Als Wolf Jobst Siedler vor fünfzig Jahren seinen Dokumentar- und Essayband „Die gemordete Stadt“ veröffentlichte, war die Resonanz enorm. Wie aus tiefer Umnachtung erwachte damals das Bewusstsein, dass der Wiederaufbau den deutschen Städten womöglich schlimmere Wunden zufügte, als der Bombenkrieg es vermocht hatte. Das Buch sollte, so der Autor, der „Einübung in ironische Melancholie“ dienen, und in diesem Sinn wollte er auch den Untertitel „Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum“ verstanden wissen.
Die Münchner City - Schlaffer plädiert für die Innenstadt als Lebensraum
Das Fotomaterial, oft im Vorher-Nachher-Vergleich entstanden, sprach für sich, doch wer es heute betrachtet, wird feststellen, dass nicht wenige der Bauten, die empfindsame Gemüter einst mit Ödnis und Kälte, Brutalität und Aufräumwahn assoziierten, inzwischen unter Denkmalschutz stehen (oder stehen sollten), weil die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ längst ganz andere Dimensionen angenommen hat.
Alexander Mitscherlichs berühmter Essay fügte dem Mord-Befund 1965 die soziologisch-politische Analyse hinzu. Da er für einen aufgeklärt-modernen Städtebau plädierte statt für die Rückkehr zu alten Strukturen, steht er bis heute für die fortschrittliche Stadtkritik, Siedler eher für nostalgischen Konservatismus. Dabei ging auch seine Diagnose weit hinaus über die Trauer um abgeschlagenen Stuck und totsanierte Hinterhöfe, um historische Straßenleuchten und die dem Autoverkehr geopferten Lebensräume: Er konstatierte eine schon seit dem Fin de Siècle in Deutschland grassierende „widerstädtische Mentalität“, einen prinzipiellen Vorbehalt gegen die Stadt als bürgerliche Lebensform, wie sie im Paris des 19. Jahrhunderts zur idealer Blüte gelangt war, und eine Affinität zum Provinziellen, die in den Planungen der Nachkriegsjahrzehnte ihren betongewordenen Ausdruck fand.
Bemerkenswert ist, wie gut sich diese These zu Hannelore Schlaffers Buch „Die City“ in Beziehung setzen lässt, das ein halbes Jahrhundert nach den oft zitierten, doch in der Praxis wirkungslos gebliebenen Klassikern von Siedler und Mitscherlich abermals eine Stadtkritik als polemischen Rundumschlag riskiert. Zwar mangelt es nicht an neueren und neuesten Theorien über die Stadt und noch nie wurde über Stadtplanung so viel geredet und geschrieben wie heute. Wer jedoch ein General-Lamento über herrschende Zustände und historische Verluste im urbanen Lebensraum anstimmt, begibt sich in gefährliche Nähe zu jenen „Wutbürgern“, denen der Ruch des Ewiggestrigen anhaftet, oder macht sich gar des „Kulturpessimismus“ verdächtig, einer Haltung, die kurioserweise als eine Art intellektuelles Sittlichkeitsdelikt in Verruf geraten ist.
Die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer ficht das nicht an, so wenig wie der immerhin denkbare Einwand, sie wildere auf fremdem Terrain. Allerdings sind ihr Thema nicht, wie bei der klassischen Stadtkritik, die Wohngebiete, das Elend von Suburbia oder die Problemzonen der Gentrifizierung: Sie beschränkt ihre Untersuchung auf die Innenstädte, neudeutsch „City“ genannt, also die landesweit und international zunehmend verwechselbare Mischung aus Shoppingparadies und Büro-Tristesse, aus gerasterter Investoren-Architektur, historischen Restfassaden und, immer häufiger, spektakulären „Signature Buildings“. In diesen Zentren mit standardisiertem Warensortiment und breitgefächertem Gastronomie- und Eventangebot, in denen die Konsumkraft der umgebenden Region zusammenschießt, hat sich die Globalgesellschaft des dritten Jahrtausends so klaglos wie komfortabel eingerichtet.
Den Anlass zu ihrer Klage leitet Schlaffer, darin ganz ihrem Fachgebiet verpflichtet, von den großen literarischen Erzählungen her, die zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert die Stadt als sozialen Kosmos, pulsierenden Organismus und synästhetisches Ereignis schilderten. Die heutige „City“, das tendenziell weltumspannende Resultat einer vom Primat der Ökonomie geleiteten Planung, lässt sich – sieht man von den kurzlebigen Versuchen der Popliteratur mit ihrer Marken-Euphorie ab - nicht mehr „erzählen“, überwiegend auch nicht mehr bewohnen, sondern nur noch „nutzen“.
Das Erscheinungsbild dieser tagsüber von Einkaufstouristen und Angestellten bevölkerten, abends entweder ausgestorbenen oder durch organisierte Bespaßung künstlich belebten Innenstädte, das seinem Wesen nach nicht urban, sondern zutiefst provinziell ist, beschreibt Hannelore Schlaffer in amüsanten bis bedrückenden Details von hohem Wiedererkennungswert. Ihr Blick gilt ebenso der architektonischen Phänomenologie der City wie dem Habitus und den Gewohnheiten ihrer Nutzer, mithin dem „Straßenleben in der geplanten Stadt“, wie der Untertitel des Essays lautet. Zu den Symptomen der Provinzialisierung gehören die Ablösung des intellektuell wachen Flaneurs durch den passiven Konsumenten, das Verschwinden von Eleganz und sozialer Distinktion zugunsten uniformer Freizeitkleidung, die unablässige öffentliche Nahrungszufuhr, die saisonal verordneten Feier- und Fressmeilen. Es geht Schlaffer darum, die Aufmerksamkeit auf eine „zweite Stadtplanung“ zu lenken, die unter der baulich sichtbaren herläuft, die „geheime Steuerung“ von Verhaltensweisen, Gefühlen und Sinnesreizen derer, die sich in der Stadt aufhalten.
Das klingt nach einer Verschwörungstheorie, ist aber nichts anderes als die kluge Analyse eines Tatbestands, von dem man euphemistisch behaupten könnte, er diene dem sozialen Frieden. Die Stadtzentren sind übersichtlich geworden, Fanatiker haben sich in Fans verwandelt, und die „Masse“, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein Schreckensvisionen auslösen konnte, ist zur „demokratischen Menge“ in permanenter Kauf- und Festlaune mutiert, mit unersättlichem Appetit, aber ohne aufrührerisches Potential. Ihr Abenteuerspielplatz ist die auf solche Bedürfnisse perfekt zugeschnittene „City“, die mit vorfabrizierten Attraktionen am Leben erhalten wird.
Die Tatsache, dass dieses Stadtgebilde „keinen Weg mehr in die Sprache“ findet, also für die Literatur nicht mehr interessant ist, wird nur eine Minderheit als Verlust erleben. Aber es gibt Kollateralschäden: „Die City“, weiß Hannelore Schlaffer, „respektiert keine Aura.“ Das bedeutet, dass die „Andachtsorte der alten Stadt, vor denen man stumm, still und staunend verharren konnte“, abgelöst worden sind durch den „Lustort Einkaufscenter“. Und dass die Stadt ihre Ausstrahlung als sinnliches Faszinosum und Quelle geistiger Anregung verloren hat.
In diesen Kontext hätte ein weiterer Aspekt gepasst: Wo das Verlangen nach Aura und Andacht fortlebt, wird es an den Tourismus delegiert, den durch Dumping-Flugpreise zum Volkssport angeheizten Ansturm auf Metropolen, die sich eine natürlich gewachsene, vielgestaltige Urbanität zumindest teilweise bewahrt haben. Aber der Blick des mobilen City-Nutzers ist schon so konditioniert, dass er auch in Paris oder Prag, Rom oder Wien vornehmlich auf Schaufensterhöhe bleibt und das erfasst, was konsumierbar ist. So verwandeln seine Ansprüche und Attitüden nach und nach auch die Zentren der geschichtsträchtigen Sehnsuchtsstädte in historisch möblierte Shopping Malls. Vor diesem Hintergrund, der einen kulturellen Umbruch von unerhörten Ausmaßen markiert, lässt sich Schlaffers Fazit, dass „in solch ästhetischer Dämmerung das Glück der demokratischen Gleichheit“ beginne, nicht mehr als melancholische Ironie, sondern nur noch als beißender Sarkasmus deuten.
Die Münchner City - Schlaffer plädiert für die Innenstadt als Lebensraum
Das Fotomaterial, oft im Vorher-Nachher-Vergleich entstanden, sprach für sich, doch wer es heute betrachtet, wird feststellen, dass nicht wenige der Bauten, die empfindsame Gemüter einst mit Ödnis und Kälte, Brutalität und Aufräumwahn assoziierten, inzwischen unter Denkmalschutz stehen (oder stehen sollten), weil die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ längst ganz andere Dimensionen angenommen hat.
Alexander Mitscherlichs berühmter Essay fügte dem Mord-Befund 1965 die soziologisch-politische Analyse hinzu. Da er für einen aufgeklärt-modernen Städtebau plädierte statt für die Rückkehr zu alten Strukturen, steht er bis heute für die fortschrittliche Stadtkritik, Siedler eher für nostalgischen Konservatismus. Dabei ging auch seine Diagnose weit hinaus über die Trauer um abgeschlagenen Stuck und totsanierte Hinterhöfe, um historische Straßenleuchten und die dem Autoverkehr geopferten Lebensräume: Er konstatierte eine schon seit dem Fin de Siècle in Deutschland grassierende „widerstädtische Mentalität“, einen prinzipiellen Vorbehalt gegen die Stadt als bürgerliche Lebensform, wie sie im Paris des 19. Jahrhunderts zur idealer Blüte gelangt war, und eine Affinität zum Provinziellen, die in den Planungen der Nachkriegsjahrzehnte ihren betongewordenen Ausdruck fand.
Bemerkenswert ist, wie gut sich diese These zu Hannelore Schlaffers Buch „Die City“ in Beziehung setzen lässt, das ein halbes Jahrhundert nach den oft zitierten, doch in der Praxis wirkungslos gebliebenen Klassikern von Siedler und Mitscherlich abermals eine Stadtkritik als polemischen Rundumschlag riskiert. Zwar mangelt es nicht an neueren und neuesten Theorien über die Stadt und noch nie wurde über Stadtplanung so viel geredet und geschrieben wie heute. Wer jedoch ein General-Lamento über herrschende Zustände und historische Verluste im urbanen Lebensraum anstimmt, begibt sich in gefährliche Nähe zu jenen „Wutbürgern“, denen der Ruch des Ewiggestrigen anhaftet, oder macht sich gar des „Kulturpessimismus“ verdächtig, einer Haltung, die kurioserweise als eine Art intellektuelles Sittlichkeitsdelikt in Verruf geraten ist.
Die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer ficht das nicht an, so wenig wie der immerhin denkbare Einwand, sie wildere auf fremdem Terrain. Allerdings sind ihr Thema nicht, wie bei der klassischen Stadtkritik, die Wohngebiete, das Elend von Suburbia oder die Problemzonen der Gentrifizierung: Sie beschränkt ihre Untersuchung auf die Innenstädte, neudeutsch „City“ genannt, also die landesweit und international zunehmend verwechselbare Mischung aus Shoppingparadies und Büro-Tristesse, aus gerasterter Investoren-Architektur, historischen Restfassaden und, immer häufiger, spektakulären „Signature Buildings“. In diesen Zentren mit standardisiertem Warensortiment und breitgefächertem Gastronomie- und Eventangebot, in denen die Konsumkraft der umgebenden Region zusammenschießt, hat sich die Globalgesellschaft des dritten Jahrtausends so klaglos wie komfortabel eingerichtet.
Den Anlass zu ihrer Klage leitet Schlaffer, darin ganz ihrem Fachgebiet verpflichtet, von den großen literarischen Erzählungen her, die zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert die Stadt als sozialen Kosmos, pulsierenden Organismus und synästhetisches Ereignis schilderten. Die heutige „City“, das tendenziell weltumspannende Resultat einer vom Primat der Ökonomie geleiteten Planung, lässt sich – sieht man von den kurzlebigen Versuchen der Popliteratur mit ihrer Marken-Euphorie ab - nicht mehr „erzählen“, überwiegend auch nicht mehr bewohnen, sondern nur noch „nutzen“.
Das Erscheinungsbild dieser tagsüber von Einkaufstouristen und Angestellten bevölkerten, abends entweder ausgestorbenen oder durch organisierte Bespaßung künstlich belebten Innenstädte, das seinem Wesen nach nicht urban, sondern zutiefst provinziell ist, beschreibt Hannelore Schlaffer in amüsanten bis bedrückenden Details von hohem Wiedererkennungswert. Ihr Blick gilt ebenso der architektonischen Phänomenologie der City wie dem Habitus und den Gewohnheiten ihrer Nutzer, mithin dem „Straßenleben in der geplanten Stadt“, wie der Untertitel des Essays lautet. Zu den Symptomen der Provinzialisierung gehören die Ablösung des intellektuell wachen Flaneurs durch den passiven Konsumenten, das Verschwinden von Eleganz und sozialer Distinktion zugunsten uniformer Freizeitkleidung, die unablässige öffentliche Nahrungszufuhr, die saisonal verordneten Feier- und Fressmeilen. Es geht Schlaffer darum, die Aufmerksamkeit auf eine „zweite Stadtplanung“ zu lenken, die unter der baulich sichtbaren herläuft, die „geheime Steuerung“ von Verhaltensweisen, Gefühlen und Sinnesreizen derer, die sich in der Stadt aufhalten.
Das klingt nach einer Verschwörungstheorie, ist aber nichts anderes als die kluge Analyse eines Tatbestands, von dem man euphemistisch behaupten könnte, er diene dem sozialen Frieden. Die Stadtzentren sind übersichtlich geworden, Fanatiker haben sich in Fans verwandelt, und die „Masse“, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein Schreckensvisionen auslösen konnte, ist zur „demokratischen Menge“ in permanenter Kauf- und Festlaune mutiert, mit unersättlichem Appetit, aber ohne aufrührerisches Potential. Ihr Abenteuerspielplatz ist die auf solche Bedürfnisse perfekt zugeschnittene „City“, die mit vorfabrizierten Attraktionen am Leben erhalten wird.
Die Tatsache, dass dieses Stadtgebilde „keinen Weg mehr in die Sprache“ findet, also für die Literatur nicht mehr interessant ist, wird nur eine Minderheit als Verlust erleben. Aber es gibt Kollateralschäden: „Die City“, weiß Hannelore Schlaffer, „respektiert keine Aura.“ Das bedeutet, dass die „Andachtsorte der alten Stadt, vor denen man stumm, still und staunend verharren konnte“, abgelöst worden sind durch den „Lustort Einkaufscenter“. Und dass die Stadt ihre Ausstrahlung als sinnliches Faszinosum und Quelle geistiger Anregung verloren hat.
In diesen Kontext hätte ein weiterer Aspekt gepasst: Wo das Verlangen nach Aura und Andacht fortlebt, wird es an den Tourismus delegiert, den durch Dumping-Flugpreise zum Volkssport angeheizten Ansturm auf Metropolen, die sich eine natürlich gewachsene, vielgestaltige Urbanität zumindest teilweise bewahrt haben. Aber der Blick des mobilen City-Nutzers ist schon so konditioniert, dass er auch in Paris oder Prag, Rom oder Wien vornehmlich auf Schaufensterhöhe bleibt und das erfasst, was konsumierbar ist. So verwandeln seine Ansprüche und Attitüden nach und nach auch die Zentren der geschichtsträchtigen Sehnsuchtsstädte in historisch möblierte Shopping Malls. Vor diesem Hintergrund, der einen kulturellen Umbruch von unerhörten Ausmaßen markiert, lässt sich Schlaffers Fazit, dass „in solch ästhetischer Dämmerung das Glück der demokratischen Gleichheit“ beginne, nicht mehr als melancholische Ironie, sondern nur noch als beißender Sarkasmus deuten.