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Jede Sezession ist eine Amputation

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Ist es nicht fraglos das Recht der Bürger der Krim, über ihren Status selbst zu entscheiden? Die Selbstbestimmung der Völker wird in Artikel 1 der UN-Charta als oberstes Prinzip der Vereinten Nationen garantiert. Mit welchem Recht erklärt der Westen das für diesen Sonntag geplante Referendum dennoch für illegitim? Machen die Krimbewohner nicht schlicht von ihrem Freiheitsrecht Gebrauch?




Die Bucht von Sewastopol, hier lagern seit 230 Jahren russische Kriegsschiffe, die Bewohner der ukrainischen Stadt fühlen sich Russland nah

Wie willkürlich das Recht auf Selbstbestimmung und Sezession allerdings gehandhabt wird, zeigt die außerordentlich ambivalente völkerrechtliche Praxis: Ost-Timors Sezession weltweit anerkannt; bei Eritrea und beim Südsudan ebenfalls; bei Slowenien, Kroatien, Mazedonien auch; bei Kosovo von der Mehrheit der Staaten; Tschetschenien: nicht anerkannt, Abchasien und Südossetien: (mit Ausnahme vor allem von Russland) nicht, Tibet: nicht, Kurden: nicht, Westsahara: nicht; Palästinensische Autonomiegebiete: umstritten.

Die USA, ihrerseits durch einen Sezessionskrieg gegen ihr Mutterland unabhängig geworden, haben ihre Südstaaten durch Krieg an der Sezession gehindert. Großbritannien lässt das Referendum über die Autonomie Schottlands zu, Irland musste sie sich blutig erkämpfen. Ob Katalonien, falls es die beabsichtigte Abstimmung dieses Jahr wahrmachen und sich tatsächlich von Spanien lossagen sollte, auf internationale Anerkennung hoffen dürfte, ist höchst zweifelhaft.

In einem illustrativen Überblick belegt Milena Sterio, Professorin an der Cleveland State University, die These, dass erfolgreiche Sezessionen weniger von der Anwendung des Völkerrechtsprinzips abhängen als von der Zustimmung der globalen oder regionalen Großmächte: „Self-determination as Great Powers’ Rule“. Das ist ein wenig überraschendes, nichtsdestoweniger elendes Ergebnis, weil es zeigt, wie sehr das realexistierende Völkerrecht bis in seinen Kern an autoritäre Herrschaft gebunden ist. Nichts ist kläglicher und paradoxer als Selbstbestimmung, die der Willkür von höheren Mächten ausgeliefert ist.

Aber wenn schon die Autonomie am Ende nicht ohne Befürwortung der Großmächte durchzusetzen ist, hat dann die Krim zumindest einen rechtlichen Anspruch auf Selbstbestimmung? Einen Anspruch auf die eigene Entscheidung über eine Sezession?

Juristisch ist neben dem Völkerrecht natürlich auch das Grundgesetz der Ukraine und der Krim zu berücksichtigen. Doch für das nationale Recht stellt sich die Sache sehr einfach dar. Die aktuell gültige Verfassung der Krim von 1998 erlaubt keinen Volksentscheid über die Sezession und ist ohnehin der ukrainischen Verfassung von 1996 untergeordnet. Diese wiederum erlaubt in Artikel 73 ein Referendum über den territorialen Bestand der Republik nur dann, wenn die gesamte Bevölkerung der Ukraine darüber abstimmt.

Über ihr in diesem Punkt glasklares Staatsrecht setzen sich die Sezessionisten der Krim hinweg, indem sie sich auf die „höhere“ Selbstbestimmungsermächtigung des Völkerrechts berufen. Doch damit kommen sie nicht durch.

Bei allem Streit über Details ist die Substanz des Autonomierechts eindeutig auszumachen. Auf die richtige Spur führt der Begriff der „remedial secession“, der abhelfenden Sezession. Das heißt, dass die Abspaltung eines Landesteils dann und nur dann legitim ist, wenn sie einen Notstand beseitigt. Eine Teilbevölkerung darf sich von ihrem Staat trennen, wenn sie so bösartig unterdrückt und ihrer ethnischen Eigenheit beraubt wird, dass eine friedliche innerstaatliche Lösung ausgeschlossen erscheint. Ein solches Verständnis schränkt das Sezessionsrecht drastisch ein, aber zu Recht, und zwar aus zwei Gründen:

Zuallererst verschafft sie dem elementaren Prinzip der UN-Konventionen Geltung. Gewalt ist im postkolonialen Völkerrecht grundsätzlich nur noch als Gegengewalt, als Notwehr zulässig. Da die Sezession eines Landesteiles die – keineswegs nur territoriale – Amputation für den betroffenen Staat darstellt, gehört sie, selbst wenn kein Schuss fällt, zu den schwerstwiegenden Gewaltakten gegen eine Nation. Die landesweite Infrastruktur, die sozialen und institutionellen Verflechtungen und insbesondere die staatsbürgerlichen Solidaritätsbande werden zerrissen. Die Abtrennung ist darum nur legitim, wenn die Mehrheitsgesellschaft zustimmt oder aber der Minderheitsbevölkerung keine andere Wahl lässt als die Flucht aus der Nation, weil sie mit Gewalt an der Wahrnehmung ihrer Minderheitenrechte gehindert wird.

Davon kann auf der Krim keine Rede sein. Weder die Regierung Janukowitschs noch die provisorische Nachfolgeregierung hat die Rechte, Tradition und Kultur der russischen Krimbewohner mit Füßen getreten. Direkte Gewalt gegen sie gab es ohnehin weder vor noch seit dem Kiewer Umsturz. Abgesehen von der fehlenden Anerkennung des Russischen als Amtssprache neben dem Ukrainischen – ein Fehler, den sowohl die Verfassung der Ukraine von 1996 als auch die der Krim von 1998 begeht – ist der Krim eine hinreichende legislative und exekutive Autonomie eingeräumt, die auch eingehalten wurde. Hinreichend genug jedenfalls, um jeder gewaltsamen Verstümmelung der ukrainischen Nation die Rechtsgrundlage zu entziehen.

Dass die eingeräumte Autonomie trotzdem vielen russischen Krimbewohnern nicht weit genug geht, darf aber nicht unterschlagen werden. Das führt zum zweiten Grund, warum das Völkerrecht das Abspaltungsrecht derart eng fasst. Denn im Umkehrschluss folgt aus der rigorosen Beschränkung des Sezessionsrechts, dass der Staat, um den es geht, eine innere Pluralität anerkennen und tatsächlich praktizieren muss, die den ethnischen Partikularitäten seiner Bewohner gerecht wird. Gerade die Krim steht dafür exemplarisch. Seitdem sie 1954 der Ukraine zugeschlagen wurde, kreuzen sich die Wege und Schicksale der Ukrainer mit den auf die Krim umgesiedelten Russen und mit den seit der russischen Annexion von 1783, besonders aber von Stalin 1944 vertriebenen Krimtataren, deren Nachkommen erst nach dem Fall der Mauer im größeren Stil auf die Halbinsel zurückkehren durften.

Schon wegen der besonders prekären Lage der Krimtataren, denen seit der Unabhängigkeit der Ukraine (1991) als „Minderheit der Minderheit“ auf der Krim in keiner Verfassung der Ukraine und der Krim eine ausreichende eigene Anerkennung, geschweige denn Autonomie gewährt wurde, ist die Ausgestaltung der ethnischen Besonderheiten der Halbinsel unvollkommen. Die Krimtataren hätten daher den stärksten Anspruch auf den Ausbau ihrer Minderheitenrechte, zumal sie – die unter keinen Umständen mit Russland „vereint“ werden wollen – ihre Zukunft nur auf der mit der Ukraine verbundenen Krim sehen. Aber auch die Russen auf der Krim könnten zu Recht mehr verlangen als den bisherigen Status quo der Teilautonomie.

Vor allem die Verfassung der Krim von 1992, die von der ukrainischen Zentralregierung nie akzeptiert wurde, die aber jetzt in dem geplanten Referendum immerhin als alternative Option der Sezession gegenübergestellt ist, demonstriert die Schwäche der jetzigen Rechtslage. Würde die Krim zu dieser Verfassung „zurückkehren“, erhielte die Halbinsel einen gewaltigen Zuwachs an Autonomie, der weit über zusätzliche Kompetenzen der regionalen Gesetzgebung hinausginge.

Problematisch an der 1992-er Verfassung ist allerdings, dass sie die Krim zwar formell als „Teil der Ukraine“ festschreibt (Artikel 9), aber sämtliche Bindungen an die Ukraine auf erst noch auszuhandelnde „Verträge“ reduziert. Auch außenpolitisch wäre sie völlig selbständig (Artikel 10). Das liefe auf einen bloßen Staatenbund hinaus, der an Sezession grenzt, die nur durch eine symbolische Einheit übertüncht wird.

Dass die Zentralregierung so weit nicht gehen will, ist bei allen berechtigen Autonomieansprüchen der Krimrussen nachvollziehbar, besonders, weil damit die Minderheitenrechte der ukrainischen und krimtatarischen Bürger der Halbinsel mit hoher Wahrscheinlichkeit unter die Räder kämen. Dennoch zeigt der Verfassungstext von 1992 die Richtung an, in der die innere Autonomie der Krim zu entwickeln wäre. 1994 stimmten knapp Dreiviertel der Krimbewohner für diese Verfassung. Am Sonntag wären alle Friedliebenden glücklich, wenn das Referendum wiederum zugunsten jener Verfassung so ausfiele.

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