Früher, als selbstverständlich alles besser war, da betrachteten die Menschen nostalgische Gefühle als Krankheit. Lange ist es her, genau gesagt war es im 17. Jahrhundert, da beobachtete der Schweizer Mediziner Johannes Hofer einige rätselhafte Patienten. Er beschrieb Menschen, die fern ihres Elternhauses schier eingingen vor Gram und Traurigkeit. Der junge und ehrgeizige Arzt witterte medizinisches Terrain, das er für sich abstecken könnte – und erfand ein Leiden, das er in seiner Dissertation an der Universität Basel beschrieb. Er nannte es Nostalgie (weil Heimweh wohl zu popelig klang) und begründete die neue Krankheit mit Ideen, die damals so durch die Medizinlehrbücher vagabundierten: Er sprach von blockierten Lebensgeistern in Nervenbahnen, von dickem Blut und gefährlichen Ungleichgewichten, die am Ende zum Tod der Betroffenen führten. Um das Leid zu lindern und Nostalgie zu heilen, empfahl er Abführ- und Brechmittel, Quecksilber, Wein sowie großzügige Aderlässe.
Johannes Hofer lieferte ein Paradebeispiel dafür, wie sich aus diffusen Allerweltssymptomen eine fiese Krankheit konstruieren lässt. Er hatte Erfolg. Seine Kollegen verlachten den jungen Mediziner zwar zunächst, doch die Ideen Hofers bahnten sich den Weg in das Schreckenskabinett der Medizin – und verpassten der Nostalgie ein übles Ansehen. So unterstellten Ärzte im 19. Jahrhundert traumatisierten Soldaten, an Nostalgie zu leiden. Und um das zu kurieren, so hieß es damals, sei jeder Heimaturlaub strengstens zu meiden. Überhaupt fand der Begriff Nostalgie sehr freie Verwendung für allerlei Leiden oder Spleens.
Trampolin springen, ein Eis aus der Gefriertruhe und Fußball spielen: In Kindheitserinnerungen zu schwelgen, weckt das Gute im Menschen. Es fördert tatsächlich prosoziales Verhalten.
Doch auch als sich Fachwelt und Öffentlichkeit darauf geeinigt hatten, worum es sich bei Nostalgie nun handelte, blieb der Leumund dieses Gefühls ein schlechter. Nostalgiker gelten zwar nicht mehr als krank, dafür aber als schrullige, weltfremde Menschen. Bis heute werden jene gerne belächelt, die sich allzu sehnsuchtsvoll in ihre eigene oder die kollektive Vergangenheit flüchten. Erinnerungen an den Alltag in der DDR werden als Ostalgie gegeißelt, Retro-Marketing als irgendwie schäbig abgetan, und die Hohepriester des besseren, erfolgreicheren Lebens schwadronieren sowieso stets davon, sich mindestens im Hier und Jetzt zu orientieren, wenn nicht gleich in der Zukunft.
Nostalgie zu belächeln ist jedoch ebenso überflüssig wie die Therapien des Johannes Hofer. Im Gegenteil, nostalgische Gefühle entfalten positive Wirkung und dürfen auch entsprechend gewürdigt werden. Die Vergangenheit in ein gnädiges Licht zu tauchen und mit Freunden gemeinsame Erlebnisse zu beschwören, schweißt nicht nur abends am Lagerfeuer zusammen – nein, solche Momenten sind auch Ausdruck der phänomenalen Schutzmechanismen des menschlichen Geistes.
Einst empfahlen Ärzte, Nostalgiker mit Brechmittel und Quecksilber zu behandeln
Menschen profitieren von Nostalgie, berichten die Nachfolger des Johannes Hofer, die sich in der Gegenwart mit dieser Emotion auseinandersetzen. Zum Beispiel Psychologen um Constantine Sedikides und Tim Wildschut, die an der Universität Southampton die Rehabilitation des belächelten Gefühls betreiben und von dort eine Art weltweites Nostalgie-Forschungsnetzwerk koordinieren. Oder der Autor Daniel Rettig, der der Nostalgie in seinem Buch „Die guten, alten Zeiten. Warum Nostalgie glücklich macht“ (dtv Premium) ein feines Loblied mit wissenschaftlicher Begleitung singt.
Aus Universitäten und Instituten dringen reihenweise Veröffentlichungen, die die positiven Seiten der Nostalgie betonen und diese als menschliche Stärke feiern. Nostalgische Gefühle bewahren zum Beispiel vor übler Langeweile, berichteten im vergangenen Sommer Psychologen um Sedikides in der Fachzeitschrift Emotion. „Nostalgie wirkt dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit entgegen, das Menschen empfinden, wenn sie Langeweile plagt“, schreiben die Autoren. Als Einzelbefund mag das reichlich banal oder gar bescheuert klingen, doch die Studie fügt sich in eine Reihe weiterer Untersuchungen ein. Warme Gedanken an die Vergangenheit scheinen demnach auch Gefühle von Einsamkeit und Trübsinn zu vertreiben. Erst im November berichtete ein Team um Wildschut im Fachblatt Personality and Social Psychology Bulletin, nostalgische Gefühle stimmten optimistisch: In den Schilderungen derart gestimmter Probanden zählten die Wissenschaftler mehr positive Begriffe. Und noch ein Aspekt aus der gleichen Studie: Nostalgische Gefühle, in diesem Fall durch alte Lieder ausgelöst, steigern das Selbstbewusstsein. Das gaben die Probanden zumindest bei anschließenden Befragungen zu Protokoll.
Nostalgie sollte also nicht mit Quecksilber oder Brechmittel behandelt werden, sondern könnte selbst als eine Art Arznei betrachtet werden: Sie schützt vor akuten Durchhängern und Krisen. „Nostalgie ist eine weit verbreitete und elementare menschliche Erfahrung – mit wichtigen psychologischen Funktionen. So wie die Liebe stärkt sie soziale Bindungen; wie Stolz erhöht sie die Selbstachtung; und wie Freude erhöht sie das Wohlbefinden“, schreibt Tim Wildschut. Überschätzen sollte man dieses Gefühl allerdings auch nicht, es handelt sich stets um kleine Effekte.
Nostalgie verknüpft sich mit vergangenem Glück. Sie setzt sich aus Erinnerungen an Freude, Vergnügen, Liebe oder Zufriedenheit zusammen. Der Hang, die Vergangenheit zu verklären, beginnt schon in der Jugend: In dem Moment, in dem Heranwachsenden die Unumkehrbarkeit der Zeit bewusst wird, fällt ein erstes rosiges Licht auf die Vergangenheit. Und zum Glück bleiben in der Rückschau vor allem die schönen Moment hängen und verdichten sich zu den guten, alten Zeiten. Das autobiografische Gedächtnis bevorzugt und verstärkt nämlich die angenehmen Informationen.
Das biografische Gedächtnis bevorzugt positive Erinnerungen und blendet negative aus
Wie so oft wissen die Menschen zwar um diesen Umstand – fallen aber doch auf den Mechanismus herein. Der Hang, die Dinge zu verklären, steckt in uns: Das zeigte zum Beispiel Terence Mitchell von der Universität von Washington. Er ließ seine Probanden während eines Urlaubs Tagebuch führen. In einer Stichprobe waren 61 Prozent der Teilnehmer während ihrer Ferien unzufrieden. Die Erwartungen wurden nicht erfüllt, es war anstrengend, zu hektisch – es gab immer etwas zu meckern. Schon sieben Tage nach der Reise stänkerten nurmehr elf Prozent der Urlauber. Alle anderen hatten ihre Meinung geändert: Traumhaft! Super Ferien! Alles Üble, Blöde, Schlechte hatten sie verdrängt.
Menschen könnten wohl gar nicht anders, als die schönen Dinge im Rückblick zu betonen und die unschönen auszublenden, schreibt Daniel Rettig in seinem Buch. Die einen nennen es Verklärung, die anderen – der Harvard Psychologe Daniel Gilbert etwa – betrachten es als Teil eines psychischen Immunsystems. Was also als nostalgisches Gejammer abgewertet wird, treibt die dunklen Wolken aus dem Kopf.
Tatsächlich lösen trübe Gedanken eher nostalgische Gefühle aus. Das beobachteten Joel Best und Edward Nelson, die in den 1980er-Jahren an einer Art Nostalgie-Index arbeiteten und dafür mehrere Tausend US-Bürger befragten. Wer eine Scheidung hinter sich hatte, gesundheitlich beeinträchtigt war oder den Verlust eines Angehörigen betrauerte, blickte mit mehr Sehnsucht in die Vergangenheit. Auch Wildschut zeigte in einer Untersuchung: Schlechte Laune löst nostalgische Gefühle aus. Der Psychologe beobachtete aber auch, dass diese Erinnerungen die miese Laune wieder linderten. Daniel Rettig fasst es schön zusammen: Nostalgie sei „Symptom und Medizin zugleich“.
Die Erinnerung an frühere Zeiten aktiviert darüber hinaus offenbar die guten Seiten im Menschen. So lässt sich eine Studie von Francesca Gino von der Harvard Business School interpretieren. Sie weckte Kindheitserinnerungen in ihren Probanden, indem sie diese Anekdoten aufschreiben ließ. Sie beobachtete, dass dies prosoziales Verhalten begünstigte. Wer sich zuvor an schöne Momente aus der Vergangenheit erinnert hatte, spendete anschließend mehr für einen guten Zweck. Er war auch mehr als andere Probanden, die neutrale Geschichten aufgeschrieben hatten, bereit, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen. Wieder nur ein seltsamer Einzelbefund? Nein, andere Studien zeigten ähnliche Ergebnisse. Schöne Erinnerungen begünstigen prosoziales Verhalten.
War früher nun alles besser? Natürlich nicht. Aber an ausgewählten Zielen in der eigenen Vergangenheit war alles irgendwie rosig. Und mit jedem Erinnern nimmt diese Strahlkraft zu. Wie großartig.
Johannes Hofer lieferte ein Paradebeispiel dafür, wie sich aus diffusen Allerweltssymptomen eine fiese Krankheit konstruieren lässt. Er hatte Erfolg. Seine Kollegen verlachten den jungen Mediziner zwar zunächst, doch die Ideen Hofers bahnten sich den Weg in das Schreckenskabinett der Medizin – und verpassten der Nostalgie ein übles Ansehen. So unterstellten Ärzte im 19. Jahrhundert traumatisierten Soldaten, an Nostalgie zu leiden. Und um das zu kurieren, so hieß es damals, sei jeder Heimaturlaub strengstens zu meiden. Überhaupt fand der Begriff Nostalgie sehr freie Verwendung für allerlei Leiden oder Spleens.
Trampolin springen, ein Eis aus der Gefriertruhe und Fußball spielen: In Kindheitserinnerungen zu schwelgen, weckt das Gute im Menschen. Es fördert tatsächlich prosoziales Verhalten.
Doch auch als sich Fachwelt und Öffentlichkeit darauf geeinigt hatten, worum es sich bei Nostalgie nun handelte, blieb der Leumund dieses Gefühls ein schlechter. Nostalgiker gelten zwar nicht mehr als krank, dafür aber als schrullige, weltfremde Menschen. Bis heute werden jene gerne belächelt, die sich allzu sehnsuchtsvoll in ihre eigene oder die kollektive Vergangenheit flüchten. Erinnerungen an den Alltag in der DDR werden als Ostalgie gegeißelt, Retro-Marketing als irgendwie schäbig abgetan, und die Hohepriester des besseren, erfolgreicheren Lebens schwadronieren sowieso stets davon, sich mindestens im Hier und Jetzt zu orientieren, wenn nicht gleich in der Zukunft.
Nostalgie zu belächeln ist jedoch ebenso überflüssig wie die Therapien des Johannes Hofer. Im Gegenteil, nostalgische Gefühle entfalten positive Wirkung und dürfen auch entsprechend gewürdigt werden. Die Vergangenheit in ein gnädiges Licht zu tauchen und mit Freunden gemeinsame Erlebnisse zu beschwören, schweißt nicht nur abends am Lagerfeuer zusammen – nein, solche Momenten sind auch Ausdruck der phänomenalen Schutzmechanismen des menschlichen Geistes.
Einst empfahlen Ärzte, Nostalgiker mit Brechmittel und Quecksilber zu behandeln
Menschen profitieren von Nostalgie, berichten die Nachfolger des Johannes Hofer, die sich in der Gegenwart mit dieser Emotion auseinandersetzen. Zum Beispiel Psychologen um Constantine Sedikides und Tim Wildschut, die an der Universität Southampton die Rehabilitation des belächelten Gefühls betreiben und von dort eine Art weltweites Nostalgie-Forschungsnetzwerk koordinieren. Oder der Autor Daniel Rettig, der der Nostalgie in seinem Buch „Die guten, alten Zeiten. Warum Nostalgie glücklich macht“ (dtv Premium) ein feines Loblied mit wissenschaftlicher Begleitung singt.
Aus Universitäten und Instituten dringen reihenweise Veröffentlichungen, die die positiven Seiten der Nostalgie betonen und diese als menschliche Stärke feiern. Nostalgische Gefühle bewahren zum Beispiel vor übler Langeweile, berichteten im vergangenen Sommer Psychologen um Sedikides in der Fachzeitschrift Emotion. „Nostalgie wirkt dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit entgegen, das Menschen empfinden, wenn sie Langeweile plagt“, schreiben die Autoren. Als Einzelbefund mag das reichlich banal oder gar bescheuert klingen, doch die Studie fügt sich in eine Reihe weiterer Untersuchungen ein. Warme Gedanken an die Vergangenheit scheinen demnach auch Gefühle von Einsamkeit und Trübsinn zu vertreiben. Erst im November berichtete ein Team um Wildschut im Fachblatt Personality and Social Psychology Bulletin, nostalgische Gefühle stimmten optimistisch: In den Schilderungen derart gestimmter Probanden zählten die Wissenschaftler mehr positive Begriffe. Und noch ein Aspekt aus der gleichen Studie: Nostalgische Gefühle, in diesem Fall durch alte Lieder ausgelöst, steigern das Selbstbewusstsein. Das gaben die Probanden zumindest bei anschließenden Befragungen zu Protokoll.
Nostalgie sollte also nicht mit Quecksilber oder Brechmittel behandelt werden, sondern könnte selbst als eine Art Arznei betrachtet werden: Sie schützt vor akuten Durchhängern und Krisen. „Nostalgie ist eine weit verbreitete und elementare menschliche Erfahrung – mit wichtigen psychologischen Funktionen. So wie die Liebe stärkt sie soziale Bindungen; wie Stolz erhöht sie die Selbstachtung; und wie Freude erhöht sie das Wohlbefinden“, schreibt Tim Wildschut. Überschätzen sollte man dieses Gefühl allerdings auch nicht, es handelt sich stets um kleine Effekte.
Nostalgie verknüpft sich mit vergangenem Glück. Sie setzt sich aus Erinnerungen an Freude, Vergnügen, Liebe oder Zufriedenheit zusammen. Der Hang, die Vergangenheit zu verklären, beginnt schon in der Jugend: In dem Moment, in dem Heranwachsenden die Unumkehrbarkeit der Zeit bewusst wird, fällt ein erstes rosiges Licht auf die Vergangenheit. Und zum Glück bleiben in der Rückschau vor allem die schönen Moment hängen und verdichten sich zu den guten, alten Zeiten. Das autobiografische Gedächtnis bevorzugt und verstärkt nämlich die angenehmen Informationen.
Das biografische Gedächtnis bevorzugt positive Erinnerungen und blendet negative aus
Wie so oft wissen die Menschen zwar um diesen Umstand – fallen aber doch auf den Mechanismus herein. Der Hang, die Dinge zu verklären, steckt in uns: Das zeigte zum Beispiel Terence Mitchell von der Universität von Washington. Er ließ seine Probanden während eines Urlaubs Tagebuch führen. In einer Stichprobe waren 61 Prozent der Teilnehmer während ihrer Ferien unzufrieden. Die Erwartungen wurden nicht erfüllt, es war anstrengend, zu hektisch – es gab immer etwas zu meckern. Schon sieben Tage nach der Reise stänkerten nurmehr elf Prozent der Urlauber. Alle anderen hatten ihre Meinung geändert: Traumhaft! Super Ferien! Alles Üble, Blöde, Schlechte hatten sie verdrängt.
Menschen könnten wohl gar nicht anders, als die schönen Dinge im Rückblick zu betonen und die unschönen auszublenden, schreibt Daniel Rettig in seinem Buch. Die einen nennen es Verklärung, die anderen – der Harvard Psychologe Daniel Gilbert etwa – betrachten es als Teil eines psychischen Immunsystems. Was also als nostalgisches Gejammer abgewertet wird, treibt die dunklen Wolken aus dem Kopf.
Tatsächlich lösen trübe Gedanken eher nostalgische Gefühle aus. Das beobachteten Joel Best und Edward Nelson, die in den 1980er-Jahren an einer Art Nostalgie-Index arbeiteten und dafür mehrere Tausend US-Bürger befragten. Wer eine Scheidung hinter sich hatte, gesundheitlich beeinträchtigt war oder den Verlust eines Angehörigen betrauerte, blickte mit mehr Sehnsucht in die Vergangenheit. Auch Wildschut zeigte in einer Untersuchung: Schlechte Laune löst nostalgische Gefühle aus. Der Psychologe beobachtete aber auch, dass diese Erinnerungen die miese Laune wieder linderten. Daniel Rettig fasst es schön zusammen: Nostalgie sei „Symptom und Medizin zugleich“.
Die Erinnerung an frühere Zeiten aktiviert darüber hinaus offenbar die guten Seiten im Menschen. So lässt sich eine Studie von Francesca Gino von der Harvard Business School interpretieren. Sie weckte Kindheitserinnerungen in ihren Probanden, indem sie diese Anekdoten aufschreiben ließ. Sie beobachtete, dass dies prosoziales Verhalten begünstigte. Wer sich zuvor an schöne Momente aus der Vergangenheit erinnert hatte, spendete anschließend mehr für einen guten Zweck. Er war auch mehr als andere Probanden, die neutrale Geschichten aufgeschrieben hatten, bereit, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen. Wieder nur ein seltsamer Einzelbefund? Nein, andere Studien zeigten ähnliche Ergebnisse. Schöne Erinnerungen begünstigen prosoziales Verhalten.
War früher nun alles besser? Natürlich nicht. Aber an ausgewählten Zielen in der eigenen Vergangenheit war alles irgendwie rosig. Und mit jedem Erinnern nimmt diese Strahlkraft zu. Wie großartig.