Idol oder Mörder? Der französische Juwelier Stéphan Turk wird auf facebook als Held bezeichnet - weil er einen 19-jährigen Dieb auf der Flucht mit einem Schuss in den Rücken tötete. Die Schwester des Opfers versteht die Welt nicht mehr.
Sie kämpft mit den Tränen, wann immer sie von ihrem Bruder erzählt. "Freundlich, liebevoll, ja zärtlich wie ein Kind" sei Anthony gewesen. Alexandra Asli schüttelt den Kopf, ihre Mundwinkel zucken, doch irgendwie gelingt es der jungen Frau in dem schwarzen Kapuzenpulli, die Fassung zu wahren. Sie streicht sich mit der Hand über die feuchte Wange, wischt trotzig eine Haarsträhne hinters Ohr. Schluckt, und redet weiter. Von Anthony, "unserem Kleinen", der im Oktober 20 Jahre alt geworden wäre, der aber "im Kopf nur 13, vielleicht 14 war - mehr nicht!" Und sie spricht von dem anderen Mann, "der meinen Bruder wie einen Hund erledigt hat". Nie spricht Asli dessen Namen aus, sie nennt ihn nur "Feigling" oder "Mörder". Es weiß ja eh jeder, wen sie meint: Stéphan Turk, jenen 67 Jahre alten Juwelier aus Nizza, der vorige Wochen einen Räuber erschoss - und deshalb für viele Franzosen zu einem Idol wurde.
Anthonys Schwester, Alexandra Asli, völlig aufgelöst während einer Pressekonferenz in Nizza
Dass mittlerweile über 1,6 Millionen Menschen per Like-Klick auf einer Facebook-Seite ihre Sympathie für den Mörder ihres Bruders bekundet haben, findet Alexandra Asli "einfach fürchterlich". Auch in Carros, dem schmucklosen Arbeitervorort oben auf dem Hügel nördlich von Nizza, sehen das viele so. Hier kennen sie die Aslis. Und sie kannten Anthony, den Bengel mit dem unschuldigen Lächeln von nebenan. Sie wussten, dass er die Schule abgebrochen hatte, dass er sich mal als Gärtner verdingte, und dass er sich in Gaunereien verstrickte, wieder und wieder. Manche riefen ihn "Zigeuner".
14 Strafdelikte und zwei Jahren Knast hatte Anthony auf dem Buckel. "Wir haben die Urteil stets akzeptiert", versichert Alexandra Asli, "so sind wir nun mal erzogen worden." Die Familie kämpfte um Anthony, hoffte auf Besserung, zumal er jüngst mit seiner Jugendliebe zusammengezogen war und die beiden ein Kind erwarteten. Weshalb für Alexandra, mittlerweile die Sprecherin der Familie, unbegreiflich ist, was nun geschehen ist: dass Anthony am Morgen des 11. September runter ins Tal fuhr und mit einem Kumpan brutal ein Schmuckgeschäft ausraubte. Dass der Juwelier den Bruder dann auf der Flucht mit einem Schuss in den Rücken tötete - und nun obendrein Abertausende Landsleute die Freilassung des mutmaßlichen Mörders verlangen. "Ich begreife nicht, wie man den Typen als Helden feiern kann" sagt Alexandra, "der hat meinen Bruder erschossen!" Wieder ringt sie mit den Tränen. "Die stellen sich hinter den und feiern da ein Fest auf der Place Masséna ..." Dann fehlen ihr die Worte.
Das "Fest", von dem sie spricht, war eine Demonstration - für Stéphan Turk, den Juwelier. Der Schütze vom 11. September, ein kleiner Einwanderer aus dem Libanon mit längst ergrautem Schnauzbart, gilt den meisten an der Côte d"Azur als das wahre Opfer der Affäre. Weshalb Handelskammer und Juweliers-Verband zu Wochenbeginn zum Protest aufriefen: Nizzas wohlbetuchte Bürger zogen vom Masséna-Platz zum Justizpalast, um die sofortige Freilassung des Schmuckhändlers zu fordern. Eine junge Frau im feinen blauen Kostüm und finsterer Miene versicherte, sie billige keinen Mord, aber: "Ich unterstütze einen, der sich verteidigt hat. Der macht jetzt die Hölle durch." Ein Rentner hinter ihr, ein bekennender Konservativer, pflichtete bei: "Die Schnauze voll" habe er, die Franzosen lebten "überall in Unsicherheit", weil die Polizei die Bürger im Stich lasse: "Der Juwelier hat Recht gehabt!"
Vorneweg marschierte die lokale Prominenz. Der Bürgermeister und der Präsident des Regionalrats, zwei landesweit bekannte Köpfe der oppositionellen UMP, trugen blau-weiß-rote Schärpen um den Leib - als demonstrierten sie im Namen von Republik und Trikolore. Weiter hinten erschallten Rufe, die sozialistische Justizministerin in Paris solle zurücktreten.
Ganz Frankreich blickt nach Nizza, der Fall hat den Nerv der Nation getroffen. Einen wunden Nerv: Millionen Franzosen wähnen ihr Land im Niedergang, fühlen sich - auch als Folge von Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit - von einer Welle der Gewaltkriminalität bedroht. Allein Nizza erlebte voriges Jahr 400 zum Teil brutale Juwelenraube, also mehr als einen Überfall pro Tag. Da flammt der Zorn auf, und manche gießen ihr Öl ins Feuer. "Wenn ich der Juwelier gewesen wäre, hätte ich dasselbe getan", hat Jean-Marie Le Pen erklärt, der Gründervater des rechtsextremen Front National. Viele Beobachter vermuten, auch hinter der Facebook-Seite mit ihren 1,6 Millionen Likes für den Juwelier stecke die Rechte. Der Initiator versichert anonym, er sei nur "einfacher Student und parteilos". Aber seine massive Gefolgschaft deuten Web-Experten wie der Soziologe Dominique Cardon als erneuten Beweis für die Existenz einer "facosphère" im Netz.
Die Regierung wirkt hilflos, sie fürchtet die Kommunalwahlen im Frühjahr 2014. Da könnte der Front National in breiter Front in die Rathäuser von gewaltgeplagten Großstädten wie Nizza oder Marseille einmarschieren. Pflichtschuldig mahnt Präsident Francois Hollande seine Landsleute, die Justiz sei allein Sache der Justiz. Sein Innenminister Manuel Valls, der "premier flic" der Nation, eilt nach Nizza, um den Händlern zu versichern, er verstehe sehr wohl ihre "Verzweiflung und Wut". Nur, leider habe er nun mal "keinen Zauberstab" gegen die Gewalt. Hinauf nach Carros, wo die Aslis wohnen, ist er nicht gefahren.
Abseits des Trubels treibt der Staatsanwalt die Ermittlungen voran. Unbestritten, weil von Videokameras dokumentiert ist der Überfall: Stéphan Turk wird niedergeschlagen, mit einer Waffe bedroht, ausgeraubt. Während die beiden Täter - einer von ihnen Anthony Asli - aus dem Laden flüchten, greift Turk nach seiner Pistole, Kaliber 7,65. Der Juwelier besitzt die Waffe illegal, er stürmt den Räubern hinterher. Was dann genau geschieht, muss ein Indizienprozess klären: Zweimal schießt Turk auf den Scooter, dann, so behauptet er, habe Asli sich auf dem Rücksitz umgedreht und ihn mit einer Pump Gun bedroht. Erst da will Turk die dritte, tödliche Kugel abgefeuert haben. Sie traf Asli in den Rücken, direkt unter dem rechten Schulterblatt. Er verblutete auf der Straße.
Stéphan Turk, der sich selbst "das erste Opfer" nennt, sitzt nicht in Untersuchungshaft. Der Staatsanwalt hat ihm Hausarrest zugebilligt, trotz der Ermittlung wegen vorsätzlichen Mordes. Er darf reden, auch mit der Presse. Nein, der untersetzte Mann mit dem holprigen Akzent wirkt nicht wie ein Held. Er habe Angst vor dem Gefängnis, sagt er. Und er hat schon mehrfach erklärt, was vielen seinen Fans auf der Place Masséna oder auf Facebook nie einfiel: "Ich bedauere den Tod des jungen Mannes."
Sie kämpft mit den Tränen, wann immer sie von ihrem Bruder erzählt. "Freundlich, liebevoll, ja zärtlich wie ein Kind" sei Anthony gewesen. Alexandra Asli schüttelt den Kopf, ihre Mundwinkel zucken, doch irgendwie gelingt es der jungen Frau in dem schwarzen Kapuzenpulli, die Fassung zu wahren. Sie streicht sich mit der Hand über die feuchte Wange, wischt trotzig eine Haarsträhne hinters Ohr. Schluckt, und redet weiter. Von Anthony, "unserem Kleinen", der im Oktober 20 Jahre alt geworden wäre, der aber "im Kopf nur 13, vielleicht 14 war - mehr nicht!" Und sie spricht von dem anderen Mann, "der meinen Bruder wie einen Hund erledigt hat". Nie spricht Asli dessen Namen aus, sie nennt ihn nur "Feigling" oder "Mörder". Es weiß ja eh jeder, wen sie meint: Stéphan Turk, jenen 67 Jahre alten Juwelier aus Nizza, der vorige Wochen einen Räuber erschoss - und deshalb für viele Franzosen zu einem Idol wurde.
Anthonys Schwester, Alexandra Asli, völlig aufgelöst während einer Pressekonferenz in Nizza
Dass mittlerweile über 1,6 Millionen Menschen per Like-Klick auf einer Facebook-Seite ihre Sympathie für den Mörder ihres Bruders bekundet haben, findet Alexandra Asli "einfach fürchterlich". Auch in Carros, dem schmucklosen Arbeitervorort oben auf dem Hügel nördlich von Nizza, sehen das viele so. Hier kennen sie die Aslis. Und sie kannten Anthony, den Bengel mit dem unschuldigen Lächeln von nebenan. Sie wussten, dass er die Schule abgebrochen hatte, dass er sich mal als Gärtner verdingte, und dass er sich in Gaunereien verstrickte, wieder und wieder. Manche riefen ihn "Zigeuner".
14 Strafdelikte und zwei Jahren Knast hatte Anthony auf dem Buckel. "Wir haben die Urteil stets akzeptiert", versichert Alexandra Asli, "so sind wir nun mal erzogen worden." Die Familie kämpfte um Anthony, hoffte auf Besserung, zumal er jüngst mit seiner Jugendliebe zusammengezogen war und die beiden ein Kind erwarteten. Weshalb für Alexandra, mittlerweile die Sprecherin der Familie, unbegreiflich ist, was nun geschehen ist: dass Anthony am Morgen des 11. September runter ins Tal fuhr und mit einem Kumpan brutal ein Schmuckgeschäft ausraubte. Dass der Juwelier den Bruder dann auf der Flucht mit einem Schuss in den Rücken tötete - und nun obendrein Abertausende Landsleute die Freilassung des mutmaßlichen Mörders verlangen. "Ich begreife nicht, wie man den Typen als Helden feiern kann" sagt Alexandra, "der hat meinen Bruder erschossen!" Wieder ringt sie mit den Tränen. "Die stellen sich hinter den und feiern da ein Fest auf der Place Masséna ..." Dann fehlen ihr die Worte.
Das "Fest", von dem sie spricht, war eine Demonstration - für Stéphan Turk, den Juwelier. Der Schütze vom 11. September, ein kleiner Einwanderer aus dem Libanon mit längst ergrautem Schnauzbart, gilt den meisten an der Côte d"Azur als das wahre Opfer der Affäre. Weshalb Handelskammer und Juweliers-Verband zu Wochenbeginn zum Protest aufriefen: Nizzas wohlbetuchte Bürger zogen vom Masséna-Platz zum Justizpalast, um die sofortige Freilassung des Schmuckhändlers zu fordern. Eine junge Frau im feinen blauen Kostüm und finsterer Miene versicherte, sie billige keinen Mord, aber: "Ich unterstütze einen, der sich verteidigt hat. Der macht jetzt die Hölle durch." Ein Rentner hinter ihr, ein bekennender Konservativer, pflichtete bei: "Die Schnauze voll" habe er, die Franzosen lebten "überall in Unsicherheit", weil die Polizei die Bürger im Stich lasse: "Der Juwelier hat Recht gehabt!"
Vorneweg marschierte die lokale Prominenz. Der Bürgermeister und der Präsident des Regionalrats, zwei landesweit bekannte Köpfe der oppositionellen UMP, trugen blau-weiß-rote Schärpen um den Leib - als demonstrierten sie im Namen von Republik und Trikolore. Weiter hinten erschallten Rufe, die sozialistische Justizministerin in Paris solle zurücktreten.
Ganz Frankreich blickt nach Nizza, der Fall hat den Nerv der Nation getroffen. Einen wunden Nerv: Millionen Franzosen wähnen ihr Land im Niedergang, fühlen sich - auch als Folge von Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit - von einer Welle der Gewaltkriminalität bedroht. Allein Nizza erlebte voriges Jahr 400 zum Teil brutale Juwelenraube, also mehr als einen Überfall pro Tag. Da flammt der Zorn auf, und manche gießen ihr Öl ins Feuer. "Wenn ich der Juwelier gewesen wäre, hätte ich dasselbe getan", hat Jean-Marie Le Pen erklärt, der Gründervater des rechtsextremen Front National. Viele Beobachter vermuten, auch hinter der Facebook-Seite mit ihren 1,6 Millionen Likes für den Juwelier stecke die Rechte. Der Initiator versichert anonym, er sei nur "einfacher Student und parteilos". Aber seine massive Gefolgschaft deuten Web-Experten wie der Soziologe Dominique Cardon als erneuten Beweis für die Existenz einer "facosphère" im Netz.
Die Regierung wirkt hilflos, sie fürchtet die Kommunalwahlen im Frühjahr 2014. Da könnte der Front National in breiter Front in die Rathäuser von gewaltgeplagten Großstädten wie Nizza oder Marseille einmarschieren. Pflichtschuldig mahnt Präsident Francois Hollande seine Landsleute, die Justiz sei allein Sache der Justiz. Sein Innenminister Manuel Valls, der "premier flic" der Nation, eilt nach Nizza, um den Händlern zu versichern, er verstehe sehr wohl ihre "Verzweiflung und Wut". Nur, leider habe er nun mal "keinen Zauberstab" gegen die Gewalt. Hinauf nach Carros, wo die Aslis wohnen, ist er nicht gefahren.
Abseits des Trubels treibt der Staatsanwalt die Ermittlungen voran. Unbestritten, weil von Videokameras dokumentiert ist der Überfall: Stéphan Turk wird niedergeschlagen, mit einer Waffe bedroht, ausgeraubt. Während die beiden Täter - einer von ihnen Anthony Asli - aus dem Laden flüchten, greift Turk nach seiner Pistole, Kaliber 7,65. Der Juwelier besitzt die Waffe illegal, er stürmt den Räubern hinterher. Was dann genau geschieht, muss ein Indizienprozess klären: Zweimal schießt Turk auf den Scooter, dann, so behauptet er, habe Asli sich auf dem Rücksitz umgedreht und ihn mit einer Pump Gun bedroht. Erst da will Turk die dritte, tödliche Kugel abgefeuert haben. Sie traf Asli in den Rücken, direkt unter dem rechten Schulterblatt. Er verblutete auf der Straße.
Stéphan Turk, der sich selbst "das erste Opfer" nennt, sitzt nicht in Untersuchungshaft. Der Staatsanwalt hat ihm Hausarrest zugebilligt, trotz der Ermittlung wegen vorsätzlichen Mordes. Er darf reden, auch mit der Presse. Nein, der untersetzte Mann mit dem holprigen Akzent wirkt nicht wie ein Held. Er habe Angst vor dem Gefängnis, sagt er. Und er hat schon mehrfach erklärt, was vielen seinen Fans auf der Place Masséna oder auf Facebook nie einfiel: "Ich bedauere den Tod des jungen Mannes."