Ulrich Seidl beschließt seine Paradies-Trilogie mit einem Film aus einem Diätcamp für übergewichtige Kinder. Und findet Schönheit, die sich nicht nach Normen richtet.
Doktor spielen, das kennt man aus der Kindheit, eins der sinnlichen Rollenspiele, die mit gehörigem Ernst und Konzentration absolviert wurden. Einem 'Patienten' das Stethoskop an den Rücken halten und dann an die Brust, ihn abhören, auf seine Gesundheit und seine Gefühle hin, die Stirn runzeln, eine Diagnose erteilen, Medikamente ausgeben, in Form von Bonbons oder Brausepulver. In Ulrich Seidls neuem Film, dem dritten seiner Paradies-Trilogie, treibt das Doktorspielen ein Doktor selbst, der Anstaltsarzt in einem Diätcamp. Er treibt das vor allem mit der jungen Melanie, dreizehn Jahre, übergewichtig, sie ist zum Abnehmen da und verschaut sich in ihn.
Ein Camp auf dem niederösterreichischen Lande, irgendwie idyllisch, Wald und Wiesen, ein Teich, im Sonnenlicht. Die Anstalt selbst hat abgeblätterten Linoleum-Charme, eine fade Landschulheim-Aura. Keine Marteranstalt, selbst der militärische Kommandoton des Turntrainers ist bemüht lässig, mit gepflegt sadistischen Untertönen: 'Disziplin ist das Um und Auf. Für den Erfolg.' Es geht um Körperertüchtigung, die Mädels und Buben werden schikaniert, aber nicht geschunden. Nirgendwo eine Spur der unerbittlichen, heute auch im Kino, im amerikanischen zumal, omnipräsenten Laufbänder. Die Kids hängen verquer an den Sprossenwänden und kugeln lätschert, aber unverdrossen in Purzelbäumen über die Matten. Ein Perpetuum Mobile. Ohne Eigenenergie. Man stellt die Kinder ruhig in dieser Institution.
In "Paradies: Hoffnung", dem dritten Teil der Paradies-Trilogie von Ulrich Seidl, verliebt sich im Diätcamp Melanie (Melanie Lenz) in den 40 Jahre älteren Arzt (Joseph Lorenz).
Drei Frauen untersucht Ulrich Seidl in seiner Paradies-Trilogie, deren erste zwei Teile in den letzten Monaten bereits im Kino zu sehen waren. Drei weibliche Körper, auf ihren Irrfahrten zwischen Erfüllung und Entsagung, grotesk und an der Grenze zur Peinlichkeit. Im ersten Teil - 'Paradies: Liebe' - gibt es eine Mutter, Teresa, die Urlaub macht in Kenia und sich dort einen schwarzen Beachboy als Lover besorgt. Man sieht Melanie schon kurz in diesem Film, sie ist Teresas Tochter, die vor dem Abflug zur Tante verfrachtet wird. Der Tante folgt man dann im zweiten Teil, 'Paradies: Glaube'. Anna Maria, Eiferin, Flagellantin, Missionarin. Sie zieht mit einer Wandermuttergottes durch die Wiener Außenbezirke, den Glauben verbreitend, unermüdlich, fanatisch. 'Jesus, wir schwören, Österreich wird wieder katholisch.' Man sieht sie nun zu Beginn des dritten Teils - 'Paradies: Hoffnung' - noch einmal, wenn sie die Nichte Melanie in den Wagen packt und im Camp abliefert, wie sie die Kurven nimmt auf dem Weg dorthin, das ist eine der wenigen richtig dynamischen Einstellungen in Seidls ansonsten so streng fixiertem Werk. Der Amerikaner Ed Lachman macht für ihn inzwischen die Kamera, der in den Achtzigern im Umkreis von Coppola arbeitete, mit Werner Herzog und Wim Wenders, Larry Clark und Todd Haynes Filme machte, zwischen Amerika und Europa, lustvoll die Dialektik studierte von Realismus und Stilisierung: 'Ich finde Ulrich Seidls Filme schön, ich versuche diesen bourgeoisen Mittelklasse-Blick zu vermeiden, der in eine Welt hineinguckt, an der er nicht teil hat.'
Die übergewichtigen Körper haben ihre eigene Schönheit in diesem Film, er verweigert sich allen modernen Beauty-Normen. Die dreizehnjährige Melanie Lenz hat einen aufregend schrägen Blick, aufreizend fällt ihr blondes Haar über die Stirn. Lolita hat sie im Drehbuch noch geheißen. Wenn sie vom angehimmelten Arzt schwärmt zu ihrer Freundin, folgt ihre Sprache ganz ihrem Verlangen: 'Oh, ich mag seine Augen, bist deppert ... blau, richtig himmelblau, das ist so schön.'
Mit der Zentralperspektive in Seidls Filmen haben viele Kritiker ihre Probleme, sie sehen ein Zeichen von Dominanz und Kontrolle darin. Dabei ist es gerade umgekehrt: Der feste, unveränderliche Blick schafft Freiraum. Die Disziplin, schrieb Michel Foucault in 'Überwachen und Strafen', sei 'eine politische Anatomie des Details'. Und Seidl hat einen Blick vor allem für die Einzelheiten, die Kleinigkeiten. Er filmt so einfach wie es nur geht, er weiß, immer wenn die Kamera in die Schräge geht oder kippt, kommen Action, Pathos, Melodramatisches ins Spiel, und irgendwann dann Ironie und Überheblichkeit.
Geduldig lässt Seidl die Zöglinge Revue passieren, sechzehn insgesamt, einer nach dem andern stellt sich vor am Anfang des Trainings, immer wieder ziehen sie später gemeinsam im Gänsemarsch hinter der Erzieherin hinaus, wandernd, manchmal singend, und Beklommenheit stellt sich ein, wenn man der Reihe nach mitzählt und plötzlich ein paar fehlen ... Im Kontrast zu den langen Passagen draußen stehen nächtliche Szenen in den Kammern, wo die Kids zu viert zusammengepfercht sind. Eine Enge, die aber nichts Klaustrophobisches hat, die fröhlichen Hochdruck produziert, wilde Entladungen. Melanie entwickelt die gleiche Widersetzlichkeit wie schon die Frauen in den ersten zwei Paradies-Filmen, die Mutter und die Tante - diese demonstriert in ihren hartnäckigen Kämpfen mit bekehrungsunwilligen Mitmenschen eine slapstickartige Vitalität.
Seidl kümmert sich um das, was produktiv ist an den modernen Obsessionen. Wie sie die Normativität von Bildern zersetzen und den Begriff der Utopie, der darin steckt. Die einzige komische Figur im Film ist der Doktor, ein grauer Beau, der auf jugendlich macht. Er mag das Spiel nicht ernst nehmen, dafür findet man ihn am Ende auf allen Vieren. Die Kinder präsentieren sich derweil, fröhlich sich auf den Bauch klopfend, in einer Musical-Nummer: 'If you"re happy and you know it and you really want to show it ... clap your fat.'
Paradies: Hoffnung, AT/D/F 2012 - Regie: Ulrich Seidl. Buch: Ulrich Seidl, Veronika Franz. Kamera: Wolfgang Thaler, Ed Lachman. Schnitt: Christof Schertenleib. Szenenbild: Renate Martin, Andreas Donhauser. Mit: Melanie Lenz, Joseph Lorenz, Michael Thomas, Verena Lehbauer, Vivian Bartsch, Johanna Schmid. Neue Visionen, 91 Minuten.
Doktor spielen, das kennt man aus der Kindheit, eins der sinnlichen Rollenspiele, die mit gehörigem Ernst und Konzentration absolviert wurden. Einem 'Patienten' das Stethoskop an den Rücken halten und dann an die Brust, ihn abhören, auf seine Gesundheit und seine Gefühle hin, die Stirn runzeln, eine Diagnose erteilen, Medikamente ausgeben, in Form von Bonbons oder Brausepulver. In Ulrich Seidls neuem Film, dem dritten seiner Paradies-Trilogie, treibt das Doktorspielen ein Doktor selbst, der Anstaltsarzt in einem Diätcamp. Er treibt das vor allem mit der jungen Melanie, dreizehn Jahre, übergewichtig, sie ist zum Abnehmen da und verschaut sich in ihn.
Ein Camp auf dem niederösterreichischen Lande, irgendwie idyllisch, Wald und Wiesen, ein Teich, im Sonnenlicht. Die Anstalt selbst hat abgeblätterten Linoleum-Charme, eine fade Landschulheim-Aura. Keine Marteranstalt, selbst der militärische Kommandoton des Turntrainers ist bemüht lässig, mit gepflegt sadistischen Untertönen: 'Disziplin ist das Um und Auf. Für den Erfolg.' Es geht um Körperertüchtigung, die Mädels und Buben werden schikaniert, aber nicht geschunden. Nirgendwo eine Spur der unerbittlichen, heute auch im Kino, im amerikanischen zumal, omnipräsenten Laufbänder. Die Kids hängen verquer an den Sprossenwänden und kugeln lätschert, aber unverdrossen in Purzelbäumen über die Matten. Ein Perpetuum Mobile. Ohne Eigenenergie. Man stellt die Kinder ruhig in dieser Institution.
In "Paradies: Hoffnung", dem dritten Teil der Paradies-Trilogie von Ulrich Seidl, verliebt sich im Diätcamp Melanie (Melanie Lenz) in den 40 Jahre älteren Arzt (Joseph Lorenz).
Drei Frauen untersucht Ulrich Seidl in seiner Paradies-Trilogie, deren erste zwei Teile in den letzten Monaten bereits im Kino zu sehen waren. Drei weibliche Körper, auf ihren Irrfahrten zwischen Erfüllung und Entsagung, grotesk und an der Grenze zur Peinlichkeit. Im ersten Teil - 'Paradies: Liebe' - gibt es eine Mutter, Teresa, die Urlaub macht in Kenia und sich dort einen schwarzen Beachboy als Lover besorgt. Man sieht Melanie schon kurz in diesem Film, sie ist Teresas Tochter, die vor dem Abflug zur Tante verfrachtet wird. Der Tante folgt man dann im zweiten Teil, 'Paradies: Glaube'. Anna Maria, Eiferin, Flagellantin, Missionarin. Sie zieht mit einer Wandermuttergottes durch die Wiener Außenbezirke, den Glauben verbreitend, unermüdlich, fanatisch. 'Jesus, wir schwören, Österreich wird wieder katholisch.' Man sieht sie nun zu Beginn des dritten Teils - 'Paradies: Hoffnung' - noch einmal, wenn sie die Nichte Melanie in den Wagen packt und im Camp abliefert, wie sie die Kurven nimmt auf dem Weg dorthin, das ist eine der wenigen richtig dynamischen Einstellungen in Seidls ansonsten so streng fixiertem Werk. Der Amerikaner Ed Lachman macht für ihn inzwischen die Kamera, der in den Achtzigern im Umkreis von Coppola arbeitete, mit Werner Herzog und Wim Wenders, Larry Clark und Todd Haynes Filme machte, zwischen Amerika und Europa, lustvoll die Dialektik studierte von Realismus und Stilisierung: 'Ich finde Ulrich Seidls Filme schön, ich versuche diesen bourgeoisen Mittelklasse-Blick zu vermeiden, der in eine Welt hineinguckt, an der er nicht teil hat.'
Die übergewichtigen Körper haben ihre eigene Schönheit in diesem Film, er verweigert sich allen modernen Beauty-Normen. Die dreizehnjährige Melanie Lenz hat einen aufregend schrägen Blick, aufreizend fällt ihr blondes Haar über die Stirn. Lolita hat sie im Drehbuch noch geheißen. Wenn sie vom angehimmelten Arzt schwärmt zu ihrer Freundin, folgt ihre Sprache ganz ihrem Verlangen: 'Oh, ich mag seine Augen, bist deppert ... blau, richtig himmelblau, das ist so schön.'
Mit der Zentralperspektive in Seidls Filmen haben viele Kritiker ihre Probleme, sie sehen ein Zeichen von Dominanz und Kontrolle darin. Dabei ist es gerade umgekehrt: Der feste, unveränderliche Blick schafft Freiraum. Die Disziplin, schrieb Michel Foucault in 'Überwachen und Strafen', sei 'eine politische Anatomie des Details'. Und Seidl hat einen Blick vor allem für die Einzelheiten, die Kleinigkeiten. Er filmt so einfach wie es nur geht, er weiß, immer wenn die Kamera in die Schräge geht oder kippt, kommen Action, Pathos, Melodramatisches ins Spiel, und irgendwann dann Ironie und Überheblichkeit.
Geduldig lässt Seidl die Zöglinge Revue passieren, sechzehn insgesamt, einer nach dem andern stellt sich vor am Anfang des Trainings, immer wieder ziehen sie später gemeinsam im Gänsemarsch hinter der Erzieherin hinaus, wandernd, manchmal singend, und Beklommenheit stellt sich ein, wenn man der Reihe nach mitzählt und plötzlich ein paar fehlen ... Im Kontrast zu den langen Passagen draußen stehen nächtliche Szenen in den Kammern, wo die Kids zu viert zusammengepfercht sind. Eine Enge, die aber nichts Klaustrophobisches hat, die fröhlichen Hochdruck produziert, wilde Entladungen. Melanie entwickelt die gleiche Widersetzlichkeit wie schon die Frauen in den ersten zwei Paradies-Filmen, die Mutter und die Tante - diese demonstriert in ihren hartnäckigen Kämpfen mit bekehrungsunwilligen Mitmenschen eine slapstickartige Vitalität.
Seidl kümmert sich um das, was produktiv ist an den modernen Obsessionen. Wie sie die Normativität von Bildern zersetzen und den Begriff der Utopie, der darin steckt. Die einzige komische Figur im Film ist der Doktor, ein grauer Beau, der auf jugendlich macht. Er mag das Spiel nicht ernst nehmen, dafür findet man ihn am Ende auf allen Vieren. Die Kinder präsentieren sich derweil, fröhlich sich auf den Bauch klopfend, in einer Musical-Nummer: 'If you"re happy and you know it and you really want to show it ... clap your fat.'
Paradies: Hoffnung, AT/D/F 2012 - Regie: Ulrich Seidl. Buch: Ulrich Seidl, Veronika Franz. Kamera: Wolfgang Thaler, Ed Lachman. Schnitt: Christof Schertenleib. Szenenbild: Renate Martin, Andreas Donhauser. Mit: Melanie Lenz, Joseph Lorenz, Michael Thomas, Verena Lehbauer, Vivian Bartsch, Johanna Schmid. Neue Visionen, 91 Minuten.