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Aufstand gegen Amazon

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Pünktlich zur Zeit der Weihnachtsgeschenke also die Moralfrage: Darf ich bei Online-Händlern einkaufen und gerade bei diesem total bequemen Marktführer Amazon? Liegen dort doch zwischen Geschenkauswahl und -bestellung gefühlt nur zehn Sekunden – die „One-Click“-Funktion macht’s möglich.

Aber zu welchem Preis, fragen jetzt Gewerkschaften und Kirchen? Am Montag begannen an deutschen Standorten und sogar vor der Amazon-Konzernzentrale in Seattle Protestaktionen, die teils bis Freitag andauern sollen. Seit Jahren schon kämpft vor allem die Gewerkschaft Verdi beim weltgrößten Internet-Versandhändler um höhere Löhne und tarifliche Regelungen, wie sie im Einzelhandel gelten.



Die Mitarbeiter von Amazon streiken vor der Auslieferungshalle. Sie fordern einen flächendeckenden Tarifvertrag.

Doch der Konzern des US-Milliardärs Jeff Bezos will es halten wie in den USA: Bezahlt wird nur, wie es in der vergleichsweise schlechter gestellten Logistikbranche üblich ist. Das bestellte Geschenk aus dem Hochregal ziehen, aufs Förderband legen, verpacken und abschicken Richtung Gabentisch, das ungefähr ist der Aufgabenumfang der Mitarbeiter. Und das habe nichts mit Beratung oder Einzelhandel zu tun, sondern eben nur mit Logistik, heißt es bei Amazon. Mit 9 Euro und 55 Cent als Einstiegslohn lägen die Amazon-Mitarbeiter zudem am oberen Ende der Verdienstskala der deutschen Logistik-Industrie.

Die Verdi-Vorstandsfrau Stefanie Nutzenberger sagt dagegen: „Das System Amazon ist geprägt von niedrigen Löhnen, permanentem Leistungsdruck und befristeten Arbeitsverhältnissen.“ Gut 1100 der 23000 deutschen Amazon-Mitarbeiter beteiligten sich nach Angaben von Amazon am Montag an den Standorten Bad Hersfeld, Leipzig und erstmals auch in Graben bei Augsburg. Dorthin zum schwäbischen Lager war auch Diözesanpräses Erwin Helmer von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung gekommen. „An der Oberfläche hat sich bei Amazon manches verbessert, es gibt etwa höhere Löhne und ein kleines Weihnachtsgeld“, sagte er, während im Hintergrund Trillerpfeifen zu hören waren. „Aber einen sicheren Tarifvertrag gibt es immer noch nicht, und der psychische Druck durch Vorgesetzte ist weiter enorm.“ Sobald ein Lagerarbeiter einige Minuten stehe, werde er angesprochen.

Alles werde gemessen und überwacht. Angesichts des Drucks sei die Teilnehmerzahl sehr ordentlich: „Es gibt viele, die den Mut gefasst haben, aber natürlich trauen sich etwa Alleinerziehende, die auf jeden Cent angewiesen sind, weniger Protest zu.“

Vor dem Hauptquartier in Seattle spannten deutsche Gewerkschafter begleitet von US-Arbeitnehmervertretern am Montagvormittag (Ortszeit) ein Banner: „Work hard, make history: Tarifvertrag für Amazon!“ Es war das erste Mal, dass Verdi im Ausland für ein deutsches Anliegen kämpft, das aber doch auch ein weltumspannendes ist, wie Philip Jennings, Generalsekretär des Gewerkschafts-Weltverbandes Uni Global Union erklärte: „Ihr seid nicht allein“, sagte Jennings und nutzte den deutschen Vorstoß aus. Amazon müsse seine gewerkschaftsfeindliche Haltung überdenken – in den USA etwa scheiterten Arbeitnehmerproteste bei Amazon zuletzt: „Wir fordern das Unternehmen auf, ein weltweit gültiges Abkommen über Mitarbeiterrechte zu unterzeichnen.“

Massive, unangenehme Vorwürfe für das Unternehmen, wenn es auch abwiegelt und eine weiter zuverlässige Zustellung verspricht: Ausländische Standorte würden aushelfen, und im Übrigen sei die große Mehrheit der Belegschaft zum Dienst erschienen. Aber es ist auch unangenehm für die Kunden, die trotz der Beschwichtigungen fürchten, das einige der liebevoll ausgewählten Versandhandelsgeschenke nicht rechtzeitig unter den Baum kommen. Und dann sind eben einige ins Nachdenken gekommen: Kann ich da noch einkaufen?

Von der Macht und Möglichkeit der Kunden ein Zeichen zu setzen, spricht Präses Helmer und die Gewerkschaft Verdi klingt ganz ähnlich. Die evangelische Pfarrerin und ehemalige Unternehmensberaterin Petra Bahr geht noch weiter: Sie hat vor zwei Jahren ihr Amazon-Konto gekündigt wegen all der Daten, die dort gesammelt wurden, wegen all der Mainstream-Produkte, die dort feilgeboten wurden.

Und wegen der Doppelmoral: „Im Bioladen einkaufen fürs Gewissen und dann bei Amazon eine Klassik-CD oder Weltliteratur zu bestellen, um dem Weihnachtsstress zu entkommen, das hat etwas Irritierendes“, sagt Bahr, die auch Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ist. „Selbst der kultivierte Mittelstand denkt kaum noch an den Zustand in den gigantischen tristen Lagerhallen und an den Produktionsorten, oder sie haben intelligente Ausreden, etwa den 10-Stunden-Job in der Kanzlei oder Praxis.“ In Berlin-Mitte wohnt die Theologin mit ihrer Familie, die Gegend der Kulturbürger, die keine Zeit mehr haben fürs Shoppen. In Bahrs Flur stapeln sich die Pakete der Nachbarn – von Amazon, Zalando und all den anderen Versandkonzernen.

Wobei sie das nicht als generelle oder gar dogmatische Konsumkritik oder Internetkritik verstanden haben will: „Konsum macht den Menschen Spaß!“ Und das Internet bringe auch ihr so viele Ideen, Modelabels etwa, die ihre selbst gefertigten Sachen auf eigenen Seiten anbieten. Oder das spezielle Bauteil für eine Brio–Eisenbahn, das von einem Ingenieur entwickelt und privat vertrieben wird.

Was fehle, sei eine Kultur im Umgehen mit den Digitaltechnologien. „Wenn sich Phantasie und Moral verbinden, wäre das schön, wenn wir überlegen, wie es möglichst vielen möglichst gut geht bei unserem Handeln, und wenn wir erkennen, dass wir eigene Spielräume haben, auch in der Welt, die von Konzernen beherrscht scheint.“ Wobei die Spielräume auch noch für Anhänger des bequemen Amazon-Weihnachts–Shoppings gegeben sind: Wer bis zum Freitag um 23.59 Uhr bei dem Händler bestellt, wird sein Geschenk angeblich rechtzeitig bekommen.

Allerdings haben zwei Standorte bereits mitgeteilt, weiter zu streiken: Bad Hersfeld bis Mittwoch. Und Leipzig gar bis Freitag.

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