeblichen Staatsraison parteiisch werden.

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