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Millionen fühlen sich ausgegrenzt

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5,3 Prozent der deutschen Bevölkerung stufen sich als extrem arm ein. Grundlage sind Kriterien für Haushalte, die die EU festgelegt hat und die sich auf bestimmte Anschaffungen und Ausgabe beziehen.

Sie können ihre Wohnung nicht immer ausreichend heizen. Sie haben zu wenig Geld, um wenigstens einmal im Jahr für eine Woche in den Urlaub zu fahren und sich ein Auto oder gar eine Waschmaschine zu kaufen. Oder ihnen fehlen die finanziellen Reserven, unerwartete Ausgaben bestreiten zu können. Das sind einige der neun Kriterien, die die Europäische Union (EU) für Haushalte definiert hat, um ihre soziale Lage besser bestimmen zu können. Sind mindestens vier davon erfüllt, spricht die EU von 'erheblicher materieller Entbehrung'.

Wie viele davon in Deutschland betroffen sind, hat jetzt das Statistische Bundesamt ermittelt. Demnach stuften sich im vergangenen Jahr 5,3 Prozent der Bevölkerung als extrem arm ein. Die Statistiker sprechen von 'erheblich materiell deprivierten' Menschen. Sie sind sozusagen die unterste Schicht innerhalb der Armen. Die Angaben der Wiesbadener Behörde beruhen auf der Befragung von etwa 13500 Menschen, sie ist Teil der Erhebung 'Leben in Europa 2011'.



Wer als Alleinstehender weniger als 952 Euro im Monat zur Verfügung hat, gilt als arm.

Die Gesamtgruppe derjenigen, die den EU-Kategorien zufolge als arm gelten, ist wesentlich größer. Danach wäre in Deutschland sogar jeder Fünfte - also 16 Millionen Menschen - arm oder sozial ausgegrenzt. Nach der europaweiten Definition ist das dann der Fall, wenn ein Alleinstehender weniger als 952 Euro im Monat zur Verfügung hat, seine Erwerbsbeteiligung sehr gering ist oder er in die unterste Gruppe der materiell Deprivierten fällt.

Nimmt man nur die 952 Euro als Maßstab, kommen andere Zahlen heraus: Dann ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes jeder sechste Bundesbürger (15,8 Prozent) von Armut bedroht. Das sind 12,8 Millionen Menschen. Besonders stark gilt dies für Alleinerziehende und ihre Kinder. In dieser Gruppe war mehr als jeder Dritte (37,1 Prozent) armutsgefährdet.

Die Zahlen sind allerdings unter Ökonomen nicht unumstritten. Der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und Thomas Bauer, Vizepräsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, kritisieren die Berechnung der Armutsgrenze. Wer europaweit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens hat, gilt als 'armutsgefährdet'. 'Wenn sich also alle Einkommen verdoppeln, verdoppelt sich auch die Armutsgrenze, und der Anteil der Armen ist der gleiche wie vorher', schreiben die drei Autoren in ihrer 'Unstatistik des Monats'. Sie weisen außerdem darauf hin, dass die Armutsgrenze in armen Ländern kleiner sei als in reichen. 'Zieht ein Gastarbeiter aus Portugal, der hier im Jahr nur 11000 Euro zur Verfügung hat, in seine Heimat zurück, nimmt die kollektive Armut in Deutschland und Portugal gleichermaßen ab. Denn in Deutschland ist man mit 11000 Euro jährlich arm, in Portugal dagegen nicht', geben die Wissenschaftler zu bedenken. Selbst wenn besagter Portugiese, zu Hause nur 7000 Euro jährlich hätte, wäre er dort statistisch offiziell nicht arm. Die Autoren sind daher überzeugt, dass der am Durchschnittseinkommen festgezurrte Armutsbegriff nicht die Armut misst, sondern eher die Ungleichheit.

Die Weltbank hat ohnehin ganz andere Maßstäbe: Bei ihr gelten Menschen als arm, die weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zum Leben haben.

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