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Das Folterschiff

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Der Angeklagte soll im Jahr 2010 vor der somalischen Küste einer der Hauptverantwortlichen für die Entführung des Chemietankers 'Marida Marguerite' gewesen sein. Jetzt steht er in Osnabrück vor Gericht.

Die Fleischkammer bleibt in Erinnerung, von der ein Seemann nach seinem Martyrium erzählte, dieser gekühlte kleine Raum, wo das Fleisch für die Mahlzeiten an Bord lagert. Sie zogen ihm das T-Shirt aus, die Hose herunter, sie fesselten ihm die Hände hinter dem Rücken mit Kabelbindern. Dann stießen ihn die Piraten hinein. Als er herumhüpfte bei minus 17 Grad, um nicht zu erfrieren, öffneten sie noch einmal die Tür und fesselten ihn an einen Fleischhaken, eine halbe Stunde lang vielleicht. So erzählt es der ukrainische Chefingenieur der Marida Marguerite, dem Tanker einer Reederei aus Haren an der Ems, der 2010 für 234 Tage in den Händen somalischer Piraten war. Seither nennt man ihn: das Folterschiff.

Und dieser Mann nun soll der Anführer sein? Eine unscheinbare Person im Kapuzenpullover tritt am Dienstag ins Osnabrücker Landgericht, schüchtern lächelnd, Brillenträger. Einen Oberpiraten stellt man sich furchteinflößender vor. Der Somalier versteht kein Wort von der Anklage, die Oberstaatsanwalt Hubert Feldkamp verliest, Grausamkeiten in Kurzform: Die Scheinhinrichtung des Kapitäns; der Chefingenieur, kopfüber über die Reling gehängt; „mit Kabelbindern abgebundene Genitalien.“

Der Somalier sei dabei der Investor gewesen, sagt der Ankläger. Er habe die Entführung finanziert, die Kalaschnikows und Panzerfäuste, die kleinen Boote, die Kaudroge Kath, was man so braucht als Kidnapper. Er sei regelmäßig auf der Marida Marguerite gewesen „und führte in dieser Zeit das Kommando über die übrigen Kommandeure und Piraten“. Kurz: Er war der Chef. Jetzt ist er angeklagt wegen Angriffs auf den Seeverkehr, erpresserischen Menschenraubs, Erpressung und gefährlicher Körperverletzung. Ihm drohen fünf bis 15Jahre Haft, falls er verurteilt wird.

Falls. Schon als der Vorsitzende Richter Dieter Temming den Angeklagten nach seinem Namen fragt, wird es kompliziert. Salaax heiße er, so lässt es der Somalier den Übersetzer buchstabieren. Einen Nachnamen bleibt er schuldig, auch dann, als ihm das Gericht Strafe androht. In der Anklageschrift finden sich gleich vier mögliche Namen von ihm. Das Gespinst aus Ungewissheiten beginnt schon bei der Frage, wie dieser Mann eigentlich heißt.

In Gießen nahm ihn die Polizei vergangenen Mai fest, nachdem er Asyl beantragt hatte. Er kam als Flüchtling und ahnte nicht, dass seine Fingerabdrücke gespeichert waren, dass Ermittler des niedersächsischen LKA sie in penibler Arbeit gesammelt hatten, als sie das höllisch stinkende Schiff absuchten. Seine Fingerabdrücke fanden sie mehrmals an Bord. Auch auf einem Notizbuch, in dem die Geiselnehmer das Lösegeld von fünf Millionen Dollar aufgeteilt hatten. Nur – was beweist das?

Zuerst stritt der Somalier alles ab. Dann behauptete er, er sei nur kurz als Friseur und Hilfskoch auf dem Schiff gewesen. „Wer er wirklich ist, ist so unklar wie eh und je“, sagt sein Verteidiger Jens Meggers. Er forderte zum Prozessauftakt die Einstellung des Verfahrens. Die Anklage stütze sich auf unzulässige Quellen, auf ein Foto zum Beispiel, vom niedersächsischen Landeskriminalamt in verdeckter Informationsgewinnung beschafft. Das LKA habe kein Recht, seine „dubiosen Quellen“ zu verschweigen, sagt der Anwalt, so könne er seinen Mandanten nicht verteidigen. „Wir können uns nicht vorstellen, dass das LKA Niedersachsen über einen V-Mann bei den somalischen Piraten verfügt“, spottet er. Eher stammten die Erkenntnisse von US-Geheimdiensten. So kommen womöglich noch CIA und NSA ins Spiel.

Wenn der Prozess nicht gleich zu Beginn platzen sollte, wird es ein langwieriger. Die wichtigsten Belastungszeugen, die den Somalier als Commander beschuldigten, fahren als Seemänner um die Erde. Oder sie sitzen als verurteilte Piraten in US-Gefängnissen. Ob das Gericht sie anhören kann, weiß niemand. Und keiner kann sagen, ob Chefingenieur Oleg D. noch einmal von der Fleischkammer erzählen will und davon, wie sie ihn über die Reling abseilten, dem Wasser entgegen.

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