Innovativ und hypeverdächtig: Das Londoner Duo AlunaGeorge führt eine Bande von Pop-Erneuerern an.
Man will sie eigentlich nicht mehr hören, die Klagen darüber, wie trostlos es im deutschen Pop aussieht. All den Selbsthass, die Allgemeinplätze, die man mit Hinweisen auf bestimmte, besonders produktive Szenen ja leicht widerlegen kann: auf Techno, Krautrock und Ähnliches. Wenn man aber in diesen Tagen nach England blickt, kann man trotzdem neidisch werden. Denn der englische Pop führt im Sommer 2013 wieder einmal vor, was er - und nur er! - so gut kann. Nämlich aus einem enorm vitalen Underground Mainstream-Acts zu gebären, auf die sich fast alle einigen können. Und denen man vom ersten Takt an anhört, dass sie nur von der Insel kommen können.
Mods, Skinheads, Punks waren lange von proletarischem Selbstbewusstsein gespeist.
Etwa AlunaGeorge, einem der heißesten Kandidaten für den Hype des Jahres. Das Londoner Duo, bestehend aus dem milchgesichtigen Beats-Programmierer George Reid und der glamourösen Sängerin Aluna Francis, veröffentlicht nun sein Debütalbum "Body Music" - und folgt damit scheinbar einer Mode, die nicht mehr ganz frisch ist: der popkulturellen Aufwertung der R"n"B-Musik. Stand die noch vor wenigen Jahren für totproduzierten Schmuse-Soulsound und versatzstückhafte Intimlyrik (weshalb sie Pflichtübung in jeder TV-Castingshow war), wurde sie von US-Künstlern wie Frank Ocean, The Weeknd oder Drake zuletzt gegen den Strich gebürstet. AlunaGeorge partizipieren an diesem Trend - aber nur insofern, als Sängerin Aluna Francis mit fast unheimlich süßer Kinderstimme von Liebesdingen singt ("Your body is like music, I wanna play it again"). Mit dem Distinktionsgebaren der amerikanischen Acts, die der schmachtenden Harmlosigkeit des Mainstream-R"n"B düstere Sounds und irritierende Texte entgegensetzen, hat das Londoner Duo nichts am Hut. Ihre Musik ist gut gelaunt wie ein Kindergeburtstag im Burgerrestaurant.
Das eigentlich Interessante aber ist, was mit dem Genre R"n"B beim Transfer ins System des englischen Pop passiert. Ein wichtiges Prinzip, das hier gilt: Es wird besonders viel Wert auf die Produktion gelegt, auf Klangdesign, die Arbeitsweise im Studio. Dafür gibt es geschichtliche Gründe, die unter anderem in der engen Anbindung Großbritanniens an die Karibik liegen. Schon in den 60er-Jahren wurde basslastiger Pop aus Jamaika in die Metropolen des Empire importiert und bildete in diesem urbanen Treibhaus schnell viele neue, später größtenteils elektronische Stile: vom britischen Dub über Hip-Hop-artige Spielarten wie Jungle und Grime, schnellen Drum"n"Bass oder 2Step bis hin zum dystopisch-futuristischen Gewaber von Dubstep oder dem weltmusikalischen UK Funky. Für Außenstehende ist diese popkulturell einzigartige Vielfalt der Szenen kaum zu überblicken, ihre Sukzession, Abgrenzungen und Bezüge kaum nachvollziehbar. Was alle gemein haben, ist neben der Konzentration auf den Bass die Vorliebe für gebrochene, ungerade Beats, generell für eine quirlige, nervöse Produktion. Das führt dazu, dass dieser Sound für kontinentale Hörer oft erschreckend abstrakt ist - während er in England tatsächlich die Musik der Straße und Radiostationen ist. Das alles muss man vorausschicken, um die Musik von AlunaGeorge zu erklären. Denn bei aller Gefälligkeit (die dazu führen wird, dass das Duo nicht nur in Großbritannien weit oben in den Charts landen wird) fließen hier doch viele wichtige Innovationen der britischen elektronischen Musik der letzten Jahre ein: "Your Drums" ist eine freundliche Version von Dubstep, unter dem Hit "Attracting Flies" und dem hyperaktiven "Lost and Found" peitscht ein Beat, der an den hüpfenden 2Step erinnert. Das genial zerhackte "Diver", das an das stotternde Hängenbleiben einer kaputten CD erinnert, schließt an die abstrakten Höhenflüge des Genres Clicks & Cuts an. Leicht könnte der Eindruck entstehen, dass sich hier zwei Musiker allzu streberhaft in die jüngere Musikhistorie einschreiben wollten. Das aber genau ist nicht der Fall: George Reids Produktion ist unangestrengt. Es wirkt so, als habe er all die Verweise gar nicht bewusst eingewoben - sondern als seien sie das natürliche Ergebnis einer britischen Musiksozialisation.
Der euphorisierendste Song von AlunaGeorge findet sich jedoch nicht auf ihrer Debütplatte. Die Hymne "White Noise" tauchte auf dem vor wenigen Wochen erschienenen Album "Settle" auf, dem Erstling der anderen Hype-Kandidaten Disclosure. Auch sie sind ein Duo: die zwei Anfang-20-jährigen und ebenfalls etwas mausgesichtigen Brüder Guy und Howard Lawrence. "White Noise", bei dem Sängerin Aluna Francis natürlich amouröse Angelegenheiten verhandelt, besticht durch eine derart fröhlich gequietschte Synthesizer-Hookline über hoppelnden House-Beats, dass man sie nur als unmittelbare Aufforderung zum Tanz verstehen kann. Die betonte Abgrenzung von der Düsternis, die lange in den dunklen Ecken des Dancefloor herrschte, zeichnet auch die übrigen Stücke des Albums aus.
Die Brüder Lawrence wiederbeleben damit UK Garage, die vor allem in den 90er-Jahren beliebte englische Variante der amerikanischen House Music. Während diese ihre Energie aus der Kombination von Monotonie und Wärme zieht, klingt UK Garage typisch englisch: hyperaktiv, stolpernd. Gemacht für eine riesige Halle voller Raver. Was Disclosure aber so ungewöhnlich macht: Ihr vertrackter wie sensibler, nostalgischer wie aktueller Sound begeistert nicht nur DJs weltweit. Das Album stieg bis auf Platz eins der britischen Charts.
Das deutet auf ein weiteres Spezifikum britischer Pop-Musik hin: das sehr entspannten Verhältnis zum Thema Popularität. Während es bei uns eine strikte Zweiklassengesellschaft in Sachen Pop gibt - anspruchsvolle Musik auf kleinen Labels gegen dröge Massenware - sind in England die Grenzen durchlässig. Durchaus avancierter Pop ist von allgemeinem Interesse, was man schon daran sieht, dass Fragen zu Underground-nahen Bands sogar in Quizsendungen auftauchen oder die Fans von Manchester United ihren Schlachtgesang zur Melodie der düster-erhabenen Joy Division-Hymne "Love Will Tear Us Apart" anstimmen. Auch hierfür gibt es einen historischen Grund: Mods, Skinheads, Punks, zum Teil auch noch die Manchester-Raver oder Brit-Popper wie Oasis, also die mitunter wichtigsten Szenen, waren lange von proletarischem Selbstbewusstsein gespeist. Auch wenn es die Arbeiterkultur in dieser Form längst nicht mehr gibt, die breite Wertschätzung von Pop als "unserem Ding" hat sich in England gehalten.
Dass auf diesem fruchtbaren Boden regelmäßig Künstler gedeihen, die die musikalischen Innovationen der kleinen Szenen an die Spitze der Charts mitnehmen, die zugleich historisch informiert sind und doch ganz und gar Produkt der Gegenwart, wie AlunaGeorge und Disclosure gerade oder Mike Skinner alias The Streets vor wenigen Jahren, das ist so selbstverständlich wie großartig. Großartig vor allem für den Rest der Welt, der von britischer Musik in der Regel nichts mitbekommt. Und auf diese Weise kurz in ein aufregendes musikalisches Paralleluniversum tauchen darf.
Man will sie eigentlich nicht mehr hören, die Klagen darüber, wie trostlos es im deutschen Pop aussieht. All den Selbsthass, die Allgemeinplätze, die man mit Hinweisen auf bestimmte, besonders produktive Szenen ja leicht widerlegen kann: auf Techno, Krautrock und Ähnliches. Wenn man aber in diesen Tagen nach England blickt, kann man trotzdem neidisch werden. Denn der englische Pop führt im Sommer 2013 wieder einmal vor, was er - und nur er! - so gut kann. Nämlich aus einem enorm vitalen Underground Mainstream-Acts zu gebären, auf die sich fast alle einigen können. Und denen man vom ersten Takt an anhört, dass sie nur von der Insel kommen können.
Mods, Skinheads, Punks waren lange von proletarischem Selbstbewusstsein gespeist.
Etwa AlunaGeorge, einem der heißesten Kandidaten für den Hype des Jahres. Das Londoner Duo, bestehend aus dem milchgesichtigen Beats-Programmierer George Reid und der glamourösen Sängerin Aluna Francis, veröffentlicht nun sein Debütalbum "Body Music" - und folgt damit scheinbar einer Mode, die nicht mehr ganz frisch ist: der popkulturellen Aufwertung der R"n"B-Musik. Stand die noch vor wenigen Jahren für totproduzierten Schmuse-Soulsound und versatzstückhafte Intimlyrik (weshalb sie Pflichtübung in jeder TV-Castingshow war), wurde sie von US-Künstlern wie Frank Ocean, The Weeknd oder Drake zuletzt gegen den Strich gebürstet. AlunaGeorge partizipieren an diesem Trend - aber nur insofern, als Sängerin Aluna Francis mit fast unheimlich süßer Kinderstimme von Liebesdingen singt ("Your body is like music, I wanna play it again"). Mit dem Distinktionsgebaren der amerikanischen Acts, die der schmachtenden Harmlosigkeit des Mainstream-R"n"B düstere Sounds und irritierende Texte entgegensetzen, hat das Londoner Duo nichts am Hut. Ihre Musik ist gut gelaunt wie ein Kindergeburtstag im Burgerrestaurant.
Das eigentlich Interessante aber ist, was mit dem Genre R"n"B beim Transfer ins System des englischen Pop passiert. Ein wichtiges Prinzip, das hier gilt: Es wird besonders viel Wert auf die Produktion gelegt, auf Klangdesign, die Arbeitsweise im Studio. Dafür gibt es geschichtliche Gründe, die unter anderem in der engen Anbindung Großbritanniens an die Karibik liegen. Schon in den 60er-Jahren wurde basslastiger Pop aus Jamaika in die Metropolen des Empire importiert und bildete in diesem urbanen Treibhaus schnell viele neue, später größtenteils elektronische Stile: vom britischen Dub über Hip-Hop-artige Spielarten wie Jungle und Grime, schnellen Drum"n"Bass oder 2Step bis hin zum dystopisch-futuristischen Gewaber von Dubstep oder dem weltmusikalischen UK Funky. Für Außenstehende ist diese popkulturell einzigartige Vielfalt der Szenen kaum zu überblicken, ihre Sukzession, Abgrenzungen und Bezüge kaum nachvollziehbar. Was alle gemein haben, ist neben der Konzentration auf den Bass die Vorliebe für gebrochene, ungerade Beats, generell für eine quirlige, nervöse Produktion. Das führt dazu, dass dieser Sound für kontinentale Hörer oft erschreckend abstrakt ist - während er in England tatsächlich die Musik der Straße und Radiostationen ist. Das alles muss man vorausschicken, um die Musik von AlunaGeorge zu erklären. Denn bei aller Gefälligkeit (die dazu führen wird, dass das Duo nicht nur in Großbritannien weit oben in den Charts landen wird) fließen hier doch viele wichtige Innovationen der britischen elektronischen Musik der letzten Jahre ein: "Your Drums" ist eine freundliche Version von Dubstep, unter dem Hit "Attracting Flies" und dem hyperaktiven "Lost and Found" peitscht ein Beat, der an den hüpfenden 2Step erinnert. Das genial zerhackte "Diver", das an das stotternde Hängenbleiben einer kaputten CD erinnert, schließt an die abstrakten Höhenflüge des Genres Clicks & Cuts an. Leicht könnte der Eindruck entstehen, dass sich hier zwei Musiker allzu streberhaft in die jüngere Musikhistorie einschreiben wollten. Das aber genau ist nicht der Fall: George Reids Produktion ist unangestrengt. Es wirkt so, als habe er all die Verweise gar nicht bewusst eingewoben - sondern als seien sie das natürliche Ergebnis einer britischen Musiksozialisation.
Der euphorisierendste Song von AlunaGeorge findet sich jedoch nicht auf ihrer Debütplatte. Die Hymne "White Noise" tauchte auf dem vor wenigen Wochen erschienenen Album "Settle" auf, dem Erstling der anderen Hype-Kandidaten Disclosure. Auch sie sind ein Duo: die zwei Anfang-20-jährigen und ebenfalls etwas mausgesichtigen Brüder Guy und Howard Lawrence. "White Noise", bei dem Sängerin Aluna Francis natürlich amouröse Angelegenheiten verhandelt, besticht durch eine derart fröhlich gequietschte Synthesizer-Hookline über hoppelnden House-Beats, dass man sie nur als unmittelbare Aufforderung zum Tanz verstehen kann. Die betonte Abgrenzung von der Düsternis, die lange in den dunklen Ecken des Dancefloor herrschte, zeichnet auch die übrigen Stücke des Albums aus.
Die Brüder Lawrence wiederbeleben damit UK Garage, die vor allem in den 90er-Jahren beliebte englische Variante der amerikanischen House Music. Während diese ihre Energie aus der Kombination von Monotonie und Wärme zieht, klingt UK Garage typisch englisch: hyperaktiv, stolpernd. Gemacht für eine riesige Halle voller Raver. Was Disclosure aber so ungewöhnlich macht: Ihr vertrackter wie sensibler, nostalgischer wie aktueller Sound begeistert nicht nur DJs weltweit. Das Album stieg bis auf Platz eins der britischen Charts.
Das deutet auf ein weiteres Spezifikum britischer Pop-Musik hin: das sehr entspannten Verhältnis zum Thema Popularität. Während es bei uns eine strikte Zweiklassengesellschaft in Sachen Pop gibt - anspruchsvolle Musik auf kleinen Labels gegen dröge Massenware - sind in England die Grenzen durchlässig. Durchaus avancierter Pop ist von allgemeinem Interesse, was man schon daran sieht, dass Fragen zu Underground-nahen Bands sogar in Quizsendungen auftauchen oder die Fans von Manchester United ihren Schlachtgesang zur Melodie der düster-erhabenen Joy Division-Hymne "Love Will Tear Us Apart" anstimmen. Auch hierfür gibt es einen historischen Grund: Mods, Skinheads, Punks, zum Teil auch noch die Manchester-Raver oder Brit-Popper wie Oasis, also die mitunter wichtigsten Szenen, waren lange von proletarischem Selbstbewusstsein gespeist. Auch wenn es die Arbeiterkultur in dieser Form längst nicht mehr gibt, die breite Wertschätzung von Pop als "unserem Ding" hat sich in England gehalten.
Dass auf diesem fruchtbaren Boden regelmäßig Künstler gedeihen, die die musikalischen Innovationen der kleinen Szenen an die Spitze der Charts mitnehmen, die zugleich historisch informiert sind und doch ganz und gar Produkt der Gegenwart, wie AlunaGeorge und Disclosure gerade oder Mike Skinner alias The Streets vor wenigen Jahren, das ist so selbstverständlich wie großartig. Großartig vor allem für den Rest der Welt, der von britischer Musik in der Regel nichts mitbekommt. Und auf diese Weise kurz in ein aufregendes musikalisches Paralleluniversum tauchen darf.