Erst mal stehe für ihn ein Ortsbesuch an. Wobei es nicht Fridericianum oder Karlsauen sind, die den frisch berufenen künstlerischen Leiter der vierzehnten Ausgabe der Documenta interessieren. 'Dreißig Kilometer von der Stadt entfernt verlief die Grenze zur ehemaligen DDR', sagt Adam Szymczyk, die mit Scharfschützen gesicherten Zaunanlagen und Hundegräben, an denen sich viele Jahrzehnte lang die Blockmächte gegenüber standen. Und die Kassel als Zonenrandlage markierten. Wer sich fragt, warum die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst ausgerechnet dort entstehen konnte, der findet hier die Antwort: Schon Documenta-Gründer Arnold Bode wies auf 'die gefährdete, vorgeschobenene Grenzposition' hin, als er Anfang der Fünfzigerjahre beim 'Verteilungsausschuß der Funklotterie Glück aus dem Äther' um Förderung bat, bevor er sein Projekt erklärte, 'einen Überblick' über Malerei, Bildhauerei und Architektur zu geben, wie er 'bis jetzt weder im In- noch im Ausland gegeben' wurde.
Dass die Ausstellung im Beiprogramm der Bundesgartenschau im Jahr 1955 zur Sensation wurde, lag wohl vor allem an der Anmutung der im Krieg ausgebrannten Ruine des Fridericianums, die Bode, selbst Künstler, mit heller Plastikfolie verhängte, bevor er dort Bilder und Skulpturen zeigte, die im Nationalsozialismus verfemt und verboten waren. Um sein Publikum warb Bode mit Plakaten, die nur ein kleingeschriebenes, himmelblaues 'd' abbildeten, die Einladung daneben aber viersprachig druckten. Der Erfolg der Documenta, die inzwischen alle fünf Jahre stattfindet, resultierte immer schon aus dem Anspruch, gerade in der Randlage die aktuelle Kunst zu reflektieren. Was so überzeugend ausfiel, dass sie - wieder und wieder - als Referenz für eine Szene taugte, die inzwischen von New York bis Peking reicht. Wer hier als Künstler ausstellt, an dem kommt man nicht mehr vorbei.
Dass der im Jahr 1970 im polnischen Piotrkow geborene Adam Szymczyk, derzeit noch Direktor der Kunsthalle in Basel, auf Vorbilder angesprochen, die erste Documenta nennt und die von Catherine David kuratierte Documenta X, passt zu der Ankündigung der Ortsbegehung in den nordhessischen Mittelgebirgen. 'Catherine David war die erste Kuratorin, die auf die Wende reagiert und ihrer Ausstellung ganz andere Koordinaten und Bedingungen vorgegeben hat', sagt Szymczyk. 'Historische Umstände lassen Städte reisen. Kassel war Grenzposten, das ist sicher keine angenehme Position gewesen, aber eine prägnante, herausfordernde Lage. Dann ist es ein bisschen gereist - und jetzt liegt es ganz woanders. Mitten in Deutschland und mitten in Europa.'
Es ist mehr als ein Ablenkungsmanöver des neuen Documenta-Chefs, wenn er die Aufmerksamkeit auf den Ort lenkt, statt sich vorschnell auf Künstlernamen festzulegen. Für Adam Szymczyk war in seiner Arbeit der Ort häufig die entscheidende Größe. Dass eine seiner ersten Ausstellungen Hans Bellmer galt, kann man zwar in seiner Biografie nachlesen, es trifft allerdings nicht wirklich zu. Denn Ausgangspunkt der Betrachtung war Carlsruhe, wo der Puppen-bastelnde Künstler geboren wurde, ein schlesisches Städtchen bei Kattowitz, das sich, anders als das baden-württembergische Karlsruhe, mit C schreibt. Szymczyk: 'Es hat uns fasziniert, dass Bellmer so gar nichts mit Polen zu tun zu haben schien. Es galt also, sein Werk an seinen Geburtsort zurückbringen. Wir wollten im Schlesischen Museum in Kattowitz keine Retrospektive zeigen, sondern eine bestimmte Haltung reflektieren: Dass auch dieses Land Polen aus sehr verschiedenen Traditionen zusammen gesetzt ist. Es ist unsere Aufgabe, das bekanntes Bild etwas komplizierter zu machen.'
So ähnlich hört es sich auch an, wenn Adam Szymczyk seinen Werdegang referiert. Schon das Museum, das er als Jugendlicher für sich entdeckte, trägt einen Namen, der den Inhalt eher camoufliert: Denn in Lodz war zwar das wohl einzige Museum in Polen beheimatet, das sich der zeitgenössischen Kunst verpflichtet fühlte - allerdings war es im Sozialismus undenkbar, ein Adjektiv wie 'modern' oder 'zeitgenössisch' über dessen Portikus zu schreiben. Trotzdem geriet der Vierzehnjährige hier auf einen offiziell gesperrten Seitenweg der Kultur. 1990 zog er dann nach Warschau, um Kunstgeschichte zu studieren. 'Doch seit meiner Matura im späten Frühling hatte eine Transformation stattgefunden, ein Systemwechsel. Die Sicherheit und Langeweile des alten Systems lagen in Scherben', erzählt Adam Szymczyk, der, auch wenn es um ihn selbst geht, nie vergisst, die Zeit und den Ort zu benennen. 'Demokratie war die angenehme Errungenschaft, Markwirtschaft war die nicht so angenehme Erfahrung, vor allem für Studienanfänger.'
Als Kurator sollte er jemand bleiben, der mit solchen Spannungen arbeitet. Die Berlin Biennale, die sich behaglich in der pittoresken Nostalgie von Berlin-Mitte eingerichtet hatte, erweiterte er im Jahr 2008 ausgerechnet um den wuchtigen Mies-van-der-Rohe-Bau am Kulturforum als Spielort. Und als er nach der Jahrtausendwende einer der Verantwortlichen für die Wieder-Eröffnung der Warschauer Foksal Galerie war, lange eine der wenigen Anlaufstellen der zeitgenössischen Avantgarde im Osten, betitelte er seine Schau mit einem aus Überschriften von Robert-Walser-Geschichten zusammengesetzten Ansage: 'Ein Spaziergang ans Ende der Welt'. Der Künstler Cezary Bodzianowsky war über eine telefonischer Standleitung aus dem ehemaligen Dambrau zugeschaltet, wo der Schriftsteller Walser einige Zeit als Diener angestellt gewesen war.
Adam Szymczyk sagt, er schätze an der Documenta, 'dass sie sich nur ihrer Zeit gegenüber rechtfertigte, dass sie stets vorbeiging und selbst nicht zur Autorität wurde. Dass man sie neu lesen und interpretieren durfte'. Ihre Struktur ist dafür sicher entscheidend - oder besser die Tatsache, dass es keine gibt: Die Schau ist nicht an ein Museum angebunden, das seine Bestände bestätigt sehen will. Und sie hat sich einen gelassenen Fünf-Jahres-Rhythmus verordnet, der desto länger erscheint, je hektischer die Szene zwischen Biennalen und Messen verkehrt. Ob man Künstler einlädt, Filme in Auftrag gibt, Kataloge, Hefte oder Zeitschriften verlegt oder lieber in Flugtickets und Hotelübernachtungen investiert, damit an '100 Tagen 1000 Gäste' anreisen, bleibt dem künstlerischen Leiter überlassen. Das versichert sogar der Bürgermeister dem neu angetretenen Documenta-Chef bereitwillig.
Wer die Documenta leitet, ist umso bedeutender, je weniger Verbindlichkeiten darüber hinaus bestehen. Mit Adam Szymczyk aber tritt eine Generation an, die skeptisch ist, wenn man sie als Macher in die Pflicht nimmt - und sei es durch die Ansage vollkommener Gestaltungsfreiheit: 'Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass nicht alles möglich ist', sagt er. 'So eine Behauptung ist Teil einer Inszenierung, bei der es um das Motiv des genialen Kurators geht, der seine Phantasien durchsetzt. Aber muss heute noch ein Einzelner als Autor mit seiner kuratorischen Signatur die Sache abzeichnen?'
Zumindest die Öffentlichkeit scheint Personalien mehr zu schätzen denn je - nach der Pressekonferenz flackern die Blitzlichter im regendunklen Eingang der Documenta-Halle. Und tatsächlich hat in der Vergangenheit noch jede Wahl wie ein Coup gewirkt. Zum einen bleibt da der immer auffallendere Gegensatz zwischen dem biederen Kassel, das hier einen Posten vergibt, der entscheidend beeinflusst, was demnächst in den Galerien von Soho, New York, im Museumsfuturismus der Arabischen Emirate verhandelt wird. Zum anderen war in den vergangenen Jahrzehnten keine Berufung vorhersehbar: Catherine David, Okwui Enwezor, Roger Bürgel, zuletzt Carolyn Christov-Bakargiev waren nur Insidern bekannt. Außerdem ist die Wahl absolut geheim, auch wenn es Monate dauert, bis sich eine Jury, die aus Kollegen besteht, auf sechs Namen geeinigt hat, die zur Vorstellungsrunde in Kassel eingeladen werden.
Das Paradox ist dabei, dass überall in Erklärungsnot gerät, wer sich - als Museumsleiter, Kunstvereinsdirektor oder Professor - um prestigeträchtige Ausstellungsprojekte andernorts bewirbt. Bei der Documenta ist es genau anders herum: Als vor fünf Jahren die Shortlist durch eine Indiskretion bekannt wurde, waren alle blamiert, die nicht in Erwägung gezogen worden waren. 'Wir können es nicht verhindern, dass sich die Bewerber vielleicht am Flughafen begegnen', sagt Bernd Leifeld, Geschäftsführer der Documenta, 'aber hier in Kassel passen wir auf'. Einsame Hotelzimmer, choreografierte Chauffeurdienste gehören zum Finale einer Kandidatenkür, die von Beteiligten als ungewöhnlich harter Auswahlprozess geschildert wird: 'So eine rigorose Diskussion habe ich noch nie erlebt', erzählte eins der acht Jurymitglieder schon nach den ersten Begegnungen. Doch dafür ist die Entscheidung dann auch von einer seltenen Verbindlichkeit. Denn während sich andernorts Kultusminister, Verwaltungs-Chefs und Aufsichtsräte routiniert über Empfehlungen hinwegsetzen, haben sich die Vertreter der Stadt Kassel und des Landes Hessen, die im Aufsichtsrat der Documenta sitzen, auferlegt, der Jury-Entscheidung zu folgen.
Seit in London, Katar, Moskau, Schanghai vor allem zeitgenössische Kunst zum bevorzugten Gadget eines nie gekannten Super-Reichtums avancierte und jedes Museums-Board in den USA mit Sammlern besetzt wird; seit man Galeristen als Museumsdirektoren beruft und Händler machtvoll über Künstlernachlässe herrschen, ist ein grimmiger Rat von lokalen Volksvertretern nicht die schlechteste Konstellation. Denn als autonom behaupten muss sich die Kunst heute vor allem ihrer eigenen Sphäre gegenüber. Schon Harald Szeemann begegnete während der Vorbereitung seiner legendären fünften Documenta den drohenden Beschwerden eines ausgeladenen US-Künstlers mit einem selbstbewussten 'Long live Europe'.
Das kriegszerstörte Kassel bleibt dafür eine glaubwürdige Kulisse. Am Rand der sechsspurigen Autoschneise, die das Fridericianum von der Documenta-Halle abschneidet, erscheint jede geostrategische Kultur-Verschwörungsthese plausibel: Verfehlter Wiederaufbau, kulturelle Neuprägung der jungen Bundesrepublik. Da wirkt die Berufung eines in der Schweiz arbeitenden Polen fast schon wie eine Zwangsläufigkeit. Denn Kassel wird alle fünf Jahre einen Sommer lang um ein paar Breitengrade ins Zentrum der Kunstwelt verschoben. Wenn gerade nicht Documenta ist, vergeht die Zeit hier langsamer. 'Nein', sagt Bernd Leifeld, 'das ist nur die Ampelschaltung'. Irgendwann hat er dafür gesorgt, dass das Kunstpublikum hier länger Grün hat als sonst. Das nächste Mal wieder zur Vernissage der nächsten Documenta, am 10. Juni 2017.
Dass die Ausstellung im Beiprogramm der Bundesgartenschau im Jahr 1955 zur Sensation wurde, lag wohl vor allem an der Anmutung der im Krieg ausgebrannten Ruine des Fridericianums, die Bode, selbst Künstler, mit heller Plastikfolie verhängte, bevor er dort Bilder und Skulpturen zeigte, die im Nationalsozialismus verfemt und verboten waren. Um sein Publikum warb Bode mit Plakaten, die nur ein kleingeschriebenes, himmelblaues 'd' abbildeten, die Einladung daneben aber viersprachig druckten. Der Erfolg der Documenta, die inzwischen alle fünf Jahre stattfindet, resultierte immer schon aus dem Anspruch, gerade in der Randlage die aktuelle Kunst zu reflektieren. Was so überzeugend ausfiel, dass sie - wieder und wieder - als Referenz für eine Szene taugte, die inzwischen von New York bis Peking reicht. Wer hier als Künstler ausstellt, an dem kommt man nicht mehr vorbei.
Dass der im Jahr 1970 im polnischen Piotrkow geborene Adam Szymczyk, derzeit noch Direktor der Kunsthalle in Basel, auf Vorbilder angesprochen, die erste Documenta nennt und die von Catherine David kuratierte Documenta X, passt zu der Ankündigung der Ortsbegehung in den nordhessischen Mittelgebirgen. 'Catherine David war die erste Kuratorin, die auf die Wende reagiert und ihrer Ausstellung ganz andere Koordinaten und Bedingungen vorgegeben hat', sagt Szymczyk. 'Historische Umstände lassen Städte reisen. Kassel war Grenzposten, das ist sicher keine angenehme Position gewesen, aber eine prägnante, herausfordernde Lage. Dann ist es ein bisschen gereist - und jetzt liegt es ganz woanders. Mitten in Deutschland und mitten in Europa.'
Es ist mehr als ein Ablenkungsmanöver des neuen Documenta-Chefs, wenn er die Aufmerksamkeit auf den Ort lenkt, statt sich vorschnell auf Künstlernamen festzulegen. Für Adam Szymczyk war in seiner Arbeit der Ort häufig die entscheidende Größe. Dass eine seiner ersten Ausstellungen Hans Bellmer galt, kann man zwar in seiner Biografie nachlesen, es trifft allerdings nicht wirklich zu. Denn Ausgangspunkt der Betrachtung war Carlsruhe, wo der Puppen-bastelnde Künstler geboren wurde, ein schlesisches Städtchen bei Kattowitz, das sich, anders als das baden-württembergische Karlsruhe, mit C schreibt. Szymczyk: 'Es hat uns fasziniert, dass Bellmer so gar nichts mit Polen zu tun zu haben schien. Es galt also, sein Werk an seinen Geburtsort zurückbringen. Wir wollten im Schlesischen Museum in Kattowitz keine Retrospektive zeigen, sondern eine bestimmte Haltung reflektieren: Dass auch dieses Land Polen aus sehr verschiedenen Traditionen zusammen gesetzt ist. Es ist unsere Aufgabe, das bekanntes Bild etwas komplizierter zu machen.'
So ähnlich hört es sich auch an, wenn Adam Szymczyk seinen Werdegang referiert. Schon das Museum, das er als Jugendlicher für sich entdeckte, trägt einen Namen, der den Inhalt eher camoufliert: Denn in Lodz war zwar das wohl einzige Museum in Polen beheimatet, das sich der zeitgenössischen Kunst verpflichtet fühlte - allerdings war es im Sozialismus undenkbar, ein Adjektiv wie 'modern' oder 'zeitgenössisch' über dessen Portikus zu schreiben. Trotzdem geriet der Vierzehnjährige hier auf einen offiziell gesperrten Seitenweg der Kultur. 1990 zog er dann nach Warschau, um Kunstgeschichte zu studieren. 'Doch seit meiner Matura im späten Frühling hatte eine Transformation stattgefunden, ein Systemwechsel. Die Sicherheit und Langeweile des alten Systems lagen in Scherben', erzählt Adam Szymczyk, der, auch wenn es um ihn selbst geht, nie vergisst, die Zeit und den Ort zu benennen. 'Demokratie war die angenehme Errungenschaft, Markwirtschaft war die nicht so angenehme Erfahrung, vor allem für Studienanfänger.'
Als Kurator sollte er jemand bleiben, der mit solchen Spannungen arbeitet. Die Berlin Biennale, die sich behaglich in der pittoresken Nostalgie von Berlin-Mitte eingerichtet hatte, erweiterte er im Jahr 2008 ausgerechnet um den wuchtigen Mies-van-der-Rohe-Bau am Kulturforum als Spielort. Und als er nach der Jahrtausendwende einer der Verantwortlichen für die Wieder-Eröffnung der Warschauer Foksal Galerie war, lange eine der wenigen Anlaufstellen der zeitgenössischen Avantgarde im Osten, betitelte er seine Schau mit einem aus Überschriften von Robert-Walser-Geschichten zusammengesetzten Ansage: 'Ein Spaziergang ans Ende der Welt'. Der Künstler Cezary Bodzianowsky war über eine telefonischer Standleitung aus dem ehemaligen Dambrau zugeschaltet, wo der Schriftsteller Walser einige Zeit als Diener angestellt gewesen war.
Adam Szymczyk sagt, er schätze an der Documenta, 'dass sie sich nur ihrer Zeit gegenüber rechtfertigte, dass sie stets vorbeiging und selbst nicht zur Autorität wurde. Dass man sie neu lesen und interpretieren durfte'. Ihre Struktur ist dafür sicher entscheidend - oder besser die Tatsache, dass es keine gibt: Die Schau ist nicht an ein Museum angebunden, das seine Bestände bestätigt sehen will. Und sie hat sich einen gelassenen Fünf-Jahres-Rhythmus verordnet, der desto länger erscheint, je hektischer die Szene zwischen Biennalen und Messen verkehrt. Ob man Künstler einlädt, Filme in Auftrag gibt, Kataloge, Hefte oder Zeitschriften verlegt oder lieber in Flugtickets und Hotelübernachtungen investiert, damit an '100 Tagen 1000 Gäste' anreisen, bleibt dem künstlerischen Leiter überlassen. Das versichert sogar der Bürgermeister dem neu angetretenen Documenta-Chef bereitwillig.
Wer die Documenta leitet, ist umso bedeutender, je weniger Verbindlichkeiten darüber hinaus bestehen. Mit Adam Szymczyk aber tritt eine Generation an, die skeptisch ist, wenn man sie als Macher in die Pflicht nimmt - und sei es durch die Ansage vollkommener Gestaltungsfreiheit: 'Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass nicht alles möglich ist', sagt er. 'So eine Behauptung ist Teil einer Inszenierung, bei der es um das Motiv des genialen Kurators geht, der seine Phantasien durchsetzt. Aber muss heute noch ein Einzelner als Autor mit seiner kuratorischen Signatur die Sache abzeichnen?'
Zumindest die Öffentlichkeit scheint Personalien mehr zu schätzen denn je - nach der Pressekonferenz flackern die Blitzlichter im regendunklen Eingang der Documenta-Halle. Und tatsächlich hat in der Vergangenheit noch jede Wahl wie ein Coup gewirkt. Zum einen bleibt da der immer auffallendere Gegensatz zwischen dem biederen Kassel, das hier einen Posten vergibt, der entscheidend beeinflusst, was demnächst in den Galerien von Soho, New York, im Museumsfuturismus der Arabischen Emirate verhandelt wird. Zum anderen war in den vergangenen Jahrzehnten keine Berufung vorhersehbar: Catherine David, Okwui Enwezor, Roger Bürgel, zuletzt Carolyn Christov-Bakargiev waren nur Insidern bekannt. Außerdem ist die Wahl absolut geheim, auch wenn es Monate dauert, bis sich eine Jury, die aus Kollegen besteht, auf sechs Namen geeinigt hat, die zur Vorstellungsrunde in Kassel eingeladen werden.
Das Paradox ist dabei, dass überall in Erklärungsnot gerät, wer sich - als Museumsleiter, Kunstvereinsdirektor oder Professor - um prestigeträchtige Ausstellungsprojekte andernorts bewirbt. Bei der Documenta ist es genau anders herum: Als vor fünf Jahren die Shortlist durch eine Indiskretion bekannt wurde, waren alle blamiert, die nicht in Erwägung gezogen worden waren. 'Wir können es nicht verhindern, dass sich die Bewerber vielleicht am Flughafen begegnen', sagt Bernd Leifeld, Geschäftsführer der Documenta, 'aber hier in Kassel passen wir auf'. Einsame Hotelzimmer, choreografierte Chauffeurdienste gehören zum Finale einer Kandidatenkür, die von Beteiligten als ungewöhnlich harter Auswahlprozess geschildert wird: 'So eine rigorose Diskussion habe ich noch nie erlebt', erzählte eins der acht Jurymitglieder schon nach den ersten Begegnungen. Doch dafür ist die Entscheidung dann auch von einer seltenen Verbindlichkeit. Denn während sich andernorts Kultusminister, Verwaltungs-Chefs und Aufsichtsräte routiniert über Empfehlungen hinwegsetzen, haben sich die Vertreter der Stadt Kassel und des Landes Hessen, die im Aufsichtsrat der Documenta sitzen, auferlegt, der Jury-Entscheidung zu folgen.
Seit in London, Katar, Moskau, Schanghai vor allem zeitgenössische Kunst zum bevorzugten Gadget eines nie gekannten Super-Reichtums avancierte und jedes Museums-Board in den USA mit Sammlern besetzt wird; seit man Galeristen als Museumsdirektoren beruft und Händler machtvoll über Künstlernachlässe herrschen, ist ein grimmiger Rat von lokalen Volksvertretern nicht die schlechteste Konstellation. Denn als autonom behaupten muss sich die Kunst heute vor allem ihrer eigenen Sphäre gegenüber. Schon Harald Szeemann begegnete während der Vorbereitung seiner legendären fünften Documenta den drohenden Beschwerden eines ausgeladenen US-Künstlers mit einem selbstbewussten 'Long live Europe'.
Das kriegszerstörte Kassel bleibt dafür eine glaubwürdige Kulisse. Am Rand der sechsspurigen Autoschneise, die das Fridericianum von der Documenta-Halle abschneidet, erscheint jede geostrategische Kultur-Verschwörungsthese plausibel: Verfehlter Wiederaufbau, kulturelle Neuprägung der jungen Bundesrepublik. Da wirkt die Berufung eines in der Schweiz arbeitenden Polen fast schon wie eine Zwangsläufigkeit. Denn Kassel wird alle fünf Jahre einen Sommer lang um ein paar Breitengrade ins Zentrum der Kunstwelt verschoben. Wenn gerade nicht Documenta ist, vergeht die Zeit hier langsamer. 'Nein', sagt Bernd Leifeld, 'das ist nur die Ampelschaltung'. Irgendwann hat er dafür gesorgt, dass das Kunstpublikum hier länger Grün hat als sonst. Das nächste Mal wieder zur Vernissage der nächsten Documenta, am 10. Juni 2017.