Eine Wiederentdeckung: Ernst Haffners Berlin-Roman 'Blutsbrüder' aus dem Jahr 1932
An seinem zwanzigsten Geburtstag wird Willi Kludas geohrfeigt. Er will das nicht auf sich sitzen lassen. Die Demütigungsroutinen in der Erziehungsanstalt - Fürsorge durch Erniedrigung - haben seinen Stolz noch nicht brechen können. Rache wird zum Vorschein der Freiheit. Gemeinsam mit seinen besten Freunden lockt er den Verhasstesten der Erzieher in den nächtlichen Schlafsaal, wirft ihm ein Laken über und vermöbelt ihn. Klar, dass er nun türmen muss, nachts über die Mauer der Erziehungsanstalt, raus auf die Landstraße, rasch in den nächsten Ort, ein paar Zigaretten kaufen und dann rauf auf einen Güterwaggon. Willi will nach Berlin, da kennt er einen, der ihm helfen könnte.
Eine spannende, geschickt komponierte Geschichte aus der Elends- und Halbwelt Berlins
Doch es ist der falsche Zug, als es hell wird, ist Willi kurz vor Köln. Er muss wieder weg, wenn er nicht vor Hunger krepieren oder sich der Polizei stellen will. Zu seinem Glück trifft er Franz, einen älteren "Stromer aus Passion". Der weiß, wie einer schnell und ohne Geld nach Berlin kommt. Man muss nur unter einen D-Zug-Wagen und sich auf die Achsen hocken. Wer einschläft, fällt herunter und ist tot. Wer Pech hat, wird von einem hochgeschleuderten Schotterstein getroffen und ist tot.
Wenn die Kälte in die Knochen kriecht, wenn Arme und Beine erstarren, verliert man leicht den Halt. Willi aber riskiert es. Hat er denn eine Wahl? "Wenn sie dich jetzt schnappen, liegst du in einer Stunde auf irgendeiner Gefängnispritsche. Nicht gerade verlockend, aber... in einer Stunde kannst du auch schon, wenn sie dich hier nicht kriegen, ein zerfetzter Fleischklumpen sein." Die Schilderung dieses Abenteuers wird kein Leser so rasch wieder vergessen. Er hockt mit Willi auf den Achsen, friert mit ihm, zittert, fürchtet die Steine, hofft, dass der Zug anhalten möge oder doch lieber schneller rasen, damit es bald geschafft ist, aber doch lieber nicht so schnell, dann pfeift der Wind unerbittlich und Willi kann sich kaum noch halten.
Die Fahrt glückt, in Berlin findet Willi Anschluss an die Clique der Blutsbrüder, eine von Hunderten, in denen entlaufene Zöglinge, geprügelte Kinder, obdachlose Jugendliche unter der Führung eines "Bullen" ihr Überleben organisieren, das bisschen Essen, einen Platz zum Schlafen, etwas Wärme. Die Clique gibt Halt, aber nur um den Preis wachsender Gefahr zunehmender Verrohung. Im Grunde hockt Willi immer auf den Achsen unter einem Eisenbahnwagen: unerwünscht, ungesehen, ohne Wahl, auf der Flucht, in schneidendem Wind. Jeden Augenblick kann das Leben vorbei sein.
Der Roman über die Clique der Blutsbrüder, über Willi Kludas und die Schicksale seiner Kameraden, entwurzelter, von der Fürsorgebürokratie wie der Polizei verfolgter Jugendlicher, erschien 1932 unter dem Titel "Jugend auf der Landstraße Berlin" im noblen Verlag Bruno Cassirer. Unter den Nazis zu den "schädlichen und unerwünschten Büchern" gezählt, war der Roman seitdem, seit gut achtzig Jahren, weitgehend vergessen. Nur wenige Studien zur Literatur der Weimarer Republik verzeichneten den Titel. Im jungen Berliner Verlag für Popkultur und Urbanes, bei Metrolit, ist er jetzt mit einem Vorwort von Peter Graf wieder erschienen.
Über den Verfasser, Ernst Haffner, ist so gut wie nichts bekannt. Wir besitzen kein Foto, kennen nicht einmal die Lebensdaten. Recherchen in Archiven blieben ergebnislos. Siegfried Kracauer, der hellsichtigste Soziologe der Weimarer Republik, schrieb in einer sehr wohlwollenden, lobenden Rezension des Romans, Haffner habe sich "als Journalist lang zwischen Alexanderplatz und Schlesischem Bahnhof umhergetrieben". Seine Schilderungen beruhen also "auf eigener Anschauung". Der aufmerksame Leser Kracauer vermied die Authentizitätsfalle. Er dankte Haffner, dass dieser sich nicht "mit unzusammenhängenden Wirklichkeitsausschnitten" begnügt, sondern das Erlebte "auf den Nenner einer Fabel gebracht" habe, "die uns zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth führt".
Haffner erzählt eine spannende, geschickt komponierte, jederzeit gut zu verfilmende Geschichte aus der Elends- und Halbwelt Berlins. Dabei bedient er durchaus voyeuristische Lüste. Es spricht für ihn, dass er das weiß, dass er die Freude der höheren Schichten an exotisch anmutenden Geschichten über Sex und Kriminalität in Rechnung stellt. "Unterwelt ist Mode", schreibt er und spottet bitter über die Filme aus dem Milieu, mit "Edelganoven, die nur in Frack und Lack einbrechen gehen", mit "Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen".
Wann immer Haffner die Not der Jungen, ihren erzwungenen Zusammenhalt, ihre rohe Männlichkeit, Hunger, Verrat und Angst beschreibt, ist er weit entfernt davon, das Elend für den "Amüsiermob" aufzubereiten. Fast keusch beschreibt er eine Geburtstagsorgie, sechzehn Jungen und eine Prostituierte von "reichlich vierzig Jahren": "Nach einer Stunde hat sie ihre zehn Mark verdient ...Die Altarkerze beleuchtet ein trauriges Bild."
Wenn es Willi und seinen Freund Ludwig dann in die Stricherkneipen des Berliner Westens verschlägt - der Leser vermutet Christopher Isherwood in einer Ecke -, zahlt aber auch Haffner seinen Tribut ans Klischee. "Eine überhitzte Atmosphäre pervertierter Erotik. Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch. ...Begierden, müde der gebadeten und siebenmal gesalbten Körper, flackern nach der weniger sauberen, aber derberen Kost der Proletarierjungen." Nun gut, die Sätze sind der Lektüre zuzuschreiben, nicht der Beobachtung. So genau der Roman sonst das Bild der Stadt skizziert, so vage, bengalisch illuminiert bleibt er hier.
Ernst Haffner lässt die Blutsbrüder zu Ganoven werden, Willi und Ludwig aber entziehen sich der Gruppe, machen sich in der Neuköllner Ziethenstraße selbständig - immer in Furcht vor der Polizei. Sie kaufen den Leuten alte Schuhe ab, bessern diese aus, putzen und wienern sie und verkaufen sie an Händler. Das Geschäft läuft gut, bis sie verraten werden und Willi ins Gefängnis muss für die Rache an dem verhassten Erzieher, eine Tat, die er auch vor Gericht nicht bereut. Es kommt der Tag der Freilassung ins endlose, unbarmherzige Berlin. Willi und Ludwig sind zwei, die im "Elendsheer der Großstadtvagabunden" nicht untergegangen sind. Berlin 1932. Der Leser heute weiß, was vor ihnen liegt: das "Dritte Reich" und der Krieg.
Ernst Haffner: Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman. Metrolit Verlag, Berlin 2013. 264 Seiten, 19,99 Euro.
An seinem zwanzigsten Geburtstag wird Willi Kludas geohrfeigt. Er will das nicht auf sich sitzen lassen. Die Demütigungsroutinen in der Erziehungsanstalt - Fürsorge durch Erniedrigung - haben seinen Stolz noch nicht brechen können. Rache wird zum Vorschein der Freiheit. Gemeinsam mit seinen besten Freunden lockt er den Verhasstesten der Erzieher in den nächtlichen Schlafsaal, wirft ihm ein Laken über und vermöbelt ihn. Klar, dass er nun türmen muss, nachts über die Mauer der Erziehungsanstalt, raus auf die Landstraße, rasch in den nächsten Ort, ein paar Zigaretten kaufen und dann rauf auf einen Güterwaggon. Willi will nach Berlin, da kennt er einen, der ihm helfen könnte.
Eine spannende, geschickt komponierte Geschichte aus der Elends- und Halbwelt Berlins
Doch es ist der falsche Zug, als es hell wird, ist Willi kurz vor Köln. Er muss wieder weg, wenn er nicht vor Hunger krepieren oder sich der Polizei stellen will. Zu seinem Glück trifft er Franz, einen älteren "Stromer aus Passion". Der weiß, wie einer schnell und ohne Geld nach Berlin kommt. Man muss nur unter einen D-Zug-Wagen und sich auf die Achsen hocken. Wer einschläft, fällt herunter und ist tot. Wer Pech hat, wird von einem hochgeschleuderten Schotterstein getroffen und ist tot.
Wenn die Kälte in die Knochen kriecht, wenn Arme und Beine erstarren, verliert man leicht den Halt. Willi aber riskiert es. Hat er denn eine Wahl? "Wenn sie dich jetzt schnappen, liegst du in einer Stunde auf irgendeiner Gefängnispritsche. Nicht gerade verlockend, aber... in einer Stunde kannst du auch schon, wenn sie dich hier nicht kriegen, ein zerfetzter Fleischklumpen sein." Die Schilderung dieses Abenteuers wird kein Leser so rasch wieder vergessen. Er hockt mit Willi auf den Achsen, friert mit ihm, zittert, fürchtet die Steine, hofft, dass der Zug anhalten möge oder doch lieber schneller rasen, damit es bald geschafft ist, aber doch lieber nicht so schnell, dann pfeift der Wind unerbittlich und Willi kann sich kaum noch halten.
Die Fahrt glückt, in Berlin findet Willi Anschluss an die Clique der Blutsbrüder, eine von Hunderten, in denen entlaufene Zöglinge, geprügelte Kinder, obdachlose Jugendliche unter der Führung eines "Bullen" ihr Überleben organisieren, das bisschen Essen, einen Platz zum Schlafen, etwas Wärme. Die Clique gibt Halt, aber nur um den Preis wachsender Gefahr zunehmender Verrohung. Im Grunde hockt Willi immer auf den Achsen unter einem Eisenbahnwagen: unerwünscht, ungesehen, ohne Wahl, auf der Flucht, in schneidendem Wind. Jeden Augenblick kann das Leben vorbei sein.
Der Roman über die Clique der Blutsbrüder, über Willi Kludas und die Schicksale seiner Kameraden, entwurzelter, von der Fürsorgebürokratie wie der Polizei verfolgter Jugendlicher, erschien 1932 unter dem Titel "Jugend auf der Landstraße Berlin" im noblen Verlag Bruno Cassirer. Unter den Nazis zu den "schädlichen und unerwünschten Büchern" gezählt, war der Roman seitdem, seit gut achtzig Jahren, weitgehend vergessen. Nur wenige Studien zur Literatur der Weimarer Republik verzeichneten den Titel. Im jungen Berliner Verlag für Popkultur und Urbanes, bei Metrolit, ist er jetzt mit einem Vorwort von Peter Graf wieder erschienen.
Über den Verfasser, Ernst Haffner, ist so gut wie nichts bekannt. Wir besitzen kein Foto, kennen nicht einmal die Lebensdaten. Recherchen in Archiven blieben ergebnislos. Siegfried Kracauer, der hellsichtigste Soziologe der Weimarer Republik, schrieb in einer sehr wohlwollenden, lobenden Rezension des Romans, Haffner habe sich "als Journalist lang zwischen Alexanderplatz und Schlesischem Bahnhof umhergetrieben". Seine Schilderungen beruhen also "auf eigener Anschauung". Der aufmerksame Leser Kracauer vermied die Authentizitätsfalle. Er dankte Haffner, dass dieser sich nicht "mit unzusammenhängenden Wirklichkeitsausschnitten" begnügt, sondern das Erlebte "auf den Nenner einer Fabel gebracht" habe, "die uns zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth führt".
Haffner erzählt eine spannende, geschickt komponierte, jederzeit gut zu verfilmende Geschichte aus der Elends- und Halbwelt Berlins. Dabei bedient er durchaus voyeuristische Lüste. Es spricht für ihn, dass er das weiß, dass er die Freude der höheren Schichten an exotisch anmutenden Geschichten über Sex und Kriminalität in Rechnung stellt. "Unterwelt ist Mode", schreibt er und spottet bitter über die Filme aus dem Milieu, mit "Edelganoven, die nur in Frack und Lack einbrechen gehen", mit "Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen".
Wann immer Haffner die Not der Jungen, ihren erzwungenen Zusammenhalt, ihre rohe Männlichkeit, Hunger, Verrat und Angst beschreibt, ist er weit entfernt davon, das Elend für den "Amüsiermob" aufzubereiten. Fast keusch beschreibt er eine Geburtstagsorgie, sechzehn Jungen und eine Prostituierte von "reichlich vierzig Jahren": "Nach einer Stunde hat sie ihre zehn Mark verdient ...Die Altarkerze beleuchtet ein trauriges Bild."
Wenn es Willi und seinen Freund Ludwig dann in die Stricherkneipen des Berliner Westens verschlägt - der Leser vermutet Christopher Isherwood in einer Ecke -, zahlt aber auch Haffner seinen Tribut ans Klischee. "Eine überhitzte Atmosphäre pervertierter Erotik. Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch. ...Begierden, müde der gebadeten und siebenmal gesalbten Körper, flackern nach der weniger sauberen, aber derberen Kost der Proletarierjungen." Nun gut, die Sätze sind der Lektüre zuzuschreiben, nicht der Beobachtung. So genau der Roman sonst das Bild der Stadt skizziert, so vage, bengalisch illuminiert bleibt er hier.
Ernst Haffner lässt die Blutsbrüder zu Ganoven werden, Willi und Ludwig aber entziehen sich der Gruppe, machen sich in der Neuköllner Ziethenstraße selbständig - immer in Furcht vor der Polizei. Sie kaufen den Leuten alte Schuhe ab, bessern diese aus, putzen und wienern sie und verkaufen sie an Händler. Das Geschäft läuft gut, bis sie verraten werden und Willi ins Gefängnis muss für die Rache an dem verhassten Erzieher, eine Tat, die er auch vor Gericht nicht bereut. Es kommt der Tag der Freilassung ins endlose, unbarmherzige Berlin. Willi und Ludwig sind zwei, die im "Elendsheer der Großstadtvagabunden" nicht untergegangen sind. Berlin 1932. Der Leser heute weiß, was vor ihnen liegt: das "Dritte Reich" und der Krieg.
Ernst Haffner: Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman. Metrolit Verlag, Berlin 2013. 264 Seiten, 19,99 Euro.