Wenn es nach der Wahl keine klare Mehrheit gibt, kommt es bei der Regierungsbildung auf den Präsidenten an.
Am Abend des 22. September werden wir wissen, wie die Deutschen gewählt haben. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass wir auch wissen werden, wer der nächste Bundeskanzler sein wird. Gut möglich, dass weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün über eine Kanzler-Mehrheit verfügen. Kommt es dann zu einer Regierung Merkel/Trittin, obwohl die Grünen das so vehement ausgeschlossen haben wie die SPD ein Regierungsexperiment mit den Linken? Hätten Philipp Rösler und Rainer Brüderle genügend Autorität, um die Liberalen in Koalitionsverhandlungen mit Sigmar Gabriel und Claudia Roth zu führen? Gewiss, eine große Koalition geht immer, könnte man meinen. Was aber, wenn sich zu viele Sozialdemokraten daran erinnern, dass ihnen die letzte Koalition mit Angela Merkel ein Wahlergebnis auf einem Niveau wie in der späten Weimarer Republik eingebracht hat? Dann könnte es auf eine Person ankommen, die bisher niemand auf der Rechnung hat: auf Joachim Gauck, den Bundespräsidenten.
Auch wenn er sonst nicht so viel mitreden darf, bei der bevorstehenden Bundestagswahl könnte Joachim Gauck das Zünglein an der Waage sein.
Unklare Mehrheitsverhältnisse im Bundestag hätten vermutlich Monate des Verhandelns und Taktierens zur Folge. Im Durchschnitt dauert die Regierungsbildung im Bund 37 Tage. Doch das ändert sich, wenn Mehrheiten erst wachsen müssen. Sollte sich die SPD einer großen Koalition bereits in den Sondierungen entziehen, entsteht eine in Deutschland bisher nicht gekannte Lage politischer Instabilität und Unsicherheit. Die bisherige Bundesregierung bliebe nach der Konstituierung des 18. Deutschen Bundestags auf Ersuchen des Bundespräsidenten geschäftsführend im Amt - zeitlich unbegrenzt.
Jetzt schlägt die Stunde des Bundespräsidenten. Das Staatsoberhaupt spielt im deutschen Verfassungssystem nur so lange keine eigenständige politische Rolle, wie stabile Mehrheiten für eine Regierung vorhanden sind. Seine harte Reservemacht findet sich in Artikel 63 des Grundgesetzes. Er hat das Vorschlagsrecht für die Kanzlerwahl im ersten Wahlgang. Er ist verfassungsrechtlich weder personell noch zeitlich an den namentlichen Kanzlervorschlag des Bundestags gebunden.
Nach weiteren erfolglosen Wahlgängen ohne absolute Mehrheit kann der Bundespräsident entscheiden, ob er einen mit einfacher Mehrheit gewählten Minderheitskanzler benennt oder den Bundestag auflöst. Bundespräsident Lübke hatte im Umfeld der Wahl von 1965 bei den Parteivorsitzenden schriftlich sein unabhängiges Vorschlagsrecht für den ersten Wahlgang angemahnt, da er mit undurchsichtigen Koalitionsmöglichkeiten nach der Bundestagswahl rechnete und eine große Koalition favorisierte. Auch Bundespräsident Herzog spielte mit dem Gedanken, sein Vorschlagsrecht 1998 offensiv für einen unverbrauchten Alternativkandidaten zu nutzen, falls eine von der PDS geduldete rot-grüne Mehrheit zustande gekommen wäre.
In der jetzigen Patt-Republik mit einem asymmetrischen changierenden Sechs-Parteien-System wachsen dem Bundespräsidenten als Ausweg-Stifter somit ganz neue Möglichkeiten zu. In der Verfassungspraxis kann bald schon das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten eine eigenständige Bedeutung gewinnen. Er wird nur einen 'Kanzlerkandidaten' vorschlagen, bei dem er durch nicht öffentliche Vorsondierungen sicher ist, dass er eine Mehrheit organisieren kann. Der Kandidat braucht keinen Sitz im Bundestag, und er muss keinesfalls der stärksten Fraktion angehören. Nur innerhalb einer Koalition hat bislang die stärkste Fraktion stets den Anspruch erhoben, den Kanzler zu stellen. Doch auch das ist nur Konvention, kein Verfassungsrecht. Die Kanzlerwahl findet geheim statt, was viele Optionen zulässt. Merkel gilt als Kanzlerpräsidentin, weil sie in vielen wichtigen Entscheidungen ihre Kanzlermehrheit deutlich erweitert hat - mit Zustimmung von SPD und Grünen. In präsidialer Manier hat Merkel ihre Partei programmatisch weitgehend entkernt, so dass auch programmatisch eine Experten-Regierung denkbar wäre. Auf die Finanzkrise würde dann auch Deutschland mit einer Allparteien-Regierung antworten.
Zwei weitere Szenarien sind denkbar - immer vorausgesetzt, dass eine große Koalition scheitert. Zum einen: Nach wochenlangen Sondierungen und medialem Druck auf die Spitzenakteure werden doch noch lagerübergreifende Koalitionen zwischen zwei und mehr Parteien möglich. Die Autorität des Bundespräsidenten entlastet die Parteispitzen von ihren einstigen Koalitionsversprechen. Auf sein Drängen hin geben sich Horst Seehofer und Jürgen Trittin (oder Rainer Brüderle und Claudia Roth) über einem Verhandlungstisch doch noch die Hand. Koalitionslotterien verflüssigen ohnehin die Lagersehnsucht der Parteistrategen. Die Koalitionsvarianten sind zahlreich, wie sich in den Bundesländern in aller Farbenpracht abbildet. Koalitionspartner müssen keine Freunde sein, aber sie brauchen gegenseitiges Vertrauen, Verlässlichkeit, Wertschätzung, Integrität, Respekt. Insofern gründet so ein Koalitions-Kontext nicht primär auf gemeinsamen Interessen und Ideen, sondern auf Personen, die sich trauen können und deshalb eine gemeinsame politische Zukunft anstreben. Dass häufig eine gegengerichtete Mehrheit des Bundesrats vorliegt, gehört zum Alltag des Regierens in Deutschland. Davon hing noch nie eine konkrete Koalitionsbildung ab.
Die letzte Option ist eine Minderheitsregierung unter Führung der SPD. Steinbrück wählen und Gabriel bekommen? Steinbrück hat eine Tolerierung durch die Linke für sich selbst ausgeschlossen, nicht jedoch für den Parteivorsitzenden. Für eine Minderheitsregierung müsste gewissermaßen der Bundespräsident die Schirmherrschaft übernehmen. Ob er eine Minderheitsregierung ernennt oder Neuwahlen ansetzt, ist einzig und allein seine Entscheidung. Gabriel könnte von der Linken toleriert, aber nicht mitgewählt werden (Enthaltung in einem Wahlgang mit einfacher Mehrheit). Es käme einer kommunikativen Meisterleistung gleich, so eine Minderheitsregierung als Ausweg aus einer Regierungskrise zu präsentieren, obwohl die Bundes-SPD eine Zusammenarbeit mit den Linken ausgeschlossen hat. Gabriel müsste in so einem Modell präsidial ad hoc Themen-Mehrheiten im parlamentarischen System organisieren. In Düsseldorf, mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, funktionierte dies zwei Jahre lang. Im Bund könnte das frühzeitiger beendet sein. Über eine staatstragend-fingierte Vertrauensfrage könnte die SPD den Bundestag vorzeitig auflösen lassen, Neuwahlen erzwingen und aus dem Kanzleramt heraus Wahlkampf betreiben. Die SPD ginge mit Sicherheit aus so einer Konstellation stärker hervor als nach einer Regierungsbeteiligung in einer großen Koalition.
Am Abend des 22. September werden wir wissen, wie die Deutschen gewählt haben. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass wir auch wissen werden, wer der nächste Bundeskanzler sein wird. Gut möglich, dass weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün über eine Kanzler-Mehrheit verfügen. Kommt es dann zu einer Regierung Merkel/Trittin, obwohl die Grünen das so vehement ausgeschlossen haben wie die SPD ein Regierungsexperiment mit den Linken? Hätten Philipp Rösler und Rainer Brüderle genügend Autorität, um die Liberalen in Koalitionsverhandlungen mit Sigmar Gabriel und Claudia Roth zu führen? Gewiss, eine große Koalition geht immer, könnte man meinen. Was aber, wenn sich zu viele Sozialdemokraten daran erinnern, dass ihnen die letzte Koalition mit Angela Merkel ein Wahlergebnis auf einem Niveau wie in der späten Weimarer Republik eingebracht hat? Dann könnte es auf eine Person ankommen, die bisher niemand auf der Rechnung hat: auf Joachim Gauck, den Bundespräsidenten.
Auch wenn er sonst nicht so viel mitreden darf, bei der bevorstehenden Bundestagswahl könnte Joachim Gauck das Zünglein an der Waage sein.
Unklare Mehrheitsverhältnisse im Bundestag hätten vermutlich Monate des Verhandelns und Taktierens zur Folge. Im Durchschnitt dauert die Regierungsbildung im Bund 37 Tage. Doch das ändert sich, wenn Mehrheiten erst wachsen müssen. Sollte sich die SPD einer großen Koalition bereits in den Sondierungen entziehen, entsteht eine in Deutschland bisher nicht gekannte Lage politischer Instabilität und Unsicherheit. Die bisherige Bundesregierung bliebe nach der Konstituierung des 18. Deutschen Bundestags auf Ersuchen des Bundespräsidenten geschäftsführend im Amt - zeitlich unbegrenzt.
Jetzt schlägt die Stunde des Bundespräsidenten. Das Staatsoberhaupt spielt im deutschen Verfassungssystem nur so lange keine eigenständige politische Rolle, wie stabile Mehrheiten für eine Regierung vorhanden sind. Seine harte Reservemacht findet sich in Artikel 63 des Grundgesetzes. Er hat das Vorschlagsrecht für die Kanzlerwahl im ersten Wahlgang. Er ist verfassungsrechtlich weder personell noch zeitlich an den namentlichen Kanzlervorschlag des Bundestags gebunden.
Nach weiteren erfolglosen Wahlgängen ohne absolute Mehrheit kann der Bundespräsident entscheiden, ob er einen mit einfacher Mehrheit gewählten Minderheitskanzler benennt oder den Bundestag auflöst. Bundespräsident Lübke hatte im Umfeld der Wahl von 1965 bei den Parteivorsitzenden schriftlich sein unabhängiges Vorschlagsrecht für den ersten Wahlgang angemahnt, da er mit undurchsichtigen Koalitionsmöglichkeiten nach der Bundestagswahl rechnete und eine große Koalition favorisierte. Auch Bundespräsident Herzog spielte mit dem Gedanken, sein Vorschlagsrecht 1998 offensiv für einen unverbrauchten Alternativkandidaten zu nutzen, falls eine von der PDS geduldete rot-grüne Mehrheit zustande gekommen wäre.
In der jetzigen Patt-Republik mit einem asymmetrischen changierenden Sechs-Parteien-System wachsen dem Bundespräsidenten als Ausweg-Stifter somit ganz neue Möglichkeiten zu. In der Verfassungspraxis kann bald schon das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten eine eigenständige Bedeutung gewinnen. Er wird nur einen 'Kanzlerkandidaten' vorschlagen, bei dem er durch nicht öffentliche Vorsondierungen sicher ist, dass er eine Mehrheit organisieren kann. Der Kandidat braucht keinen Sitz im Bundestag, und er muss keinesfalls der stärksten Fraktion angehören. Nur innerhalb einer Koalition hat bislang die stärkste Fraktion stets den Anspruch erhoben, den Kanzler zu stellen. Doch auch das ist nur Konvention, kein Verfassungsrecht. Die Kanzlerwahl findet geheim statt, was viele Optionen zulässt. Merkel gilt als Kanzlerpräsidentin, weil sie in vielen wichtigen Entscheidungen ihre Kanzlermehrheit deutlich erweitert hat - mit Zustimmung von SPD und Grünen. In präsidialer Manier hat Merkel ihre Partei programmatisch weitgehend entkernt, so dass auch programmatisch eine Experten-Regierung denkbar wäre. Auf die Finanzkrise würde dann auch Deutschland mit einer Allparteien-Regierung antworten.
Zwei weitere Szenarien sind denkbar - immer vorausgesetzt, dass eine große Koalition scheitert. Zum einen: Nach wochenlangen Sondierungen und medialem Druck auf die Spitzenakteure werden doch noch lagerübergreifende Koalitionen zwischen zwei und mehr Parteien möglich. Die Autorität des Bundespräsidenten entlastet die Parteispitzen von ihren einstigen Koalitionsversprechen. Auf sein Drängen hin geben sich Horst Seehofer und Jürgen Trittin (oder Rainer Brüderle und Claudia Roth) über einem Verhandlungstisch doch noch die Hand. Koalitionslotterien verflüssigen ohnehin die Lagersehnsucht der Parteistrategen. Die Koalitionsvarianten sind zahlreich, wie sich in den Bundesländern in aller Farbenpracht abbildet. Koalitionspartner müssen keine Freunde sein, aber sie brauchen gegenseitiges Vertrauen, Verlässlichkeit, Wertschätzung, Integrität, Respekt. Insofern gründet so ein Koalitions-Kontext nicht primär auf gemeinsamen Interessen und Ideen, sondern auf Personen, die sich trauen können und deshalb eine gemeinsame politische Zukunft anstreben. Dass häufig eine gegengerichtete Mehrheit des Bundesrats vorliegt, gehört zum Alltag des Regierens in Deutschland. Davon hing noch nie eine konkrete Koalitionsbildung ab.
Die letzte Option ist eine Minderheitsregierung unter Führung der SPD. Steinbrück wählen und Gabriel bekommen? Steinbrück hat eine Tolerierung durch die Linke für sich selbst ausgeschlossen, nicht jedoch für den Parteivorsitzenden. Für eine Minderheitsregierung müsste gewissermaßen der Bundespräsident die Schirmherrschaft übernehmen. Ob er eine Minderheitsregierung ernennt oder Neuwahlen ansetzt, ist einzig und allein seine Entscheidung. Gabriel könnte von der Linken toleriert, aber nicht mitgewählt werden (Enthaltung in einem Wahlgang mit einfacher Mehrheit). Es käme einer kommunikativen Meisterleistung gleich, so eine Minderheitsregierung als Ausweg aus einer Regierungskrise zu präsentieren, obwohl die Bundes-SPD eine Zusammenarbeit mit den Linken ausgeschlossen hat. Gabriel müsste in so einem Modell präsidial ad hoc Themen-Mehrheiten im parlamentarischen System organisieren. In Düsseldorf, mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, funktionierte dies zwei Jahre lang. Im Bund könnte das frühzeitiger beendet sein. Über eine staatstragend-fingierte Vertrauensfrage könnte die SPD den Bundestag vorzeitig auflösen lassen, Neuwahlen erzwingen und aus dem Kanzleramt heraus Wahlkampf betreiben. Die SPD ginge mit Sicherheit aus so einer Konstellation stärker hervor als nach einer Regierungsbeteiligung in einer großen Koalition.