Angela Merkel und die DDR - ein Kinoabend in Berlin zeigt dann doch recht viel von der Kanzlerin.
Angela Merkel hat verstanden. Oder anders gesagt: Sie hat sich entschieden. Von den vielen Deutungsmöglichkeiten, die schon die Idee dieses Abends zulässt, steuert sie ohne Umschweife auf die simpelste zu. So steht sie jetzt vor der Leinwand im Kino Filmkunst 66 in der Berliner Bleibtreustraße, lächelt leutselig und sagt: "Das fand ich gleich das Tolle an dieser Einladung - dass man sich einen Film, den man im Kino sehen möchte, selbst aussuchen kann. Und dann auch noch den Termin dazu." Cremefarbener Blazer heute, ansonsten alles wie immer. Nur wirkt sie, so aus nächster Nähe im Fokus der erwartungsvollen Kinogänger, deutlich blonder als im Fernsehen oder auf den Agenturbildern.
Es geht hier, soll das heißen, um eine ganz normale Bürgerin, die zu einem besonders verlockenden Freizeitangebot einfach mal Ja gesagt hat. Im Umkehrschluss geht es um viele Dinge nicht. Zum Beispiel geht es nicht darum, dass Angela Merkel, weil sie qua Amt von allem etwas versteht, schon lange und im Geheimen auch eine große Kennerin des Kinos wäre. Noch weniger soll es erkennbar um Wahlkampf gehen. Und ganz und gar nicht bitteschön um jene Dinge, die gerade die Berliner Politszene wieder heftig umtreiben, in mehreren neuen Büchern und angeblichen Enthüllungen über Merkels DDR-Karriere und ihre FDJ-Aktivitäten.
Angela Merkel bei der Vorführung von "Die Legende von Paul und Paula" im Berliner Kino Filmkunst 66.
Für die Gastgeber geht es im Kern um die Frage, wer Angela Merkel, so ganz privat und im Menschlich-Seelischen, eigentlich ist. Das würden vielleicht auch jene, die ihr ständig diese hohen Umfragewerte verschaffen, gerne wissen - und einem Lieblingsfilm schreibt man ja tatsächlich die Fähigkeit zu, das Menschlich-Seelische aufzurühren und also kenntlich zu machen. Zu diesem Zweck wurde die Veranstaltungsreihe "Mein Film" erfunden. Peer Steinbrück ("The Deer Hunter") Margot Käßmann ("Der Schatz im Silbersee") und Jürgen Flimm ("Jules et Jim") waren in diesem Rahmen schon zu Gast, was mal mehr, mal weniger tief blicken ließ.
Die Gastgeber, das sind die Filmschaffenden des Landes, sofern sie in der Deutschen Filmakademie organisiert sind und heute per Losglück einen Platz bekommen haben: Viele Schauspieler, knorrige Kameramänner in Bomberjacken, eine Veteranin des Szenenbilds, ein junger Filmkomponist, und so fort. Sehr viele mussten draußen bleiben. Aber wer drin ist, ist drin. So liefert dieses eher intimen Kino mit 150 Plätzen jetzt einen Vorschein dessen, was eigentlich nur die Intimität der Macht sein kann. Man sitzt dicht an dicht, in der Mitte Angela Merkel, sogar mit Ehemann. Der Wunsch der Untertanen ist bald mit Händen zu greifen, zusammen mit der Herrscherin jetzt mal einen richtig netten Abend zu erleben. Aber bitte angstfrei und egalitär.
Es beginnt "Die Legende von Paul und Paula" von Heiner Carow, der Defa-Liebesfilm von 1973, den Angela Merkel sich ausgesucht hat, weil sie seinerzeit "sehr begeistert" von ihm war. Sie hat ihn mit achtzehn Jahren gesehen, ganz zu Anfang ihres Physikstudiums in Leipzig, und dann, wie sie zur Einführung verrät, nie wieder. Es gilt also auch herauszufinden, was in den vergangenen vierzig Jahren gleich noch mal passiert ist, mit der DDR, mit Paul und Paula, und mit Angela Merkel.
Riskant ist diese Wahl jetzt nicht, der Film war einer der erfolgreichsten der DDR überhaupt. Paula alias Angelica Domröse, diese energiesprühende, alleinerziehende Glückssucherin, und Paul alias Winfried Glatzeder, mit der gebrochenen Boxernase und der herrlich gebrochenen Persönlichkeit - dieses surreal-realistische, verrückt-normale Paar gehört zur kollektiven Geschichte des Ostens wie die Dialoge von Ulrich Plenzdorf und die unter anderem von Slade geklauten Puhdys-Songs, die lyrisch gleich mal das Feld des sympathischen Wahnsinns aufmachen, das den Film durchzieht: "Weck sie nicht, bis sie selber sich regt/ ich hab" mich in ihren Schatten gelegt." Wo bitte führt das denn hin?
Es führt in keinerlei ideologische Sackgasse, das ist das Schöne und Zeitlose an diesem Film. Im anschließenden Gespräch führt es aber auch nur zu der mit Emphase verkündeten These, dass in der DDR trotz allem Menschen lebten, bei denen es sogar menschlich zuging. Darüber unterhält sich Merkel nun mit dem Filmemacher Andreas Dresen, der eine Art Bannerträger des Defa-Erbes geworden ist.
Um echte Filmkennerschaft, wie sie etwa Steinbrück seinerzeit mit breiter Brust behauptet hatte, geht es dabei nicht einmal am Rande. Sondern gleich ums ewige Kohlenschippen im Hinterhof, um die sagenumwobenen Mischbatterien aus Finnland, um die beste Kampfstrategie an den Kassen der Kaufhallen und um die Feierabend-Disco der Physiker an der Leipziger Uni, wo Angela Merkel als Barfrau für Kirschwodka fungierte. Es wird viel gelacht. Merkel wirkt zunehmend gelöst, nun scheinbar ganz unter Freunden, die sich - sollten sie damals zufällig im Westen gelebt haben - alle Mühe geben, sich für diesen Abend als Ossis zu imaginieren. Ist das, was hier jetzt entsteht, etwa die vielbesungene Nestwärme der DDR?
Brutal in diese Stimmung hinein platzt dann die Frage eines Bild-Reporters zu Merkels Vergangenheit als FDJ-Sekretärin - und ob sie als solche, anders als bisher angegeben, nicht doch auch für "Agitation und Propaganda" zuständig war. Dresen will das, der allgemeinen Empörung folgen, sogleich abbiegen, aber Merkel ist inzwischen geradezu triumphal entspannt: "Nur mal ran an" Speck", ermuntert sie den gnadenlosen Investigator.
Ihre Antwort ist dann nicht von kalter, abwehrender Professionalität, sondern auch stockend, suchend, unvollständig. "Also es geht um meine Erinnerung, und wenn sich jetzt was anderes ergibt, kann man damit auch leben. Was mir wichtig ist: Ich hab" nie irgendwas verheimlicht." Ihre mutmaßlich ziemlich Regimetreuen Marxismus-Leninismus-Arbeiten etwa, nach denen der Spiegel vor Jahren schon mal gefahndet hatte - "ich hab" wirklich keine Kopien mehr, hab" mich mit dem Blaupapier damals immer so schwergetan." Und weitere Mitgliedschaften? "Ja, ich war beim FDGB. Und ich kann gleich noch bekennen, das hat glaube ich auch noch niemand gefragt - ich war auch Mitglied in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. So!"
In diesem Moment glaubt man tatsächlich, dass Merkel an diesem Abend danach strebt, ganz sie selbst zu sein - kein bisschen besser oder heroischer oder interessanter, als sie war oder ist. Je länger das Schauspiel dauert, desto mehr kehrt sich die Ausgangsfrage dann auch um. Also nicht: Wer ist diese mächtige Frau im Privaten wirklich? Sondern: Wie konnte diese höchst normale, offensichtlich sympathische und so ostentativ nicht über den Durchschnitt hinausragende ehemalige DDR-Bürgerin bloß so mächtig werden? Das Rätsel bleibt.
Vielleicht muss man, um der Wahrheit näher zu kommen, jene politischen Philosophen heranziehen, die am frühesten und grundlegendsten über die Differenz zwischen dem Amt und seinem Träger nachgedacht haben. Zum Beispiel den Chinesen Han Fei, der in der "Zeit der Streitenden Reiche" lebte und 233 vor Christus starb. Seine drei Kernbegriffe sind das Gesetz (Fa), die Kunst oder Taktik des politischen Handelns (Shu) und Macht oder Charisma (Shi) - und wenn man das einmal auf Merkel anwendet, kommt man erstaunlich weit. Fa ist in sofern zentral, als in Merkels Weltbild das Gesetz wirklich gnadenlos für alle gilt, im Zweifelsfall eben auch für den illegalen Spendensammler Helmut Kohl. Dies als CSU-Vorsitzende letztgültig festzustellen, war Merkels erste historische Leistung und zugleich eine langsam wirkende Todesspritze ins Herz der alten, männerbündisch-vermauschelten Deutschland AG, deren letzte Zuckungen bis heute andauern - aktuell noch zu beobachten beim reuigen Steuersünder Uli Hoeneß.
Shu ergibt sich daraus, dass im Dschungel eines überregulierten Staats niemand je sicher sein kann, gerade im Sinne der Macht zu agieren. Dies nicht als lästigen Fehler zu begreifen, sondern als eigentliche Methode der politischen Taktik, ist Merkels zweite quasi-chinesische Erkenntnis. Sie regiert ihren Apparat mit und durch systemische Verunsicherung. Niemand braucht die wahren Ziele der Herrscherin zu kennen, niemand weiß, womit man in ihrer Gunst aufsteigen könnte. Wer das als Zaudern auslegt, ist schon auf der völlig falschen Fährte.
Die Erklärungskraft des Shi schließlich geht am weitesten, denn hier trennt sich bei Han Fei die Position des Herrschers radikal von seiner Person. Anders als die Bundeskanzler vor ihr hat Merkel das erkannt - dass ein Amt so stark kodifiziert sein kann, dass das sein Träger gar keine große Persönlichkeit im klassischen Sinn mehr braucht. Gebraucht wird heute einfach eine Amtsträgerin, die im Sinne des Systems funktioniert - und ansonsten nicht mehr sein will, als sie ist.
In dieser durchaus schwierigen Kunst, das durften die Jungproduzenten und Defa-Legenden erfahren, die sich noch lange im viel zu engen Foyer des Kinos Filmkunst 66 um die Kanzlerin scharten, hat es Angela Merkel inzwischen tatsächlich zu einer gewissen Perfektion gebracht.
Angela Merkel hat verstanden. Oder anders gesagt: Sie hat sich entschieden. Von den vielen Deutungsmöglichkeiten, die schon die Idee dieses Abends zulässt, steuert sie ohne Umschweife auf die simpelste zu. So steht sie jetzt vor der Leinwand im Kino Filmkunst 66 in der Berliner Bleibtreustraße, lächelt leutselig und sagt: "Das fand ich gleich das Tolle an dieser Einladung - dass man sich einen Film, den man im Kino sehen möchte, selbst aussuchen kann. Und dann auch noch den Termin dazu." Cremefarbener Blazer heute, ansonsten alles wie immer. Nur wirkt sie, so aus nächster Nähe im Fokus der erwartungsvollen Kinogänger, deutlich blonder als im Fernsehen oder auf den Agenturbildern.
Es geht hier, soll das heißen, um eine ganz normale Bürgerin, die zu einem besonders verlockenden Freizeitangebot einfach mal Ja gesagt hat. Im Umkehrschluss geht es um viele Dinge nicht. Zum Beispiel geht es nicht darum, dass Angela Merkel, weil sie qua Amt von allem etwas versteht, schon lange und im Geheimen auch eine große Kennerin des Kinos wäre. Noch weniger soll es erkennbar um Wahlkampf gehen. Und ganz und gar nicht bitteschön um jene Dinge, die gerade die Berliner Politszene wieder heftig umtreiben, in mehreren neuen Büchern und angeblichen Enthüllungen über Merkels DDR-Karriere und ihre FDJ-Aktivitäten.
Angela Merkel bei der Vorführung von "Die Legende von Paul und Paula" im Berliner Kino Filmkunst 66.
Für die Gastgeber geht es im Kern um die Frage, wer Angela Merkel, so ganz privat und im Menschlich-Seelischen, eigentlich ist. Das würden vielleicht auch jene, die ihr ständig diese hohen Umfragewerte verschaffen, gerne wissen - und einem Lieblingsfilm schreibt man ja tatsächlich die Fähigkeit zu, das Menschlich-Seelische aufzurühren und also kenntlich zu machen. Zu diesem Zweck wurde die Veranstaltungsreihe "Mein Film" erfunden. Peer Steinbrück ("The Deer Hunter") Margot Käßmann ("Der Schatz im Silbersee") und Jürgen Flimm ("Jules et Jim") waren in diesem Rahmen schon zu Gast, was mal mehr, mal weniger tief blicken ließ.
Die Gastgeber, das sind die Filmschaffenden des Landes, sofern sie in der Deutschen Filmakademie organisiert sind und heute per Losglück einen Platz bekommen haben: Viele Schauspieler, knorrige Kameramänner in Bomberjacken, eine Veteranin des Szenenbilds, ein junger Filmkomponist, und so fort. Sehr viele mussten draußen bleiben. Aber wer drin ist, ist drin. So liefert dieses eher intimen Kino mit 150 Plätzen jetzt einen Vorschein dessen, was eigentlich nur die Intimität der Macht sein kann. Man sitzt dicht an dicht, in der Mitte Angela Merkel, sogar mit Ehemann. Der Wunsch der Untertanen ist bald mit Händen zu greifen, zusammen mit der Herrscherin jetzt mal einen richtig netten Abend zu erleben. Aber bitte angstfrei und egalitär.
Es beginnt "Die Legende von Paul und Paula" von Heiner Carow, der Defa-Liebesfilm von 1973, den Angela Merkel sich ausgesucht hat, weil sie seinerzeit "sehr begeistert" von ihm war. Sie hat ihn mit achtzehn Jahren gesehen, ganz zu Anfang ihres Physikstudiums in Leipzig, und dann, wie sie zur Einführung verrät, nie wieder. Es gilt also auch herauszufinden, was in den vergangenen vierzig Jahren gleich noch mal passiert ist, mit der DDR, mit Paul und Paula, und mit Angela Merkel.
Riskant ist diese Wahl jetzt nicht, der Film war einer der erfolgreichsten der DDR überhaupt. Paula alias Angelica Domröse, diese energiesprühende, alleinerziehende Glückssucherin, und Paul alias Winfried Glatzeder, mit der gebrochenen Boxernase und der herrlich gebrochenen Persönlichkeit - dieses surreal-realistische, verrückt-normale Paar gehört zur kollektiven Geschichte des Ostens wie die Dialoge von Ulrich Plenzdorf und die unter anderem von Slade geklauten Puhdys-Songs, die lyrisch gleich mal das Feld des sympathischen Wahnsinns aufmachen, das den Film durchzieht: "Weck sie nicht, bis sie selber sich regt/ ich hab" mich in ihren Schatten gelegt." Wo bitte führt das denn hin?
Es führt in keinerlei ideologische Sackgasse, das ist das Schöne und Zeitlose an diesem Film. Im anschließenden Gespräch führt es aber auch nur zu der mit Emphase verkündeten These, dass in der DDR trotz allem Menschen lebten, bei denen es sogar menschlich zuging. Darüber unterhält sich Merkel nun mit dem Filmemacher Andreas Dresen, der eine Art Bannerträger des Defa-Erbes geworden ist.
Um echte Filmkennerschaft, wie sie etwa Steinbrück seinerzeit mit breiter Brust behauptet hatte, geht es dabei nicht einmal am Rande. Sondern gleich ums ewige Kohlenschippen im Hinterhof, um die sagenumwobenen Mischbatterien aus Finnland, um die beste Kampfstrategie an den Kassen der Kaufhallen und um die Feierabend-Disco der Physiker an der Leipziger Uni, wo Angela Merkel als Barfrau für Kirschwodka fungierte. Es wird viel gelacht. Merkel wirkt zunehmend gelöst, nun scheinbar ganz unter Freunden, die sich - sollten sie damals zufällig im Westen gelebt haben - alle Mühe geben, sich für diesen Abend als Ossis zu imaginieren. Ist das, was hier jetzt entsteht, etwa die vielbesungene Nestwärme der DDR?
Brutal in diese Stimmung hinein platzt dann die Frage eines Bild-Reporters zu Merkels Vergangenheit als FDJ-Sekretärin - und ob sie als solche, anders als bisher angegeben, nicht doch auch für "Agitation und Propaganda" zuständig war. Dresen will das, der allgemeinen Empörung folgen, sogleich abbiegen, aber Merkel ist inzwischen geradezu triumphal entspannt: "Nur mal ran an" Speck", ermuntert sie den gnadenlosen Investigator.
Ihre Antwort ist dann nicht von kalter, abwehrender Professionalität, sondern auch stockend, suchend, unvollständig. "Also es geht um meine Erinnerung, und wenn sich jetzt was anderes ergibt, kann man damit auch leben. Was mir wichtig ist: Ich hab" nie irgendwas verheimlicht." Ihre mutmaßlich ziemlich Regimetreuen Marxismus-Leninismus-Arbeiten etwa, nach denen der Spiegel vor Jahren schon mal gefahndet hatte - "ich hab" wirklich keine Kopien mehr, hab" mich mit dem Blaupapier damals immer so schwergetan." Und weitere Mitgliedschaften? "Ja, ich war beim FDGB. Und ich kann gleich noch bekennen, das hat glaube ich auch noch niemand gefragt - ich war auch Mitglied in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. So!"
In diesem Moment glaubt man tatsächlich, dass Merkel an diesem Abend danach strebt, ganz sie selbst zu sein - kein bisschen besser oder heroischer oder interessanter, als sie war oder ist. Je länger das Schauspiel dauert, desto mehr kehrt sich die Ausgangsfrage dann auch um. Also nicht: Wer ist diese mächtige Frau im Privaten wirklich? Sondern: Wie konnte diese höchst normale, offensichtlich sympathische und so ostentativ nicht über den Durchschnitt hinausragende ehemalige DDR-Bürgerin bloß so mächtig werden? Das Rätsel bleibt.
Vielleicht muss man, um der Wahrheit näher zu kommen, jene politischen Philosophen heranziehen, die am frühesten und grundlegendsten über die Differenz zwischen dem Amt und seinem Träger nachgedacht haben. Zum Beispiel den Chinesen Han Fei, der in der "Zeit der Streitenden Reiche" lebte und 233 vor Christus starb. Seine drei Kernbegriffe sind das Gesetz (Fa), die Kunst oder Taktik des politischen Handelns (Shu) und Macht oder Charisma (Shi) - und wenn man das einmal auf Merkel anwendet, kommt man erstaunlich weit. Fa ist in sofern zentral, als in Merkels Weltbild das Gesetz wirklich gnadenlos für alle gilt, im Zweifelsfall eben auch für den illegalen Spendensammler Helmut Kohl. Dies als CSU-Vorsitzende letztgültig festzustellen, war Merkels erste historische Leistung und zugleich eine langsam wirkende Todesspritze ins Herz der alten, männerbündisch-vermauschelten Deutschland AG, deren letzte Zuckungen bis heute andauern - aktuell noch zu beobachten beim reuigen Steuersünder Uli Hoeneß.
Shu ergibt sich daraus, dass im Dschungel eines überregulierten Staats niemand je sicher sein kann, gerade im Sinne der Macht zu agieren. Dies nicht als lästigen Fehler zu begreifen, sondern als eigentliche Methode der politischen Taktik, ist Merkels zweite quasi-chinesische Erkenntnis. Sie regiert ihren Apparat mit und durch systemische Verunsicherung. Niemand braucht die wahren Ziele der Herrscherin zu kennen, niemand weiß, womit man in ihrer Gunst aufsteigen könnte. Wer das als Zaudern auslegt, ist schon auf der völlig falschen Fährte.
Die Erklärungskraft des Shi schließlich geht am weitesten, denn hier trennt sich bei Han Fei die Position des Herrschers radikal von seiner Person. Anders als die Bundeskanzler vor ihr hat Merkel das erkannt - dass ein Amt so stark kodifiziert sein kann, dass das sein Träger gar keine große Persönlichkeit im klassischen Sinn mehr braucht. Gebraucht wird heute einfach eine Amtsträgerin, die im Sinne des Systems funktioniert - und ansonsten nicht mehr sein will, als sie ist.
In dieser durchaus schwierigen Kunst, das durften die Jungproduzenten und Defa-Legenden erfahren, die sich noch lange im viel zu engen Foyer des Kinos Filmkunst 66 um die Kanzlerin scharten, hat es Angela Merkel inzwischen tatsächlich zu einer gewissen Perfektion gebracht.