Vaters Silis hat einen Tag lang geglaubt, dass er Amerikaner wird. Da war er gerade neun Jahre alt und Bill Clinton kam zum ersten Mal nach Lettland, samt Hillary und Chelsea. Als er im Fernsehen sah, wie die Präsidentenmaschine auf dem Flughafen landete, da hoffte er, dass Bill gekommen war, um sie alle zu Amerikanern zu machen.
Das Festival Nordwind schafft einen Einblick in die lettische Geschichte und öffnet sich auch sonst verstärkt dem Baltikum.
Silis und seine drei Mitspieler gehen in ihrer Performance „Change of Hope“ Kindheitserinnerungen nach. Und weil sie in den Achtzigerjahren geboren sind und in einem Land aufwuchsen, das es noch nicht lange gab, sind die privaten Geschichten oft eng mit dem Zustand Lettlands verbunden. Etwa wenn die lettischen Behörden versuchen, mit einer riesigen Torte für Schulkinder ins Guinnessbuch der Rekorde zu kommen – ein Plan, der daran scheitert, dass niemand ihre Höhe misst. Oder wenn der kleine Silis seinen Verwandten, die kein Geld mehr haben, rät: „Dann müsst ihr eben euer Haus verkaufen. Das ist der Kapitalismus.“
Die Performer – drei Letten und ein Finne – spielen all das sehr charmant. Sie tanzen zu grässlichen 80er-Jahre-Aerobic-Videos, stellen die prägnanten Szenen ihrer Jugend nach und bemalen die Folien eines Overhead-Projektors (das ist zur Zeit europaweit Performer-Mode, wahrscheinlich werden die Geräte inzwischen ausschließlich an Theater verkauft). So bekannt einem diese Ästhetik vorkommt, so neu ist der Inhalt: ein amüsanter Einblick in die lettische Geschichte – und den Blick eines Außenseiters auf Europa.
Das Festival Nordwind hat es sich zum Ziel gesetzt, solche Einblicke zu geben. 2006 wurde es in Berlin als Plattform für Theater, Tanz und Performance aus den skandinavischen Ländern gegründet. In diesem Jahr öffnet es sich verstärkt dem Baltikum. Das macht Sinn: Der lettische Regisseur Alvis Hermanis ist auch hierzulande ein Star. In Städten wie Riga gibt es zunehmend kleine, experimentelle Alternativen zum pompösen Nationaltheater. Und vielleicht sind es auch einfach gute Geschichten, die aus den kleinen baltischen Ländern kommen, die erst den Zusammenbruch der Sowjetunion und dann den Anschluss an Europa erlebt haben. Ein kultureller Mix, der in „Change of Hope“ einmal so definiert wird: „Wir haben die Eloquenz der Schweden, die Melancholie der Finnen und die Leidenschaft der Russen.“
Aus Lettland und Litauen stammen jedenfalls die interessantesten Produktionen, die in Berlin im Hebbel-Theater am Ufer (HAU) und – zum ersten Mal fand das Festival in drei Städten statt – in Dresden in Hellerau und in Hamburg auf Kampnagel zu sehen waren. Eine typisch baltische oder typisch nordische Ästhetik lässt sich dabei nicht erkennen. Kuratorin Ricarda Ciontos ist vielmehr davon fasziniert, dass in den nordischen Ländern jeder Künstler seinen eigenen Weg suche: „Die orientieren sich nicht am mitteleuropäischen Geschmack.“ Während man sich in Deutschland oder in den Niederlanden ständig selbst zitiere und kopiere, gebe es dort mehr Mut zur Eigenständigkeit.
Auf „Nachtasyl“ vom Vilnius City Theatre, einen der Höhepunkte des Festivals, trifft das auf jeden Fall zu. Der litauische Regisseur Oskaras Koršunovas hat Gorkis Stück über einen Haufen gescheiterter Menschen auf wenige Figuren verdichtet. Die sitzen an einer weißen Tafel, die leer ist bis auf ein paar Cracker und Schnapsgläser. Erste Überraschung: Litauische Schauspieler trinken, wie man riechen kann, echten Schnaps, und das nicht zu knapp.
Das macht Sinn, denn alles an ihrem Spiel ist intensiv: Man trinkt, man philosophiert, man erniedrigt und beleidigt sich. Einer verzieht sich zum Beten. Und wie man dann, immer wenn es still ist, ein Murmeln hört, das erinnert in seiner Zartheit und leisen Poesie an die Arbeiten von Jürgen Gosch. Dass zwischendurch das Publikum angespielt wird, scheint diesem Konzept zuwiderzulaufen. Aber es passt dann doch. Einer der Schauspieler klettert über die Sitze, um mit einem Zuschauer Bruderschaft zu trinken. Er erklärt ihm: „Du bist erst ein Mensch, wenn du besoffen bist.“ Ein Credo, das die Figuren beherzigen.
Während in der Mitte der Bühne die Menschen zugrunde gehen, sich bewusstlos saufen, prügeln und schließlich erhängen, sind rechts Dias zu sehen: Meer, Wald, Dünen, entrückt und idyllisch, immer scheint die Sonne. Schönheit, sagen diese Bilder, ist da, wo die Menschen nicht sind. Eine Idee, auf die man in der Weite Litauens vielleicht eher kommt als anderswo.
Das Festival Nordwind schafft einen Einblick in die lettische Geschichte und öffnet sich auch sonst verstärkt dem Baltikum.
Silis und seine drei Mitspieler gehen in ihrer Performance „Change of Hope“ Kindheitserinnerungen nach. Und weil sie in den Achtzigerjahren geboren sind und in einem Land aufwuchsen, das es noch nicht lange gab, sind die privaten Geschichten oft eng mit dem Zustand Lettlands verbunden. Etwa wenn die lettischen Behörden versuchen, mit einer riesigen Torte für Schulkinder ins Guinnessbuch der Rekorde zu kommen – ein Plan, der daran scheitert, dass niemand ihre Höhe misst. Oder wenn der kleine Silis seinen Verwandten, die kein Geld mehr haben, rät: „Dann müsst ihr eben euer Haus verkaufen. Das ist der Kapitalismus.“
Die Performer – drei Letten und ein Finne – spielen all das sehr charmant. Sie tanzen zu grässlichen 80er-Jahre-Aerobic-Videos, stellen die prägnanten Szenen ihrer Jugend nach und bemalen die Folien eines Overhead-Projektors (das ist zur Zeit europaweit Performer-Mode, wahrscheinlich werden die Geräte inzwischen ausschließlich an Theater verkauft). So bekannt einem diese Ästhetik vorkommt, so neu ist der Inhalt: ein amüsanter Einblick in die lettische Geschichte – und den Blick eines Außenseiters auf Europa.
Das Festival Nordwind hat es sich zum Ziel gesetzt, solche Einblicke zu geben. 2006 wurde es in Berlin als Plattform für Theater, Tanz und Performance aus den skandinavischen Ländern gegründet. In diesem Jahr öffnet es sich verstärkt dem Baltikum. Das macht Sinn: Der lettische Regisseur Alvis Hermanis ist auch hierzulande ein Star. In Städten wie Riga gibt es zunehmend kleine, experimentelle Alternativen zum pompösen Nationaltheater. Und vielleicht sind es auch einfach gute Geschichten, die aus den kleinen baltischen Ländern kommen, die erst den Zusammenbruch der Sowjetunion und dann den Anschluss an Europa erlebt haben. Ein kultureller Mix, der in „Change of Hope“ einmal so definiert wird: „Wir haben die Eloquenz der Schweden, die Melancholie der Finnen und die Leidenschaft der Russen.“
Aus Lettland und Litauen stammen jedenfalls die interessantesten Produktionen, die in Berlin im Hebbel-Theater am Ufer (HAU) und – zum ersten Mal fand das Festival in drei Städten statt – in Dresden in Hellerau und in Hamburg auf Kampnagel zu sehen waren. Eine typisch baltische oder typisch nordische Ästhetik lässt sich dabei nicht erkennen. Kuratorin Ricarda Ciontos ist vielmehr davon fasziniert, dass in den nordischen Ländern jeder Künstler seinen eigenen Weg suche: „Die orientieren sich nicht am mitteleuropäischen Geschmack.“ Während man sich in Deutschland oder in den Niederlanden ständig selbst zitiere und kopiere, gebe es dort mehr Mut zur Eigenständigkeit.
Auf „Nachtasyl“ vom Vilnius City Theatre, einen der Höhepunkte des Festivals, trifft das auf jeden Fall zu. Der litauische Regisseur Oskaras Koršunovas hat Gorkis Stück über einen Haufen gescheiterter Menschen auf wenige Figuren verdichtet. Die sitzen an einer weißen Tafel, die leer ist bis auf ein paar Cracker und Schnapsgläser. Erste Überraschung: Litauische Schauspieler trinken, wie man riechen kann, echten Schnaps, und das nicht zu knapp.
Das macht Sinn, denn alles an ihrem Spiel ist intensiv: Man trinkt, man philosophiert, man erniedrigt und beleidigt sich. Einer verzieht sich zum Beten. Und wie man dann, immer wenn es still ist, ein Murmeln hört, das erinnert in seiner Zartheit und leisen Poesie an die Arbeiten von Jürgen Gosch. Dass zwischendurch das Publikum angespielt wird, scheint diesem Konzept zuwiderzulaufen. Aber es passt dann doch. Einer der Schauspieler klettert über die Sitze, um mit einem Zuschauer Bruderschaft zu trinken. Er erklärt ihm: „Du bist erst ein Mensch, wenn du besoffen bist.“ Ein Credo, das die Figuren beherzigen.
Während in der Mitte der Bühne die Menschen zugrunde gehen, sich bewusstlos saufen, prügeln und schließlich erhängen, sind rechts Dias zu sehen: Meer, Wald, Dünen, entrückt und idyllisch, immer scheint die Sonne. Schönheit, sagen diese Bilder, ist da, wo die Menschen nicht sind. Eine Idee, auf die man in der Weite Litauens vielleicht eher kommt als anderswo.