Ehemalige Obdachlose erzählen auf einer Tour durch Berlin, wie man die Stadt aus ihrer Sicht wahrnimmt.
Über fast jedes Berliner Viertel existiert ein Klischee des typischen Bewohners: In Prenzlauer Berg sind es die jungen Akademiker-Familien und die Schwaben; in Kreuzberg die alten Hausbesetzer und die kreativen Hornbrillenträger; nach Charlottenburg ziehen die Kunst- und Designliebhaber über 40; und in Schöneberg leben die Obdachlosen. Moment - Schöneberg, da stehen doch das luxuriöse KaDeWe und viele noble Gründerzeit-Häuser, da prägen doch nicht auffällig viele Obdachlose das Straßenbild.
Die Tour vermeidet bewusst, direkt soziale Einrichtungen oder Schlafplätze anzusteuern. Man wolle keinen Elendstourismus machen.
Weil sie nicht gesehen werden wollen, sagt Carsten Voss. Und weil viele sie nicht sehen wollen. Und weil man auch nicht jedem seine Obdachlosigkeit ansieht. Trotzdem sind sie da.
Voss steht am Nollendorfplatz in Schöneberg, um ihn herum versammelt sich eine Gruppe von etwa 20 Leuten. Sein Ziel: die Obdachlosigkeit sichtbar machen, die Stadt aus einer anderen Perspektive präsentieren, den Blickwinkel ändern. Eineinhalb Stunden lang wird Voss während einer Führung durchs Viertel erklären, wie man als Obdachloser Berlin wahrnimmt.
'Querstadtein' heißt das Projekt, an dem 15 junge Menschen ehrenamtlich arbeiten, um etwas gegen die Kluft zwischen Obdachlosen und dem Rest der Gesellschaft zu tun. Die Idee, Obdachlose besondere Stadtführungen machen zu lassen, ist nicht neu, in Hamburg, Köln, München, Nürnberg und anderen deutschen Städten existieren solche Touren schon länger. Nur in Berlin kam bisher offenbar keiner auf diese Idee - dabei leben in der Hauptstadt die meisten Obdachlosen. Etwa 4000 Menschen, schätzt Voss, leben wirklich auf der Straße, hinzu kommen 6000 Menschen, die keine eigene Wohnung haben und in Heimen untergebracht sind.
Carsten Voss, 54 Jahre alt, war bis vor Kurzem einer von ihnen, auch wenn man es ihm nicht ansieht: schwarze Ray-Ban-Brille, kurze Hose, dazu Segelschuhe. Aber darum soll es bei dieser Stadtführung eben auch gehen - dass es nicht den typischen Obdachlosen gibt, genauso wenig wie den einen Grund, auf der Straße zu landen. Es sind vielfältige Schicksale und Geschichten. Die von Voss geht so: Erfolgreicher Mode-Manager, der unter anderem im Führungsteam der Berliner Messe Bread & Butter arbeitete, verliert durch einen Burn-out erst den Job, dann das soziale Umfeld, dann die Wohnung und fast alles, was er besitzt. Anfangs schläft er noch in der Gartenlaube von Freunden, schließlich muss er auch dort raus. Auf die Straße.
Am schicken Viktoria-Luise-Platz hatte Voss einst seine Wohnung, nun steht er dort und erklärt, wie er an diesem Platz auch als Obdachloser lebte. Er wollte gerne in seinem Kiez bleiben, außerdem herrschten da gute Bedingungen, meint er. 'Erst einmal: Auch Obdachlose fühlen sich an hübschen Orten wohl und nicht nur in gammeligen Ecken.' Weitere Vorteile: Dort ist der Lette-Verein, eine Berufsfachschule mit renommiertem Design-Zweig. 'Also sind hier junge Menschen', sagt Voss, 'die trinken viel aus Plastikflaschen.' Ein guter Ort zum Pfandsammeln also. Und eines der wichtigsten Argumente: Die Gegend sei sicher, und viele der Anwohner kümmerten sich sogar um die Obdachlosen.
Deshalb zieht es viele Menschen ohne festen Wohnsitz nach Schöneberg, meint Voss. Der Kiez zwischen Nollendorfplatz und Bahnhof Zoo sei offen, liberal und tolerant. Es gebe bequeme Bänke zum Sitzen und Schlafen, 24-Stunden-Supermärkte mit Pfandautomaten, guten Nahverkehr. Und viele soziale Einrichtungen: Wotas etwa, so die Abkürzung für Wohnungslosen-Tagesstätte, wie man Wärmestuben heute eher nennt, in denen man essen, duschen und Wäsche waschen kann. Kirchen geben Kleidung und Lebensmittel aus, am Bahnhof Zoo gibt es eine Ambulanz für Menschen und Tiere, und in der Gedächtniskirche kann man sich mittwochs umsonst die Haare schneiden lassen. 'Berlin ist da ein Paradies', sagt Carsten Voss, auch auf Behörden und Ämter lässt er nichts kommen, er sei immer gut behandelt worden. Er hat mittlerweile geschafft, das zu tun, was er zunächst aus Scham nicht konnte: um Hilfe bitten, Hartz IV beantragen. Seit wenigen Monaten lebt Voss wieder in einer eigenen Wohnung.
Die Tour vermeidet bewusst, direkt soziale Einrichtungen oder Schlafplätze anzusteuern. Man wolle keinen Elendstourismus machen, sagt Sally Ollech. Die 30-Jährige ist Mitgründerin des Projekts 'Querstadtein'. Das Konzept kommt bei den Teilnehmern der Stadtführung gut an. Fast alle sind Berliner, die ihre Stadt einmal anders kennenlernen möchten.
Am Ende der Tour beantwortet Voss noch Fragen. Eine lautet: Wie soll man umgehen mit Obdachlosen im Alltag? 'Das Wichtigste ist, dass man überhaupt mit ihnen umgeht. Das sind Menschen, nicht Müll, der auf der Straße rumliegt und irgendwann weggekehrt wird.' Also nicht ignorieren, sondern auch mal hinschauen, lächeln, achtsam und freundlich sein. Altkleider und Bettwäsche nicht in den Container werfen, sondern an soziale Einrichtungen spenden, Pfandflaschen nicht in den Mülleimer schmeißen, sondern daneben stellen. Kleine Gesten, die schon ein bisschen helfen können.
Über fast jedes Berliner Viertel existiert ein Klischee des typischen Bewohners: In Prenzlauer Berg sind es die jungen Akademiker-Familien und die Schwaben; in Kreuzberg die alten Hausbesetzer und die kreativen Hornbrillenträger; nach Charlottenburg ziehen die Kunst- und Designliebhaber über 40; und in Schöneberg leben die Obdachlosen. Moment - Schöneberg, da stehen doch das luxuriöse KaDeWe und viele noble Gründerzeit-Häuser, da prägen doch nicht auffällig viele Obdachlose das Straßenbild.
Die Tour vermeidet bewusst, direkt soziale Einrichtungen oder Schlafplätze anzusteuern. Man wolle keinen Elendstourismus machen.
Weil sie nicht gesehen werden wollen, sagt Carsten Voss. Und weil viele sie nicht sehen wollen. Und weil man auch nicht jedem seine Obdachlosigkeit ansieht. Trotzdem sind sie da.
Voss steht am Nollendorfplatz in Schöneberg, um ihn herum versammelt sich eine Gruppe von etwa 20 Leuten. Sein Ziel: die Obdachlosigkeit sichtbar machen, die Stadt aus einer anderen Perspektive präsentieren, den Blickwinkel ändern. Eineinhalb Stunden lang wird Voss während einer Führung durchs Viertel erklären, wie man als Obdachloser Berlin wahrnimmt.
'Querstadtein' heißt das Projekt, an dem 15 junge Menschen ehrenamtlich arbeiten, um etwas gegen die Kluft zwischen Obdachlosen und dem Rest der Gesellschaft zu tun. Die Idee, Obdachlose besondere Stadtführungen machen zu lassen, ist nicht neu, in Hamburg, Köln, München, Nürnberg und anderen deutschen Städten existieren solche Touren schon länger. Nur in Berlin kam bisher offenbar keiner auf diese Idee - dabei leben in der Hauptstadt die meisten Obdachlosen. Etwa 4000 Menschen, schätzt Voss, leben wirklich auf der Straße, hinzu kommen 6000 Menschen, die keine eigene Wohnung haben und in Heimen untergebracht sind.
Carsten Voss, 54 Jahre alt, war bis vor Kurzem einer von ihnen, auch wenn man es ihm nicht ansieht: schwarze Ray-Ban-Brille, kurze Hose, dazu Segelschuhe. Aber darum soll es bei dieser Stadtführung eben auch gehen - dass es nicht den typischen Obdachlosen gibt, genauso wenig wie den einen Grund, auf der Straße zu landen. Es sind vielfältige Schicksale und Geschichten. Die von Voss geht so: Erfolgreicher Mode-Manager, der unter anderem im Führungsteam der Berliner Messe Bread & Butter arbeitete, verliert durch einen Burn-out erst den Job, dann das soziale Umfeld, dann die Wohnung und fast alles, was er besitzt. Anfangs schläft er noch in der Gartenlaube von Freunden, schließlich muss er auch dort raus. Auf die Straße.
Am schicken Viktoria-Luise-Platz hatte Voss einst seine Wohnung, nun steht er dort und erklärt, wie er an diesem Platz auch als Obdachloser lebte. Er wollte gerne in seinem Kiez bleiben, außerdem herrschten da gute Bedingungen, meint er. 'Erst einmal: Auch Obdachlose fühlen sich an hübschen Orten wohl und nicht nur in gammeligen Ecken.' Weitere Vorteile: Dort ist der Lette-Verein, eine Berufsfachschule mit renommiertem Design-Zweig. 'Also sind hier junge Menschen', sagt Voss, 'die trinken viel aus Plastikflaschen.' Ein guter Ort zum Pfandsammeln also. Und eines der wichtigsten Argumente: Die Gegend sei sicher, und viele der Anwohner kümmerten sich sogar um die Obdachlosen.
Deshalb zieht es viele Menschen ohne festen Wohnsitz nach Schöneberg, meint Voss. Der Kiez zwischen Nollendorfplatz und Bahnhof Zoo sei offen, liberal und tolerant. Es gebe bequeme Bänke zum Sitzen und Schlafen, 24-Stunden-Supermärkte mit Pfandautomaten, guten Nahverkehr. Und viele soziale Einrichtungen: Wotas etwa, so die Abkürzung für Wohnungslosen-Tagesstätte, wie man Wärmestuben heute eher nennt, in denen man essen, duschen und Wäsche waschen kann. Kirchen geben Kleidung und Lebensmittel aus, am Bahnhof Zoo gibt es eine Ambulanz für Menschen und Tiere, und in der Gedächtniskirche kann man sich mittwochs umsonst die Haare schneiden lassen. 'Berlin ist da ein Paradies', sagt Carsten Voss, auch auf Behörden und Ämter lässt er nichts kommen, er sei immer gut behandelt worden. Er hat mittlerweile geschafft, das zu tun, was er zunächst aus Scham nicht konnte: um Hilfe bitten, Hartz IV beantragen. Seit wenigen Monaten lebt Voss wieder in einer eigenen Wohnung.
Die Tour vermeidet bewusst, direkt soziale Einrichtungen oder Schlafplätze anzusteuern. Man wolle keinen Elendstourismus machen, sagt Sally Ollech. Die 30-Jährige ist Mitgründerin des Projekts 'Querstadtein'. Das Konzept kommt bei den Teilnehmern der Stadtführung gut an. Fast alle sind Berliner, die ihre Stadt einmal anders kennenlernen möchten.
Am Ende der Tour beantwortet Voss noch Fragen. Eine lautet: Wie soll man umgehen mit Obdachlosen im Alltag? 'Das Wichtigste ist, dass man überhaupt mit ihnen umgeht. Das sind Menschen, nicht Müll, der auf der Straße rumliegt und irgendwann weggekehrt wird.' Also nicht ignorieren, sondern auch mal hinschauen, lächeln, achtsam und freundlich sein. Altkleider und Bettwäsche nicht in den Container werfen, sondern an soziale Einrichtungen spenden, Pfandflaschen nicht in den Mülleimer schmeißen, sondern daneben stellen. Kleine Gesten, die schon ein bisschen helfen können.