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Das zweite Gesicht

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Pascal sagt, meine Mutter war irgendwie nicht so da, am Anfang. Die hat viel gepennt und so. Die Oma hat dann oft Pfannkuchen gemacht. Scheiße war das eigentlich, sagt Pascal. Dass die Mutter sich so selten um uns gekümmert hat.

Der Betreuer sagt, Frau Schneider war süchtig, als Pascal zur Welt kam. Süchtig nach einem Computerspiel, das "World of Warcraft" heißt. In ihrem Leben gab es nichts, nur dieses Spiel. Frau Schneider hat drei Söhne.



"Das wird mal was, wo ich Spaß habe" - Eine Radtour durch Deutschland verändert Pascals Leben.

An einem Mittwoch im Oktober 2013 läuft Pascal barfuß durch den Sand und springt in die elf Grad kalte Ostsee. Einen weiten Weg hat er hinter sich, er ist aus dem bayerischen Hof bis an die Küste geradelt, mit 40 Kilo Gepäck auf dem Fahrrad, gegen Wind, durch Regen und Schnee. Und der Weg davor war noch viel weiter.

Frau Schneider sagt, der Mann, den ich liebte, hat mich genauso verprügelt, wie mein Vater das auch schon getan hat. Trotzdem, sagt sie, konnte ich nicht weg von ihm. Am heftigsten schlägt der Mann sie, als sie zum dritten Mal schwanger ist. Er will das Kind nicht. Frau Schneider verliert nicht das Kind, aber sich selbst. Sie sieht keinen Platz mehr für sich, außer vor dem Computer. Sie vergisst ihre Kinder, sich, alles. Jahrelang. Ich habe versagt, sagt sie.

Die Grundschullehrer sagen, Pascal und seine Brüder kommen unpünktlich zur Schule, haben verdreckte Kleidung an und sind aggressiv. Pascal ist manchmal so außer sich, dass ihn drei Lehrer festhalten müssen, schweißgebadet ist er dann und völlig verkrampft. Frau Schneider lässt ihre Kinder verwahrlosen, sagen die Lehrer. Pascal und sein kleiner Bruder kommen auf eine Förderschule für Erziehungshilfe. Obwohl ein Test ergibt, dass Pascal einen IQ von mehr als 140 hat.

Pascal teilt seine Welt in richtige Tage ein. Und in Scheißtage. In der Grundschule, sagt er, gab es irgendwann gar keinen richtigen Tag mehr. Auf der neuen Schule, sagt Pascal, habe ich mich total verändert. Ich hab" mich ja nicht so gut benehmen können und ich hab" mich da auch noch mal geprügelt, aber es war eigentlich erst mal ausgeglichen. Mit zwölf bekommt Pascal die erste Anzeige. Weil er mit einem Kumpel Schaumstoffschwerter klaut.

Das Jugendamt droht Frau Schneider, ihr die Kinder wegzunehmen. Da bin ich aufgewacht, sagt Frau Schneider. Sie hört von einem Tag auf den anderen mit dem Computerspiel auf, nimmt Familienhilfe in Anspruch. Sie versucht, etwas gutzumachen.

Als Pascal 13 Jahre alt ist, klappt einen ganzen Monat lang nichts. Pascal kommt in die Psychiatrie. Da kam ich gut mit den Kindern klar, sagt Pascal. Am Anfang habe ich mir jeden Morgen das gleiche Brötchen geschmiert, immer ein Brötchen mit Schmierkäse und zwei Gläser Milch. Aber dann geht es da auch wieder schief. Jede Nacht um vier bin ich aufgestanden, sagt er, konnte nicht mehr schlafen. Ich konnte mir nicht mal mehr ein Brot richtig schmieren. Warum? Das weiß er nicht. Er bricht die Psychiatrie ab. Danach läuft es die ersten Tage besser. Ich hatte richtig gute Noten, sagt Pascal. Aber dann gab es halt wieder diese Tage, die haben alles zerstört. Wo irgendwas nicht gepasst hat.

Ein Tag ist nicht mehr richtig, wenn Pascal etwas machen soll, was er nicht machen will. Wie einmal beim Sport. Da ärgert es ihn, dass sich alle aufwärmen sollen. In der Pause wärmen wir uns doch sowieso auf, sagt Pascal. Die wollen uns mit so kindischen Sachen nur schikanieren. Pascal sagt, es macht mich rasend, wenn so Respektspersonen den längeren Hebel haben. Wenn die das ausspielen, dann raste ich aus. Ich hasse Pädagogen, sagt er. Das sind dann die Tage, an denen Pascal nach Hause geschickt wird.

Der Betreuer sagt, weil Pascals Mutter jetzt so ein schlechtes Gewissen hat, lässt sie Pascal alles durchgehen. Wenn die Schule sie um Hilfe ruft, stellt sie sich auf Pascals Seite, weil sie denkt, sie muss ihn beschützen. Pascal weiß das. Er kennt die Knöpfe, die er drücken muss.

Pascal sagt, wenn er ein Betreuer wäre, würde er sagen, sind schon Scheißkinder. Ist er ein Scheißkind? Ja, sagt Pascal. Es gebe ein Lied, von Peter Fox, "Das zweite Gesicht" heißt es. Das passt total zu mir, sagt er. In dem Lied heißt es: "Es steckt mit dir unter einer Haut und du weißt, es will raus ans Licht. Die Käfigtür geht langsam auf und da zeigt es sich: Das zweite Gesicht." Das zweite Gesicht müsste man irgendwie umbringen, sagt Pascal. Das wär"s.

Wenn er umschaltet, von dem einen, sanften Gesicht, zu dem zweiten, aggressiven, dann sieht er nichts anderes mehr, sagt Pascal. Ich denk" dann, was soll schon Schlimmes kommen? Einmal bin ich auf "ne Lehrerin los, und dann haben die die Polizei gerufen. Ein andermal packt er einem Schüler eine ganze Ladung Schnee ins Gesicht und verprügelt ihn so, dass der eine blutige Lippe hat. Wieder kommt die Polizei. Das fand ich doof, sagt Pascal, dass die die Polizei riefen. Das hätte man auch anders lösen können.

Der Betreuer sagt, Pascal hat eine Bindungsstörung. Weil er als Kind keine Bindung zu seiner abwesenden Mutter aufbauen konnte, gelingt ihm das nun mit niemandem mehr. Deswegen wirkt er auf andere manchmal verstörend wenig empathisch. Die Lehrer sagen, Pascal macht den Schülern Angst - und ihnen auch. Als Pascal sagt, er will alle umbringen, darf er nicht mehr zur Schule kommen. Pascal gilt nun als eine Gefahr für sich selbst und andere. Pascal ist eine Weile still, dann sagt er, man macht manchmal Dinge im Affekt, die man dann nicht so meint, später. Die Schulkonferenz kommt zu dem Ergebnis, dass Pascal erst dann wieder beschult werden kann, wenn er an einer intensivpädagogischen Maßnahme teilgenommen hat. Pascal ist jetzt 14.

Als Pascal hört, dass er mit dem Rad zwei Monate lang durch Deutschland fahren soll, sagt er sich, ich pack" das. Vielleicht läuft"s danach. Er denkt auch, das klingt wie Urlaub. Pascal war noch nie im Urlaub. Er war überhaupt noch nie aus seiner Heimatstadt weg. Das wird mal was, wo ich Spaß habe, sagt Pascal.

Im September fährt Pascal im bayerischen Hof los, mit einem Betreuer. Es ist die intensivste Form an erzieherischen Maßnahmen, die es gibt, ein Pädagoge, ein Jugendlicher. Kinder brauchen Abenteuer, sagt der Betreuer. Seine Firma, ein Träger für intensivpädagogische Angebote, hat er deshalb Expedition Nordwind genannt. Nach uns, sagt der Betreuer, kommt nur noch geschlossene Unterbringung. Nach zwei verregneten Wochen sind die beiden im Harz angekommen. Dort pausieren sie auf einem Campingplatz. Pascal ist begeistert von der Tour. In Bayern war einfach alles schön, sagt er. Da bin ich fast von einem Auto überfahren worden, weil ich einen Bussard gesehen habe. So Natur tut mir richtig gut, sagt er. Der Betreuer sagt, es läuft gut. Er arbeitet viel über Metaphern mit Pascal. Er geht mit ihm eine Klippenwanderung, Pascal soll den Weg finden. Als er sich verirrt, lässt ihn der Betreuer wieder dorthin zurückgehen, wo er falsch abgebogen ist. Du musst nicht immer auf einem falschen Weg weitergehen, sagt der Betreuer. Du kannst zurückgehen, dich neu orientieren. Pascal soll so lernen, dass es Alternativen zu seinem konfrontativen Verhalten gibt.

Pascal springt während der Wanderung immer wieder an den Wegesrand, zeigt begeistert auf Spinnweben, Käfer, Pilze. Auch, als es zu regnen beginnt, nach 15 Kilometern, meckert er nicht. Als in seinen Schuhen das Wasser steht, sagt er nur, jetzt quietscht es schon. Wenn Pascal von der Radtour erzählt, klingt er sehr dankbar. Kein Wort darüber, dass es schon Bodenfrost gab. Für Pascal ist alles spannend. Wir haben Pflaumen gepflückt, die waren total süß, sagt er. Da hat die Natur uns einfach was ganz Tolles geschenkt!

Der Betreuer sagt, man solle sich davon nicht täuschen lassen. Pascal habe etwas sehr Richtiges beschrieben: Er habe zwei Gesichter. Das eine, sanfte. Und das andere, aggressive. Pascal hat erhebliche Probleme mit Autoritäten, sagt der Betreuer.

Pascal erzählt, dass der Betreuer ihm erklärt hat, dass es drei Verhaltensebenen gibt: konstruktiv, kooperativ und destruktiv. Ich bin destruktiv, sagt Pascal. Wenn ich weiß, der Lehrer hat die Macht, mich kaputtzumachen. Aber ich kann dann sagen, mache ich nicht, brauche ich nicht, will ich nicht. Dann seid ihr auch machtlos. Die Lehrer, sagt Pascal, drohen dann mit irgendwas, das die Schüler eh nicht interessiert. Wir rufen jetzt deine Mutter an oder so. Da denke ich, mach" doch, das geht mir so am Arsch vorbei.

Der Betreuer sagt, genau das sei der Grund, warum man mit einem Jungen wie Pascal rausgehen müsse. Weil es draußen unmittelbare Konsequenzen gibt. Die Natur, sagt der Betreuer, hilft mir dabei. Wenn ich am Abend sage, er soll seine Klamotten ins Zelt räumen, und er das nicht macht, dann sage ich das keine zehn Mal. Ich weise ihn deutlich darauf hin, was er zu tun hat, überlasse aber ihm die Entscheidung. Am nächsten Morgen sind seine Sachen dann nass. Solche Konsequenzen kennen diese Kinder im normalen Leben nicht. Wenn sie sich noch so sehr verweigern, sie werden doch immer zu essen und ein warmes Bett haben. Im Grunde passiert nichts. Hier lernt er, dass der Einzige, der leidet, wenn er sich verweigert, er selbst ist.

Als Pascal sieht, dass der Betreuer Kabelbinder dabei hat, für Reparaturen, fragt Pascal, ob er damit gefesselt wird, wenn er nicht gehorcht. Der Betreuer muss ihm immer wieder klarmachen, dass es Pascals freie Entscheidung ist, dass er die Tour mit ihm macht. Dass er es selbst in der Hand hat, in seinem Leben einen besseren Weg einzuschlagen. Für Pascal ist das schwierig, sagt der Betreuer. In seiner Welt ist so viel Negatives passiert, dass Kinder wie er Angst vor Erfolg entwickeln. Weil sie mit den Gefühlen nicht umgehen können, wenn mal etwas gut ist.

Pascal sagt, zu Hause mache ich mit meinem großen Bruder manchmal schöne Sachen. Nur einmal hat er mir fast eine Gehirnerschütterung verpasst. Gerade habe ich eine halbe Stunde mit ihm telefoniert, erzählt er. Da hat er mich sogar gefragt, wie es mir geht. Das ist schon ein schönes Gefühl, wenn sich mein großer Bruder wenigstens für mich interessiert, sagt Pascal. 17 oder 18 ist der. Pascal weiß es nicht.

Pascal erzählt, dass er sich in der vergangenen Woche den Magen verdorben hat. Irgendwas habe nicht gestimmt mit dem Kartoffelbrei aus der Packung, sagt er. Mir war so schlecht wie noch nie. So schlecht, dass der Betreuer ein Hotel reserviert. Zu dem Hotel müssen sie noch 35 Kilometer radeln. Pascal sagt, im Hotel sei er einfach umgefallen. In seinem ganzen Leben will er nie wieder Kartoffelbrei essen. Wenn er nur daran denkt, wird ihm schon wieder schlecht. Während der Wanderung im Harz dreht er sich auf einmal um. Mein ganzes Leben war bis jetzt eigentlich nur Kartoffelbrei, sagt er.

Das sind die Momente, von denen der Betreuer sagt, so etwas kommt aus Kindern nicht an einem Tisch raus. Dazu muss man in den Wald gehen. Etwas erleben mit ihnen. Dann fangen sie auf einmal zu reden an. Und dann kann man auch wieder mit ihnen reden. In der Fachsprache heißt das, sie sind pädagogisch noch erreichbar.

Der Betreuer sagt, draußen bleibt den Kindern nichts anderes übrig, als sich sozialverträglich zu verhalten. Sie müssen kommunizieren, mit dem Betreuer zusammenarbeiten. Der Betreuer hat den Kocher, Pascal die Gaskartusche - wenn sie essen wollen, müssen sie reden. Ein großes Thema für Pascal, das richtige Kommunizieren. Einmal versucht Pascal verzweifelt, im Regen sein Zelt aufzubauen, schimpft, flucht. Nach einer Stunde fragt ihn der Betreuer, was nun passieren müsste. Pascal sagt, dass der Betreuer ihm helfen soll. Der Betreuer fragt Pascal, warum er ihn das nicht schon vor einer Stunde gefragt hat. Pascal soll begreifen, dass es Lösungen gibt, dass er um Hilfe bitten kann - dass er das darf und sogar muss.

Es dauert drei Wochen, bis es auch auf der Tour eskaliert. Pascal soll Wäsche waschen, es kommt zu einer Diskussion, er rennt weg. Als er nach drei Stunden wiederkommt, ist er erstaunt, dass der Betreuer ihn nicht gesucht, sondern die Polizei gerufen hat. Pascal muss am Telefon mit einer Polizistin sprechen. Sie erklärt ihm, dass das Projekt jetzt vorbei wäre, hätte die Polizei ihn aufgegriffen. Dann wäre Endstation - er käme in die Inobhutnahme. Ob er das will, fragt der Betreuer beim allabendlichen heißen Kakao. Nein, sagt Pascal.

Der Betreuer sagt, Pascal schiebt die Schuld an seiner Situation gern anderen zu, Lehrern, Betreuern, nicht sich selbst. Er muss lernen, welchen Anteil sein eigenes Handeln hat. Der Betreuer übergibt Pascal langsam immer mehr Verantwortung. Er darf das Essen für eine ganze Woche verwalten, muss es richtig einteilen.

Pascal schafft den ganzen Weg bis an die Ostsee. 51 Tage lang, 1412 Kilometer auf dem Fahrrad und 170Kilometer zu Fuß. Die ganze Zeit hat er sich vorgenommen, dass er am Ziel ins Meer springen wird. Als der Betreuer sagt, er geht nicht mit ins Wasser, findet Pascal das blöd. Aber der Betreuer sagt, jetzt fängt der Weg an, den Pascal allein gehen soll. Pascal ist erst verunsichert. Aber dann rennt er in die Wellen. Er freut sich. Pascal ist stolz auf sich.

Als Pascal nach Hause kommt, sagt seine Mutter, sie hat ein neues Kind. Weil Pascal eine ganz neue Sprache verwendet. Keine Schimpfwörter mehr. Ich hoffe so sehr, dass es doch noch alles gut wird, sagt sie.

Ein Urlaub, sagt Pascal jetzt, war das nicht. Das war anstrengend. Ich hab" viel gelernt, über mich und die menschliche Psyche, sagt er, manchmal habe ich richtig gemerkt, wie in meinem Kopf alle Maschinen arbeiten. Ich bin jetzt ruhiger. Als er in der Schule fälschlicherweise beschuldigt wird, er habe etwas in die Klasse geworfen, gelingt es ihm zu klären, dass er das nicht gewesen ist. Ihm wird geglaubt. Früher, sagt er, wäre ich ausgetickt. Da wär" das wieder schiefgegangen. Und das zweite Gesicht? Das versuche ich jetzt zu bändigen, sagt er.

Zwei Wochen später schreibt Pascal eine Englischarbeit mit null Fehlern, es ist die fünfte Eins in seinem Leben. Seit seiner Rückkehr ist er kein einziges Mal aus dem Unterricht verwiesen worden - aber noch sitzt auch der Betreuer oft mit in der Schule. Er begleitet die kritische Phase der Rückkehr. Pascal hat mit ihm Ziele festgelegt. Eines davon ist die Mittlere Reife.

Im Nachhinein, sagt Pascal, bin ich meiner Mutter nicht böse. Wenn sie früher mehr da gewesen wäre für mich, dann hätte das auch nichts geändert.

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