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Überraschendes Urteil

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Jubelnde Anhänger begrüßten den Kreml-kritischen Aktivisten Nawany vor dem Gerichtsgebäude in Kirow. Der Putin-Kritiker muss vorläufig nicht ins Gefängnis.

Der Auftritt wirkte wie ein Freudenfest, auch wenn alle Beteiligten wohl ahnten, dass die Freude nicht lange dauern dürfte. Einen Tag nach seiner Verurteilung zu fünf Jahren Lagerhaft wurde Alexej Nawalny überraschend freigelassen - wenn auch nur vorläufig, bis das Urteil rechtskräftig ist. Jubelnde Anhänger begrüßten den Kreml-kritischen Aktivisten vor dem Gerichtsgebäude in Kirow, jemand überreichte ihm zur Begrüßung einen Teller mit Bliny, russischen Pfankuchen - eine Anspielung auf den Namen des Richters Sergej Blinow. Als er am Morgen im Untersuchungsgefängnis der Stadt geweckt wurde und man ihm sagte, es gehe wieder ins Gericht, da habe er gedacht, eine andere Verhandlung sei gemeint. Die Unterschlagung von Holz, wegen derer er gestern verurteilt worden war, war nur eines von vier Ermittlungsverfahren, die gegen den Anti-Korruptions-Aktivisten laufen. In einem weiteren Fall etwa wirft die Staatsanwaltschaft ihm vor, gemeinsam mit seinem Bruder die russische Post betrogen zu haben.



Es seien keine Gründe für eine Haft gegeben, hieß es, Nawalny müsse frei gelassen werden.

Nach dem Urteil war Nawalny am Donnerstag in ein Untersuchungsgefängnis gebracht worden. Wenige Stunden später legte die Staatsanwaltschaft Haftbeschwerde ein - ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. Es seien keine Gründe für eine Haft gegeben, hieß es, Nawalny müsse frei gelassen werden, bis das Urteil rechtskräftig ist. Das gleiche gilt für Pjotr Ofizerow, als dessen einstiger Geschäftspartner im Holzhandel mit Nawalny auf der Anklagebank gesessen hatte.

Dass das Gericht am Freitag dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattgegeben hat, hängt mit Verfahrensregeln zusammen, ändert jedoch nichts am Urteil. Solange die Verurteilten keine Gefahr für die Gesellschaft darstellen oder man befürchten muss, dass sie fliehen, bleiben sie in Freiheit, bis das Urteil rechtskräftig ist. Sofern sie nicht in Berufung gehen, tritt es zehn Tage nach Verkündung in Kraft.

Damit eröffnet sich für Nawalny die Möglichkeit, an den Wahlen zum Moskauer Bürgermeister am 8. September teilzunehmen. Solange die Berufung läuft, gilt er nicht als vorbestraft und darf für politische Ämter kandidieren. Theoretisch bestünde die Möglichkeit, dass er dem Straflager doch noch entkommen könnte: Bis zum 28. Juli hat Nawalny Zeit, Berufung einzulegen. Das Gericht muss innerhalb von 30 Tagen über den Antrag entscheiden - dann ist es bereits Ende August, zehn Tage vor den Wahlen. Fällt die Entscheidung positiv aus, muss Nawalny noch die Wahl gewinnen. Dann greift die Immunität - ein Hürdenlauf mit vielen Unsicherheiten, bei dem der Oppositionelle jederzeit aus dem Rennen genommen werden kann.

Am Freitag meldete sich auch der amtierende Bürgermeister Sergej Sobjanin zu Wort, gegen den Nawalny antritt. Er rief den Konkurrenten dazu auf, seine Ambitionen nicht aufzugeben, bis das Urteil gegen ihn Rechtskräftig ist. "Ich finde es nicht richtig, wenn irgendwelche Kandidaturen zurückgezogen werden", sagte er der Nachrichtenagentur Interfax. Sobjanins generöse Geste dürfte allerdings nicht ganz uneigennützig sein. Ohne Nawalnys Teilnahme wären die Wahlen zum Stadtoberhaupt offensichtlich zu einer Farce geworden. Sobjanin ist selbst nicht gewählt. Er wurde 2010 vom damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedjew für das Amt vorgeschlagen und vom Stadtparlament bestätigt, nachdem dieser seinen Vorgänger Jurij Luschkow entlassen hatte. Anfang Juni hatte Sobjanin seinen Rücktritt angekündigt, um sich bei Neuwahlen dem Votum der Moskauer zu stellen. 

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