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Die vermeidbare Katastrophe

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Im Juli 2010 starben bei der Loveparade in Duisburg Menschen starben, nun nähern sich die Ermittlungen ihrem Ende.


Vor einigen Jahren hätten manche in Deutschland womöglich noch gelacht bei diesem komischen Titel und sich gefragt, wozu man das denn braucht: "Professor for Crowd Science at the International Centre for Crowd Management and Security Studies". So steht es auf der Visitenkarte von G. Keith Still, der mit seinem Forschungsgebiet jahrelang nur Experten bekannt war, der bald aber eine wichtige Rolle spielen könnte, wenn ein Gericht entscheidet, wer schuld war an der Katastrophe auf der Loveparade. Wer verantwortlich ist für 21 Tote.

Seit fast drei Jahren ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft nun mit einer unglaublichen Akribie, auf 33000 Seiten ist die Hauptakte zu den Ermittlungen angeschwollen. In Justizkreisen geht man davon aus, dass es im Sommer auch zu Anklagen kommen kann - gegen 15 Beschuldigte wird derzeit ermittelt, ein weiterer ist Anfang des Jahres verstorben.

Dem Gutachter Still würde in dem Verfahren eine zentrale Rolle zukommen. Er hatte im Frühjahr 2012 ein erstes Gutachten verfasst, das auf 20 Seiten darlegte, dass die Loveparade in einer Katastrophe enden musste, dass sie nie hätte genehmigt werden dürfen. Im März 2013 hat Still nun noch einmal detailliert nachgelegt, die Version 3.15 seiner Untersuchungen sind ein entscheidender Baustein für die Ermittler: Auf mittlerweile fast 90 Seiten erhebt Still - ohne sie namentlich zu nennen - schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen der Stadt Duisburg und des Veranstalters Lopavent.

Auf die Frage der Staatsanwälte, ob die Loveparade auf dem Gelände am Duisburger Güterbahnhof denn wenigstens theoretisch ohne Schaden für Leib und Seele der Besucher durchgeführt hätte werden können, sagt Still: nein, völlig undenkbar.

In verschiedenen Rechenmodellen weist er nach, dass die Veranstalter es aus seiner Sicht versäumt hätten, einfachste Kalkulationen durchzuführen. Zum Beispiel die erwarteten an- und abgehenden Besucherströme zu addieren. 21 Tote wegen ungenügender Grundrechenarten?

Die Katastrophe auf der Loveparade wurde oft als Massenpanik beschrieben, es klingt nach Mitschuld der Opfer. Für Panik fehlte ihnen aber der Platz, sie wurden erdrückt, weil sich auf der Rampe zum Gelände zu viele Menschen stauten. Still weist in seinem Gutachten nach, dass Veranstalter und Stadt durch einfache Kalkulationen hätten wissen müssen, dass die Rampe viel zu klein war für die erwarteten Besucher. Sie war zudem mit Zäunen verstellt und acht Meter schmaler als eigentlich geplant.

Das alles wäre vorhersehbar gewesen, das alles hätte nie genehmigt werden dürfen, schreibt Gutachter Still.



Hätte man die 21 Opfer der Loveparade verhindern können?

Den Anwälten der Beschuldigten ist wohl klar, dass es sich bei dem Gutachten um ein zentrales Element einer möglichen Anklage handelt. Rechtsanwalt Hans-Jürgen S., der den technischen Leiter der Loveparade vertritt, schreibt mehrere Erwiderungen auf das Gutachten, die insgesamt länger sind als die Expertise selbst. Mal stimme eine Uhrzeit nicht, mal fehlten dem Gutachter Kenntnisse des deutschen Rechtssystems.

Zwar hatten sich die Beteiligten auch Gedanken gemacht, wie denn auf eine Überfüllung des Geländes zu reagieren sei und am 8. Juli 2010 die Vereinbarung eines Frühwarnsystems getroffen. Das hat nach den Ermittlungen der Polizei aber gründlich versagt. Polizei, Stadt und Veranstalter zählten am Tag der Katastrophe die Besucher, mit Hubschrauberbildern, Rasterbildern, per Hand. Jeder kam auf ein anderes Ergebnis, ein mathematischer Mittelwert wurde berechnet und dabei ein unglaublicher Fehler begangen: Meldete eine Kontrollstelle keine Daten, wurde sie mit Null in die Tabelle eingefügt, was den Mittelwert weiter senkte. Letztlich wusste niemand so genau, wie viele Menschen sich auf dem Gelände befanden.

Und genau das war womöglich auch die Absicht des Veranstalters. Die Lopavent, die dem Fitnessunternehmer Rainer Schaller gehört, hatte im Vorfeld mit allerlei Zahlen jongliert, öffentlich von einer erwarteten Million Besuchern gesprochen, intern kalkulierte man aber mit 250000, die von den Behörden genehmigt wurden.

Je mehr desto besser, war dann aber offenbar die Haltung des Veranstalters, der noch am Tag der Loveparade die zulässige Zahl der Personen pro Quadratmeter erhöhen ließ. Genau wissen wollte man es aber nicht. Im Mai 2010 hatte die Stadt Duisburg das Angebot einer Firma erhalten, die große Besucherströme elektronisch recht exakt messen kann. Die Stadt leitete den Vorschlag an den Loveparade-Veranstalter weiter, der das für keine gute Idee hielt. Vielleicht, so der ermittelnde Kripo-Beamte, weil das Gelände bei exakten Zahlen nach dem Geschmack des Veranstalters zu schnell hätte geschlossen werden können. Viele solcher Details haben die Ermittler gefunden, sie ergeben ein Muster des bewussten Versagens bei Stadt und Veranstalter.

Die große Herausforderung der Ankläger ist es nun, den einzelnen Beschuldigten nun auch die persönliche Schuld nachzuweisen. Vor einigen Jahren haben einige der Ermittler erlebt, wie man in einem vergleichbaren Fall dramatisch scheitern kann. Nur wenige Kilometer von der Unglücksstelle der Loveparade entfernt, brannte 1996 der Düsseldorfer Flughafen, 17 Menschen erstickten qualvoll. Nach 80 Sitzungstagen wurde das Verfahren gegen Zahlung von Geldstrafen eingestellt. "Die schrecklichen Folgen der Brandkatastrophe", so der Richter damals, "dürfen nicht den Blick darauf verstellen, dass im Bereich der strafrechtlichen Verantwortung allein die etwaige persönliche Schuld eines Angeklagten zu beurteilen ist, was generell bedeutet, dass trotz der verheerenden Folgen des Brandes die persönliche Schuld eines Angeklagten gleichwohl gering sein kann." Das Gericht hatte zwar zahlreiche Fehler und Verstöße nachgewiesen, war aber letztlich zu der Ansicht gekommen, dass das Unglück eine Kette tragische Umstände war, "die keiner der Angeklagten zu vertreten hat". In gewisser Weise musste die Schuld durch zu viele Beteiligte geteilt werden. Für den Einzelnen blieb zu wenig Schuld übrig.

Das soll den Ermittlern bei der Loveparade nicht passieren. Die Verantwortlichen hätten es besser wissen müssen, sagt der Gutachter. Wenn sie nur gewollt hätten. Dem folgen die Ermittler. Alle, die zum Beispiel an der Erarbeitung des Sicherheitskonzeptes beteiligt waren, hätten sich der Verletzung der Sorgfaltspflicht schuldig gemacht, argumentieren die Ermittler. Die Beschuldigten wussten, was sie da taten. Oder unterließen. Wie in Ermittlungen üblich, befassten sich Staatsanwaltschaft und Polizei zuerst mit denen ganz unten, und gingen dann die Hierarchie nach oben.

Beim Veranstalter Lopavent ist der McFit-Gründer Rainer Schaller als Geschäftsführer eingetragen. Strafrechtlich relevant ist aber, in wie weit er in die Planung involviert gewesen ist. Kaum bis gar nicht, sagten Dutzende Zeugen. Eine Mitarbeiterin gibt in einer Vernehmung an, dass Schaller vor allem für seine abstrusen Einfälle gefürchtet war. In Duisburg hatte er anfangs die Idee, einen iranischen Themenwagen über das Veranstaltungsgelände fahren zu lassen, Mitarbeiter rieten ab.

Seine Angestellten berichten, dass Schaller im Vorfeld der Loveparade sehr auf die Kosten geachtet und dies auch in einer Mail zur Sprache gebracht habe. Wurde also an der Sicherheit gespart?, fragten die Ermittler. Belege dafür fanden sie nicht. Er sei nie wirklich in den Planungsablauf involviert gewesen, schreiben sie in einem Zwischenbericht Ende 2011. Der wohl auch dazu beträgt, dass Schaller gesprächig wird. Am 8. März 2012 wird er von den Ermittlern vernommen, es wird ein freundliches Gespräch. Schaller gibt an, nie direkt an der Erarbeitung des Sicherheitskonzeptes beteiligt gewesen zu sein. Er besitze nicht einmal einen Computer. Nach acht Stunden endet die Vernehmung, wie es ihm gehe, fragen die Ermittler. Es gebe ein Leben vor der Loveparade und eines danach, sagt Schaller. Aus seiner Aussage würden sich keine neuen Ermittlungshandlungen ergeben, notieren die Ermittler. Für seine Mitarbeiter sieht das anders aus.

Neben den Beschuldigten müssen sich die Ermittler auch immer wieder mit Trittbrettfahrern auseinandersetzen, Opfern, die womöglich keine sind. Da ist zum Beispiel Wolfgang L., ohne den kaum ein Medium auskommt in der Berichterstattung über die Loveparade. Er sei traumatisiert und arbeitsunfähig, habe auf der Loveparade schweren körperlichen Schaden genommen, sagt der Schreiner L. in jedes Mikrofon. Bei der Staatsanwaltschaft melden sich ehemalige Mitarbeiter, die eine andere Geschichte erzählen. L. sei in Wahrheit wegen eines Diebstahls gekündigt worden, auf der Loveparade habe er nur seinen Stiefsohn abgeholt, von Verletzungen sei danach erst einmal keine Rede gewesen. Erst im Fernsehen. Es gibt weitere ähnliche Fälle.

Es überwiegt aber die Zahl derer, der Opfer und Hinterbliebener, die auf die Wahrheit warten, die wissen wollen, wie solch ein Unglück in diesem sonst so strukturiertem Land passieren konnte, das für alles eine Vorschrift kennt. Vor wenigen Tagen hatte einer der vielen Opfer-Anwälte gemutmaßt, es werde wohl nie zu einer Anklage kommen. Julius Reiter, der zusammen mit dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum fast 100 Geschädigte vertritt, so engagiert wie kein anderer, glaubt das nicht. Reiter sagt: "Ich gehe fest von einer Anklage aus, bei 21 Toten ist es nicht vorstellbar, dass es keinen Schuldigen gibt."

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