Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Wir Theaterkinder vom Bahnhof Zoo

$
0
0
Gizem sitzt im Aufenthaltsraum der Kontakt- und Beratungsstelle KuB und raucht. Am Fenster klebt ein Zettel mit sehr großen Buchstaben: „Bitte hier nicht rauchen.“ Ihren Vater hat Gizem das letzte Mal vor sechs Jahren gesehen, heute ist sie19. Vermisst sie ihn? „Ja“, sagt sie und nimmt den funkelnden Stein an ihrer Halskette in den Mund. Ihr Leben packt sie in einen Haupt- und einen Nebensatz: „Ich war in sechs Jahren in 64 Einrichtungen, aus allen bin ich rausgeflogen.“ Warum? „Weil ich jeden verprügelt habe.“



Volksbühne Berlin - Hier findet die Premiere des Stückes statt

Dann lacht Gizem. Ihr ganzer großer Körper bebt, wenn sie lacht. „In den letzten drei Jahren“, sagt Gizem, „habe ich noch keine Nacht auf der Straße gepennt!“ Daraus speist sie ihren Stolz. Jeden Tag kommt sie bei einer anderen Freundin unter, bei jeder hat sie eine Zahnbürste und ein frisches T-Shirt. Gizems Körper ist ein Panzer. Ein Panzer gegen die Stiefmutter, die sie geschlagen hat, als sie herausfand, dass Gizem ihre echte Mutter gefunden hatte. „Meine Stiefmutter hat gesagt: Entweder du brichst den Kontakt zu deiner Mutter ab oder du fliegst hier raus.“ Gizem ist dann rausgeflogen und geflohen, vor den Schlägen der Stiefmutter.

„Ich hab’ einen Migrationshintergrund“, sagt sie. Dann schüttelt sie das Soziologendeutsch mit klareren Worten ab: „Ich bin Türkin.“ Der Vater weiß nicht, wo Gizem lebt, er weiß nicht, dass sie ihn vermisst. Er weiß auch nicht, was Gizem noch stolz macht: Dass sie Theater spielt im KuB, einem Container-Ensemble hinterm Bahnhof Zoo, das ein Wohnzimmer ist für Jugendliche wie Gizem, die viel zu früh aus dem Nest gefallen sind. Sie können hier schlafen, duschen, essen. Sie können malen bei Käte Mecklenburg, 69, die seit 15Jahren das macht, was den Eltern der obdachlosen Kinder nicht gelingt: Sie ist da, sie hört zu, sie spornt an. Und sie können schauspielen, bei Margareta Riefenthaler.

Einmal im Jahr studiert Riefenthaler mit den obdachlosen Jugendlichen ein Theaterstück ein. Obdachlos sein und Theater, wie das zusammenpasst? „Sehr gut sogar“, sagt Riefenthaler während einer Probenpause, in der die Jugendlichen über ein 1-Kilo-Glas Nutella herfallen. „Die spüren nach drei Monaten Proben, dass sie doch zu etwas taugen.“ Diesen Dienstag ist Premiere, im Grünen Salon der Volksbühne, danach wird das Stück noch dreimal aufgeführt. Das Projekt ist auch ein Wagnis: „Ich stelle mir nie vor, wie es wird, weil es nie so wird, wie ich es mir vorgestellt habe“, sagt die Wiener Autorin und Regisseurin Riefenthaler. Einmal ließ sie der Hauptdarsteller sitzen, eine Woche vor der Premiere.

Im Probenraum steht die Luft. Tobias kommt herein. Tobias ist 20 Jahre alt, rot leuchtet seine Haut im Gesicht und an den Armen. Die Haut ist am Auftauen. Die ganze Nacht war Tobias draußen. Ist vom Bahnhof Zoo zum Alexanderplatz gelaufen und zurück, immer wieder, bis die U-Bahn wieder fuhr. Um fünf Uhr hat er sich in eine Bahn gesetzt und ist gleich eingenickt.

Todmüde steht Tobias vor Riefenthaler, den Gauner soll er spielen in „Ehrlich g’sogt“, einer Kriminalkomödie um einen Heiratsschwindler. Am liebsten würde Tobias jetzt schlafen, aber Jungs in seinem Alter bekommen nur sechs Nächte im Monat im Sleep In. Das Sleep In soll nicht als Hostel missverstanden werden. Für jeden Probentag bekommen die Obdachlosen eine zusätzliche Nacht. Heute wird Tobias nicht durch die eiskalte Stadt irren müssen.

Dreimal die Woche probt Riefenthaler vier Stunden lang – in einer höllischen Unruhe. Dauernd platzt jemand in die Proben rein, Kippen werden gesucht, Schokoladenpuddingberge verschlungen, Flüche ausgespuckt. Mit unerschütterlichem Gleichmut souffliert Riefenthaler Texte, regt an, verteilt Lob. An Willi zum Beispiel, die eine verliebte Frau spielt. Eben noch hat Willi aus ihrem Leben erzählt, im Raucherflur. Vom Vater, der früh verstorben ist, von der Mutter, die sich oft wochenlang nicht in der Wohnung in Neustrelitz hat blicken lassen, bis das Jugendamt davon erfuhr. Da war Willi gerade mal elf Jahre alt. Seit Jahren hat sie ihre Mutter nicht mehr gesehen, in Willis Augen liegt eine große Verletzlichkeit. Auf der Bühne aber verpufft ihre Melancholie. Sie strahlt, als sie in die Rolle einer Verliebten schlüpft. Beim Theaterspielen, sagt sie, „schalte ich voll ab.“

Pause. Im Raucherflur sitzt Sven, Käte Mecklenburg gesellt sich zu ihm. Sven packt das mit den Proben nicht, er kifft einfach zu viel. Acht Monate hat Sven schon auf der Straße gelebt. Er ist 20, viel zu dünn und trägt einen Kapuzenpulli mit Hertha-BSC-Aufnäher. In den acht Monaten hat er oft im Tiergarten geschlafen. Angst habe er keine gehabt, „ich hatte ja ein Messer dabei“. Einmal, er war gerade eingenickt, ist er durch ein Rascheln aufgeschreckt. Ein Fuchs schnupperte in seiner Tüte mit den belegten Broten. Sven ist dem Fuchs hinterhergerannt. „Ich hab den angebrüllt: Was bist du für ein Vieh, ich hab doch eh nix, und jetzt klaust du mir noch das Letzte.“ Käte Mecklenburg drückt ihre Zigarette aus. Warum sie hilft? „Die Vorstellung, dass Jugendliche draußen schlafen, macht mich verrückt.“

Gespielt wird der Heiratsschwindler von Sami. Er ist der Einzige, der keinen Lärm macht. Sami ist marokkanischer Herkunft, kommt aus Bielefeld, ist schmal und still. Er habe zu Hause „nicht genug Zuneigung“ bekommen, sagt er, wenn man ihn fragt, warum er abgehauen ist. Auch war ihm Bielefeld als jungem Schwulen zu eng. Sami spricht nicht gerne über sich. Aber wenn er spielt, spricht sein ganzer Körper. Samis Augen leuchten dann, er lacht, lügt, charmiert und spielt den Betrüger mit Eleganz und Verve, als hätte er nie etwas anderes gemacht.

Auch Burkhard ist wie ausgewechselt, wenn er sein wahres Leben verlässt. Er schafft es sogar, einen knalligen Text für seine Rolle als Gauner zu schreiben. Über seine Mutter sagt er: „Die ist eine Hexe.“ Sich selbst und sein Leben sieht er so: „Ich habe eigentlich immer nur Scheiße gebaut.“ Er hat die Schlafzimmertür seiner Mutter zerstört, weil die ihn einschloss, weil er Geld geklaut hatte. Mit dem Geld hat er Drogen gekauft, Hasch, Ecstasy, Bier. Er hat sich mit 16 für ein Leben auf der Straße entschieden, weil er sich nicht mehr von seiner Mutter schlagen lassen wollte. Auf den Strich ist er nie gegangen, „da bin ich voll dagegen“. Am Bahnhof Zoo bettelt er. „Christiane F.“ hat er mit zwölf gelesen. „Konnte mir nicht vorstellen, wie das ist, damals, und jetzt bin ich selber ein Kind vom Bahnhof Zoo, ey.“ Jetzt fällt ihm plötzlich ein: „Du, Margareta, kann ich vor dem Spielen noch schnell duschen?“

Burkard ist ein Aufmerksamkeitserreger. Die Proben kann er vielleicht zwanzig Minuten konzentriert am Stück durchstehen, dann lenken ihn alle möglichen anderen Dinge ab. Ein riesiger Stoffbär zum Beispiel, mit dem schmust und redet er, die anderen lachen. Dann treibt es ihn zu Käte Mecklenburg, die ihm eine gewisse Geborgenheit bietet. Sie sitzt im Zimmer neben dem Probenraum, an einem Tisch sitzen Jungs und Mädchen, die gerade nicht bei den Proben gebraucht werden.

Bei Käte Mecklenburg werden die Mädchen und die Jungs zahm, ruhig, entspannt, sie lassen los. Sogar Burkard schweigt jetzt. Er nimmt einen Stift und zeichnet und hört nicht mehr auf. Einen Teufel malt er. Und sagt: „Wenn ich male, dann denke ich nicht nach, nur über das, was ich male.“ Wo er sich in zehn Jahren sieht? „Mein Leben war eine einzige Lüge. Bis ich gemerkt habe, dass Lügen nichts bringt. In zehn Jahren will ich ein normales Leben haben, mit Kindern, aber Kinder erst, wenn ich mein Leben im Griff habe. Die sollen nicht so eines haben wie ich.“ Heute wird er im Sleep In schlafen können, weil er zur Probe gekommen ist. Und morgen? „Weiß ich noch nicht.“

Gizem steht vor einem Spiegel und trägt roten Lippenstift auf, kämmt ihre Haare, bindet einen Zopf. Feinmachen für die Bühne. Wie es ihr geht? „Gut geht’s mir“, sagt sie. „Macht voll Spaß, auf der Bühne zu stehen.“ Die Regisseurin hat eben entschieden, dass Gizem so gut spielt, dass sie im Stück die wichtige Rolle der Erzählerin bekommt. Gizem blüht auf und parliert süffisant und gepfeffert mit Ironie, als sei die Bühne ihr Zuhause. Den Text in der einen Hand, fährt sie mit der anderen durch ihre Halskette. „Hab ich von Swarovski, hat 80Euro gekostet.“ Wo sie das Geld her hat? „Ich hab keinen Cent für die Kette bezahlt.“ Bei einem Versandhaus hat Gizem die Kette bestellt und als Rechnungsadresse die Anschrift ihres Vaters angegeben. „Wenn er sich schon nicht um mich kümmert“, sagt sie, „soll er wenigstens für mich bezahlen.“

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345