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Nervenkrieg um Nervengift

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Durch die Untersuchung seiner Chemiewaffenbestände gewinnt Syriens Machthaber vor allem eines - Zeit


Noch wurde die amerikanisch-russische Einigung über die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen gefeiert, da forderte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle: Jetzt müssten Taten folgen. "Deutschland bietet technische und finanzielle Unterstützung bei der Zerstörung der Massenvernichtungswaffen an." Am Samstag könnte schon die Ernüchterung folgen - dann muss Syriens Staatschef Baschar al-Assad liefern. Wie viele Tonnen der Nervengifte Sarin und VX sowie Senfgas hat seine Armee? Wo werden die Waffen gelagert? Wie viel Kampfstoffe sind schon in Granaten und Bomben gefüllt worden? In welchen Laboren wird das Gift zusammengerührt? Sollte der Syrer die Zahlen fälschen, dürfte die Euphorie über den in Rekordzeit zusammengeschusterten Genfer Giftgas-Plan verfliegen.



Syriens Präsident Bashar al-Assad während eines Interviews mit dem russischen Fernsehsender RU24 in Damaskus am 12. September 2013

Dann wäre das Abkommen ins Leere gelaufen. US-Außenminister John Kerry mahnt deshalb Russland. Die anstehende Resolution des UN-Sicherheitsrats müsse "bedrohlich" sein: "Wenn Assad den Eindruck gewinnt, dass sie nicht durchgesetzt wird und wir es nicht ernst meinen, wird er Spielchen spielen." Das wird er ohnehin. Auch wenn Kerry sagt, Assad habe "jede Legitimität verloren" weiterzuregieren: Jeder einzelne Tag, an dem Damaskus mit den UN-Vertretern über den Zugang zu den Giftgas-Anlagen schachert, sichert das Überleben des Regimes.

Die Sicherung eines Arsenals von geschätzt tausend Tonnen Kampfstoffen in einem Kriegsgebiet ist eine Premiere für die UN-Inspektoren, deren zuständige Behörde derzeit nicht über ausreichend Personal für diese Herkules-Aufgabe verfügt. Dem Diktator bleibt also Zeit, den Krieg gegen die Aufständischen mit konventionellen Waffen zu führen, vor allem mit der Luftwaffe. Nach anfänglicher Schwäche haben sich Assads Streitkräfte erholt. Die das Jahr 2011 prägende Welle der Desertionen ist verebbt, Assads Streitmacht erweist sich als kampffähig.

"Aus der Armee als eingerosteter Institution mit erschöpften Rekruten ist eine Maschine im Häuserkampf geworden, die auf kampfgestählte Soldaten zurückgreift", sagte Fawaz Georges, Direktor des Nahost-Zentrums der Londoner School of Economics der Zeitung The Nation. Die als unzuverlässig geltenden sunnitischen Wehrpflichtigen stehen in ihren Kasernen unter Hausarrest, alawitische Offiziere kontrollieren jeden Einsatz, an dem Sunniten-Offiziere beteiligt sind. An kriegsentscheidenden Orten wie Damaskus kämpfen Truppen, die der Alawiten-Sekte angehören - wie der Präsident selbst.

Wichtigste Einheit ist die 4. gepanzerte Division, die Assads eigener Bruder kommandiert: General Maher al-Assad, bei seinen Truppen hochangesehen und bei seinen Gegnern für seine Brutalität gefürchtet. Maher obliegt die Verteidigung der Hauptstadt, in deren Randbezirken die Rebellen stark sind. Assads Überleben hänge daran, ob Maher die Hauptstadt halten könne, so Georges: "Wenn Damaskus fällt, ist das Regime weg."

Die Angst vor einem Durchbruch der Rebellen wäre eine Erklärung für den Giftgaseinsatz am 21. August: Zwischen 450 und 1400 Menschen sollen in den am Rand von Damaskus liegenden Stadtteilen Ghouta und Moadamiyet al-Sham gestorben sein. Dem neuen Bericht der UN-Giftgasinspektoren zufolge weisen die eingesetzten Raketen auf die Armee hin. Auch die große Menge des verschossenen Sarins spreche gegen eine Täterschaft der Rebellen. Sollte Assad den Gaseinsatz verantworten - die UN-Inspektoren schweigen sich darüber aus - ist klar, dass Damaskus nach zweieinhalb Jahren Krieg bedroht bleibt.

Doch auch ohne Giftgas kann Assad hoffen, den Bürgerkrieg zu gewinnen oder zumindest das Kernland im Westen am Mittelmeer und im Süden zu halten. Russland liefert Waffen, die Iraner kümmern sich um die Expertise. Revolutionsgardisten der Teheraner Eliteeinheit al-Quds beraten Assads Generale, immer häufiger sollen sie bei Kämpfen das Kommando führen. In einem offenbar iranischen Video, das den Aufständischen in die Hände gefallen ist, sind Persisch sprechende Offiziere zu sehen, die Befehl über syrische Soldaten führen; die Iraner fahren Patrouille und kämpfen gegen Rebellen. Bisher hat Teheran nur eingeräumt, dass es Militärberater im Land habe.

Das Wall Street Journal berichtet vom Trainingslager "Führer der Gläubigen" nahe Teheran: Dort würden Tausende Schiiten aus Syrien, Irak und anderen arabischen Staaten als Milizionäre des Regimes ausgebildet. "Ihnen wird erklärt, dass sie in Syrien eine historische Schlacht für den schiitischen Islam kämpfen", heißt es unter Berufung auf einen iranischen Offizier.

Die Kampfkraft der Aufständischen ist weniger eindeutig: Circa 100000 Mann sollen in 1000 Milizen kämpfen, die Mehrzahl Syrer, aber auch etwa 6000 ausländische Dschihadisten sind dabei. Berüchtigt sind vor allem die Jabhat al-Nusra-Front und der "Islamische Staat im Irak und in al-Sham", beide Gruppen stehen al-Qaida nahe, gelten mit ihren kampferfahrenen Gotteskriegern aus dem Irak, Libyen oder Tunesien als kampfstärker als andere Milizen. Sie kämpfen vor allem im Nor- den und Osten, in der Provinz Idlib und in der Stadt Rakka am Euphrat. Dort sollen sie Mini-Emirate ausgerufen haben mit Scharia-Gerichten und Schulen, in denen fundamentalistischer Islam verbreitet wird. Politisch ähnlich radikal sind Milizen wie "Harakat Ahrar al-Sham al-Islamiya" oder die "Syrisch-Islamische Front".

Wobei die Unterteilung der Rebellen in Islamisten und sogenannte Moderate hinfällig geworden ist: Auch in der "Freien syrischen Armee" (FSA) kämpfen Islamisten. Die FSA ist eine Dachorganisation verschiedener Milizen, immer mehr der Kämpfer sehen sich als Gotteskrieger, ohne deshalb al-Qaida die Treue zu schwören. Es kommt sogar zu bewaffneten Konflikten zwischen FSA-Kämpfern und Extrem-Islamisten.

Syriens Aufständische müssten "jenseits der Frage nach den Guten und den Bösen" betrachtet werden, urteilt der britische Militärexperte Charles Lister. Zugleich stellt er klar: Die Zahl der Gruppen, die westliche Werte ablehnen, ist riesig, es sind bis zu 80 Prozent. Der Bürgerkrieg habe sich zudem zu einem Frontengewirr entwickelt, in dem lokale Gruppen kämpften. Größere Milizen hätten aber gemeinsame Nachschub- und Kommandostrukturen entwickelt. "Die Dschihadisten haben sich dabei effektiver gezeigt", urteilt Lister.

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