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Experiment für Europa

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Brüssel – In der Führungsetage der Europäischen Kommission sinnierten am Freitag hohe Bedienstete über ihren nächsten Chef. Wer wird Behördenpräsident José Manuel Barroso nachfolgen? Einer der Spitzenkandidaten, die jetzt überall genannt werden? Oder zaubern die 28 Staats- und Regierungschefs am 27. Mai, wenn sie sich bei einem Abendessen in Brüssel auf Barrosos Nachfolger einigen sollen, einen unbekannten Bewerber aus dem Hut? Einer, der schon lange dabei ist, spekuliert nicht lange herum. Jedenfalls, so sagt er, täten die Parteien jetzt gut daran, passable Leute aufzustellen, „da nicht auszuschließen ist, dass einer der Spitzenkandidaten tatsächlich Kommissionspräsident wird“.



Martin Schulz soll Europas Sozialdemokraten anführen.

Alles ist möglich, nichts sicher. So präsentiert sich die Europäische Union zu Beginn des Wahljahres 2014. Beinahe unbemerkt hat sich die politische Farbenlehre verschoben. Aus einer vorwiegend von Christsozialen regierten Gemeinschaft ist eine große europäische Koalition geworden. 13 der 28 nationalen Präsidenten, Premiers und Kanzler, die in Brüssel regelmäßig am Gipfeltisch sitzen, haben ein schwarzes Parteibuch, zwölf ein rotes, drei ein gelb-liberales. Litauens Präsidentin Dalia Gribauskaite ist parteilos, ihr Premierminister Algirdas Butkevičius im roten Lager verankert. Christsozial-konservativ und sozialistisch-sozialdemokratisch regierte Länder halten sich zu Beginn 2014 die Waage.

Ein Kopf-an-Kopf-Rennen sagen Forscher auch für den Ausgang der Europawahlen Ende Mai voraus. Im Dezember lagen nach nationalen Umfragen, die auf europäisches Niveau hochgerechnet wurden, die Volksparteien ein wenig vor den Sozialisten. Im Januar dagegen ergab eine EU-interne Hochrechnung, dass die Roten knapp die Nase vorn haben. Ihnen werden 225 bis 231 Sitze im Europäischen Parlament vorausgesagt; die Schwarzen kommen auf 216 bis 222 Sitze, Liberale auf 55bis 59, die Grünen auf 54 bis 58, extreme Rechte auf 35 bis 39 Mandate. „Mit Vorsicht zu genießen“, sei dies, heißt es bei den Sozialisten. Aber ein Trend verfestige sich: „Alles läuft auf eine große Koalition im Europäischen Parlament hinaus.“ Was bedeutet, dass die nach den Europawahlen zu vergebenden Spitzenjobs vor allem zwischen Roten und Schwarzen, zwischen Frauen und Männern aufgeteilt würden.

Der mit Abstand wichtigste Posten ist der Chefsessel der Europäischen Kommission. Die Behörde ist verantwortlich dafür, dass das Herz der Europäischen Union, der Binnenmarkt, reibungslos funktioniert. Sie hat als einzige europäische Institution das Recht, Richtlinien und Verordnungen vorzulegen.

Vor fünf Jahren war der portugiesische Amtsinhaber Barroso einziger Kandidat für diesen Posten, präsentiert von jener Parteienfamilie Europas, die damals mit Abstand die meisten Stimmen bei der Europawahl bekam: der Europäischen Volkspartei, zu der CDU und CSU gehören. Barroso war, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei europäischen Themen gern anmerkt, alternativlos. Das sah wohl auch das Europaparlament ein. Es zierte sich zuerst ein wenig – und wählte Barroso dann doch.

Wie es diesmal ausgehen wird, kann seriös niemand voraussagen. Denn Europa wagt sich an ein Experiment. Erstmals werden alle großen Parteien mit einem (die Grünen mit zwei) Spitzenkandidaten in einen europaweiten Wahlkampf ziehen und für Stimmen für ihre Parteienfamilie werben. Wie das bei den Wählern ankommt, darüber gibt es geteilte Meinungen, in den Hauptstädten wie auch in Brüssel.

In der Führungsetage der EU-Kommission kalkulieren hohe Beamte die Erfolgsaussichten der Kandidaten, am 27.Mai von den 28 nationalen Chefs tatsächlich als Kommissionspräsident nominiert zu werden, ganz nüchtern. „Wichtig wird sein, wie viele Bürger wählen gehen. Je mehr es sind, desto bedeutender wird der Spitzenkandidat. Wenn dieser außerdem ein starkes Ergebnis in seinem Heimatland holt, wird es nicht einfach, an dem siegreichen Kandidaten vorbei einen anderen Vorschlag zu machen.“ Andererseits: Falls sich der Wahlkampf als Flop erweist und keiner der Spitzenkandidaten überzeugt, sei auch eine „italienische Lösung“ denkbar. Der jetzige Premier Enrico Letta sei ja auch „aus der Not des Wahlergebnisses heraus ins Amt gekommen”.

Fest steht nur das Prozedere. Die Chefs einigen sich im Lichte der Ergebnisse der Europawahl am 27. Mai auf ihren Kandidaten, dieser soll sich im Juli dem neuen EU-Parlament zur Wahl stellen – und mit Mehrheit gewählt werden.

Die meisten Parteien haben ihre Spitzenkandidaten bereits sondiert. SPD-Mann Martin Schulz soll die Roten führen, seine Nominierung auf dem Parteikongress in Rom am 1. März besiegelt werden. Schulz hat viele Länder hinter sich, eines der wichtigsten aber nicht. Die britische Labour-Partei verweigert ihm die Gefolgschaft.

Luxemburgs langjähriger Premier Jean-Claude Juncker gilt als aussichtsreicher Kandidat der Schwarzen: wahlkampferprobt, beliebt; Deutsch, Französisch und Englisch sprechend. Dass der Mitbegründer des Euro in Berlin und Paris schon das politische Einverständnis habe, wollte Juncker am Sonntag nicht bestätigen. Zuletzt waren Zweifel an der Belastbarkeit des 59Jahre alten Politprofis aufgetaucht. Spätestens am 7. März wollen sich die Schwarzen festlegen.

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