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Die Luft ist raus

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Bei der Vorstellung der Mietfahrräder im Jahr 2010 drehte Londons Bürgermeister Boris Johnson grinsend ein paar Runden für die Kameras. Sein teurer Anzug war wie üblich verknittert, seine blonden Haare flatterten im Wind, und manchmal hob Johnson vorsichtig eine Hand vom Lenker, um freundlich zu winken. Anschließend hielt er eine seiner ziellos mäandernden Reden und gab seiner Hoffnung Ausdruck, die neuen blauen „Barclays Bikes“ würden bald ebenso für London stehen wie schwarze Taxis und rote Busse. Mehr als 20 Millionen Mal sind die Räder seitdem innerhalb Londons genutzt worden. Jetzt hat die Bank Barclays bekanntgegeben, sie werde ihren 2015 auslaufenden Vertrag als Sponsor nicht verlängern. Die Zukunft der Räder ist damit ungewiss.



Die Sponsoren der "Boris Bikes" werden den Vertrag nicht verlängern. Die Versuche einen neuen Sponsoren zu finden, misslangen.

Die Gründe für den Rückzug der Bank sind etwas rätselhaft. Barclays und Bürgermeister Johnson sind oft dafür kritisiert worden, dass sie einen Hinterzimmer-Deal ausgetüftelt hätten, bei dem die Bank viel zu gut wegkomme. 25 Millionen Pfund hat das Unternehmen für fünf Jahre bezahlt, dafür steht der Name an jedem der 8000 Räder, die sich beständig durch London bewegen, zudem an jeder der 570 Mietstationen. Ein Schnäppchen, finden Kritiker. Eine Verlängerung des Vertrags bis 2018 hätte Barclays weitere 25 Millionen Pfund gekostet. Nach Informationen des Guardian hat Bürgermeister Johnson im Hintergrund eifrig versucht, einen neuen Sponsor zu finden, bevor Barclays den Ausstieg verkündet. Das misslang.

Im üblichen Konzernsprech teilte die Bank mit, man habe eine „strategische Überarbeitung der Sponsoren-Programme“ vorgenommen und sich „aus kommerziellen Gründen“ gegen die Weiterführung des Engagements entschieden. Wahrscheinlicher ist, dass es zwei andere Gründe waren, die die Bank zum Rückzug bewegten, ein lustiger, ein ernster.

Der lustige Grund: Niemand in London nennt die Räder „Barclays Bikes“, sie heißen nach dem Bürgermeister „Boris Bikes“. In privaten Gesprächen erzählen Finanzmenschen seit Längerem, wie sehr das den Marketing-Leuten von Barclays auf die Nerven falle. Es herrsche dort das Gefühl, man bezahle in Wahrheit eine Imagekampagne für den Bürgermeister.

Der ernste Grund: In den vergangenen Wochen ist eine Diskussion über die Sicherheit auf Londons Straßen entbrannt. In diesem Jahr sind 14 Radler im Verkehr zu Tode gekommen, das liegt im Durchschnitt. Sechs von ihnen starben jedoch Anfang November innerhalb von 13 Tagen. Der Evening Standard fragte daraufhin, was eigentlich gefährlicher sei: in London Rad zu fahren oder in Afghanistan in der britischen Armee zu dienen? Zumindest, schrieb der Standard, seien weniger Soldaten als Radfahrer umgekommen.

Nicht überall wurde die Diskussion derart zugespitzt geführt, aber doch durchweg erregt. War London zur Todesfalle für Radfahrer geworden? Gut möglich, dass auch diese Debatten der Marketing-Abteilung der Bank das Gefühl gaben, um Fahrräder künftig besser einen Bogen zu machen.

Dabei ist Radfahren in London längst nicht mehr so gefährlich wie vor zehn oder fünfzehn Jahren. Boris Johnson ist selbst Radfahrer, er hat seit seiner Wahl im Jahr 2008 viel für die Radler getan. Dafür lässt er sich gerne feiern und verschweigt stets, dass er auf den Vorarbeiten seines Vorgängers Ken Livingstone aufbauen konnte. Livingstone hat 2003 eine Gebühr für Autos eingeführt, die in die Innenstadt fahren wollen, und damit das Verkehrsaufkommen im Zentrum verringert. Vor allen Dingen hat er die Einführung der Mietfahrräder initiiert. Doch bis sein Herzensprojekt an den Start ging, hatte er eine Wahl verloren, und so musste er erleben, dass die Räder nicht als „Ken Bikes“ in die Geschichte der Stadt eingingen, sondern nun den Namen seines Rivalen tragen.

Mittlerweile hat Boris Johnson in der Londoner Innenstadt ein paar sogenannte Fahrrad-Autobahnen einrichten lassen, schon seit Livingstones Zeit, der von 2000 bis 2008 Bürgermeister war, wird das Radwegenetz beständig ausgebaut. Es ist noch nicht so dicht wie in vielen europäischen Großstädten, aber viel, viel besser als vor 15 Jahren; damals fuhren nur Irre und Lebensmüde in London mit dem Rad.

Viele Aktivisten, unter ihnen auch der ehemalige Bahnrad-Olympiasieger Chris Boardman, haben nach den vielen Todesfällen gefordert, dass Lastwagen zu Stoßzeiten aus der Innenstadt verbannt werden. Neun der 14 Toten dieses Jahres sind umgekommen, weil sie in den toten Winkel eines Lasters geraten waren, der gerade links abbog.

Boris Johnson steht der Forderung skeptisch gegenüber, doch bereits Anfang des Jahres hat er eine neue Stelle im Rathaus geschaffen, die den Radlern zugutekommen wird: Seit Januar ist Andrew Gilligan der erste Fahrrad-Beauftragte der Hauptstadt. Gilligan ist ein so beliebter wie begehrter Mann, denn er hat die Aufgabe, bis 2020 rund eine Milliarde Pfund für Fahrrad-Infrastruktur in London auszugeben. Eher nebenbei obliegt es ihm auch, einen neuen Sponsor für die „Boris Bikes“ zu finden – und vielleicht einen etwas besseren Vertrag abzuschließen als sein Chef.

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