Für ein Festival, das „die Philosophie zurück auf den Marktplatz tragen“ möchte, kann es wohl keinen geeigneteren Eröffnungsredner geben als den Umarmungs-Philosophen Cornel West. Der „revolutionäre Christ“, wie er sich selbst bezeichnet, macht keinen Unterschied zwischen Bürgermeister, verkniffenem Mathematik-Professor, Armen und Unbekannten. Er nennt sie alle „brothers and sisters“ und drückt sie an seine große Brust. Auch wenn das wiederaufgebaute Schloss von Hannover Herrenhausen – wo das mehrtägige 4. „Festival der Philosophie“ feierlich eingeläutet wurde – nicht gerade das ist, was man unter einem Marktplatz versteht, so sorgte Cornel West mit umstandslosem Herzen und Heiterkeit doch schnell dafür, dass die Hemmschwelle vor dem Hochgeistigen nicht höher lag als bei einem HipHop-Konzert.
Cornel West, er meint, dass es unseren Geist verblendet, wenn wir immer jung und schön sein wollen.
Denn Cornel West performt. Wie ein schwarzer Jesus für Liebe und Selbstkritik, nur eben mit Lehrstuhl in Princeton, exaltierte West sich durch seine Bergpredigt zum Festival-Thema „Gerechtigkeit“. Er ist ein begnadeter Stegreif-Redner, ein philosophischer Showstar mit Prominenten-Status, der in jedem Bereich des Geistes- und Kulturlebens beschlagen ist; allerdings war es nahezu unmöglich, in seinem assoziativen Themenslalom eine stringente Argumentation zu finden. West wedelt von Leibniz zu Malcom X und Brahms, um dann vom sokratischen Dialog zur amerikanischen „Peter-Pan-Mentalität“ zu finden. Der Wunsch, immer jung und schön bleiben zu wollen, sagt West, verblende unseren Geist, das Wesentliche an der Gerechtigkeit zu erkennen: Um sie zu leben, müsse man sich mit dem Sterben beschäftigen.
Cornel West taugt mit seinem Potpourri als Allegorie der Vielfalt, die ein heutiges Philosophie-Festival wie das in Hannover ausmacht. Er verteilt hier einen Seitenhieb gegen Habermas und spricht dort schlecht über Obama; er zitiert aus Beckett, Schiller und Heidegger frei, aber mit Angabe der Seitenzahl, ist so schnell von Benjamins „Engel der Geschichte“ bei Sly Stones Terminus der „Everyday People“ und John Coltranes „Love Supreme“, dass man leicht verpassen kann, wie es dazwischen auch noch um Nuklear-Katastrophen, Partizipation und die Armut schwarzer Kinder im reichen Amerika ging. Und nachdem man so schillernd eingeführt wurde in die wilde Schönheit von Liebe und Philosophie sowie die Härte menschlicher Ungerechtigkeit, endet Cornel West mit einer Botschaft christlicher Duldsamkeit, die aus einem Gospel stammen könnte: „I am a prisoner of hope.“
Spätestens hier bekam das Bergpredigt-Entertainment doch noch eine Kernbotschaft zum Thema Gerechtigkeit, die sich als Rahmen für dieses erstaunlich gut besuchte größte deutsche Philosophie-Festival eignete. Cornel West, der für die schwarze Bürgerrechtsbewegung spricht und Vorlesungen im Gefängnis hält, der Musik unter anderem mit Prince aufnimmt und an der Filmtrilogie „Matrix“ mitarbeitete, der politische Bestseller wie „Race Matters“ und „Democracy Matters“ verfasste und Clinton in Fragen des Rassismus beriet, ist nämlich tatsächlich weniger ein christlicher Revolutionär als ein pragmatischer Humanist. Seine Revolution interessiert sich nicht für Umstürze oder den Eigentumsbegriff, sondern zielt auf die individuelle Ermutigung zu Liebe und Mitmenschlichkeit, für die er sich selbst als Vorbild begreift. Und damit steht Cornel Wests Blues über „Love and Hope“ doch exemplarisch für eine sanfte Gegenwarts-Philosophie, die sich weniger mit Systemfragen, sondern mit persönlichen Orientierungshilfen befasst.
Dies kann dann auf eine andere Art auch erfrischend präzise und stringent geschehen, wenn man drei kluge deutsche Professoren verkoppelt. Die zweite Zentralveranstaltung des viertägigen Festivalprogramms – das mit Formaten für Jung und Alt im positiven Sinne marktplatztauglich ist – fand wiederum vor hunderten Zuhörern im Foyer der Leibniz-Universität statt und versammelte mit dem Jenaer Beschleunigungs-Soziologen Hartmut Rosa, dem Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth, und dem Verfassungsrechtler Horst Dreier drei Disziplinen, um die Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit zu diskutieren.
Auch zwischen Soziologe, Philosoph und Jurist herrschte Konsens, dass mit dem demokratischen Verfassungsstaat und den Menschenrechten ein systematischer Rahmen geschaffen sei, der nicht mehr zur Diskussion steht – jedenfalls nicht in Westeuropa. Entsprechend kreiste die lebendige Diskussion konzentriert um Orientierungshilfen, wie im Spannungsfeld von unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen und einem eher statischen Recht ein soziales Gemeinwesen entsteht und Konflikte beherrschbar gemacht werden. Können Mehrheitsentscheide trotzdem ungerecht sein? Was ist Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt, wo unparteiliche Agenturen, wie der Nationalstaat sie geschaffen hat, an den unterschiedlichen nationalen Interessen scheitern? Was ist gerecht in konkurrierenden Gerechtigkeiten, etwa wenn eine gerechte Verteilung der Konsumgüter in der Welt das Recht der nächsten Generation auf Ressourcen ignoriert?
Da Platons Regierung der Philosophen heute kein Vorbild für einen modernen Diskurs unter Geisteswissenschaftlern mehr sein kann, verweigerten die Diskutanten zwar keine Antworten auf die Fragen, aber endgültige Antworten. Viel wurde über den „Veil of Ignorance“ diskutiert, jenem Konzept des berühmten Gerechtigkeits-Philosophen John Rawls, das eine unparteiliche Verteilung von Gütern garantieren soll, indem hinter einem theoretischen Schleier des Nichtwissens so interessefrei entschieden wird, als seien die Entscheider geschichtslose Personen. Aber auch weniger abstrakte Vorgehensweisen etwa in Bezug auf die Aufnahme von afrikanischen Emigranten wurden im Gespräch mit dem Publikum thematisiert. Wobei dann ausgerechnet der Jurist Dreier sich von der Seite des Rechts auf die der Gerechtigkeit schlug, indem er den Unterstützern von Lampedusa-Flüchtlingen zurief: „Resignieren sie nicht, kämpfen sie weiter!“
Wenn Axel Honneth schließlich in seiner historischen Betrachtung zu Theorien der Marktgerechtigkeit zu dem Schluss kam, dass noch nie ein Markt seine Versprechen erfüllt hätte, dann lässt sich ihm für dieses Festival zumindest widersprechen. Der Markt, auf den die Philosophie in Hannover getragen wurde, hat sein Versprechen der Inspiration zumindest in den Hauptveranstaltungen erfüllt.
Cornel West, er meint, dass es unseren Geist verblendet, wenn wir immer jung und schön sein wollen.
Denn Cornel West performt. Wie ein schwarzer Jesus für Liebe und Selbstkritik, nur eben mit Lehrstuhl in Princeton, exaltierte West sich durch seine Bergpredigt zum Festival-Thema „Gerechtigkeit“. Er ist ein begnadeter Stegreif-Redner, ein philosophischer Showstar mit Prominenten-Status, der in jedem Bereich des Geistes- und Kulturlebens beschlagen ist; allerdings war es nahezu unmöglich, in seinem assoziativen Themenslalom eine stringente Argumentation zu finden. West wedelt von Leibniz zu Malcom X und Brahms, um dann vom sokratischen Dialog zur amerikanischen „Peter-Pan-Mentalität“ zu finden. Der Wunsch, immer jung und schön bleiben zu wollen, sagt West, verblende unseren Geist, das Wesentliche an der Gerechtigkeit zu erkennen: Um sie zu leben, müsse man sich mit dem Sterben beschäftigen.
Cornel West taugt mit seinem Potpourri als Allegorie der Vielfalt, die ein heutiges Philosophie-Festival wie das in Hannover ausmacht. Er verteilt hier einen Seitenhieb gegen Habermas und spricht dort schlecht über Obama; er zitiert aus Beckett, Schiller und Heidegger frei, aber mit Angabe der Seitenzahl, ist so schnell von Benjamins „Engel der Geschichte“ bei Sly Stones Terminus der „Everyday People“ und John Coltranes „Love Supreme“, dass man leicht verpassen kann, wie es dazwischen auch noch um Nuklear-Katastrophen, Partizipation und die Armut schwarzer Kinder im reichen Amerika ging. Und nachdem man so schillernd eingeführt wurde in die wilde Schönheit von Liebe und Philosophie sowie die Härte menschlicher Ungerechtigkeit, endet Cornel West mit einer Botschaft christlicher Duldsamkeit, die aus einem Gospel stammen könnte: „I am a prisoner of hope.“
Spätestens hier bekam das Bergpredigt-Entertainment doch noch eine Kernbotschaft zum Thema Gerechtigkeit, die sich als Rahmen für dieses erstaunlich gut besuchte größte deutsche Philosophie-Festival eignete. Cornel West, der für die schwarze Bürgerrechtsbewegung spricht und Vorlesungen im Gefängnis hält, der Musik unter anderem mit Prince aufnimmt und an der Filmtrilogie „Matrix“ mitarbeitete, der politische Bestseller wie „Race Matters“ und „Democracy Matters“ verfasste und Clinton in Fragen des Rassismus beriet, ist nämlich tatsächlich weniger ein christlicher Revolutionär als ein pragmatischer Humanist. Seine Revolution interessiert sich nicht für Umstürze oder den Eigentumsbegriff, sondern zielt auf die individuelle Ermutigung zu Liebe und Mitmenschlichkeit, für die er sich selbst als Vorbild begreift. Und damit steht Cornel Wests Blues über „Love and Hope“ doch exemplarisch für eine sanfte Gegenwarts-Philosophie, die sich weniger mit Systemfragen, sondern mit persönlichen Orientierungshilfen befasst.
Dies kann dann auf eine andere Art auch erfrischend präzise und stringent geschehen, wenn man drei kluge deutsche Professoren verkoppelt. Die zweite Zentralveranstaltung des viertägigen Festivalprogramms – das mit Formaten für Jung und Alt im positiven Sinne marktplatztauglich ist – fand wiederum vor hunderten Zuhörern im Foyer der Leibniz-Universität statt und versammelte mit dem Jenaer Beschleunigungs-Soziologen Hartmut Rosa, dem Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth, und dem Verfassungsrechtler Horst Dreier drei Disziplinen, um die Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit zu diskutieren.
Auch zwischen Soziologe, Philosoph und Jurist herrschte Konsens, dass mit dem demokratischen Verfassungsstaat und den Menschenrechten ein systematischer Rahmen geschaffen sei, der nicht mehr zur Diskussion steht – jedenfalls nicht in Westeuropa. Entsprechend kreiste die lebendige Diskussion konzentriert um Orientierungshilfen, wie im Spannungsfeld von unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen und einem eher statischen Recht ein soziales Gemeinwesen entsteht und Konflikte beherrschbar gemacht werden. Können Mehrheitsentscheide trotzdem ungerecht sein? Was ist Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt, wo unparteiliche Agenturen, wie der Nationalstaat sie geschaffen hat, an den unterschiedlichen nationalen Interessen scheitern? Was ist gerecht in konkurrierenden Gerechtigkeiten, etwa wenn eine gerechte Verteilung der Konsumgüter in der Welt das Recht der nächsten Generation auf Ressourcen ignoriert?
Da Platons Regierung der Philosophen heute kein Vorbild für einen modernen Diskurs unter Geisteswissenschaftlern mehr sein kann, verweigerten die Diskutanten zwar keine Antworten auf die Fragen, aber endgültige Antworten. Viel wurde über den „Veil of Ignorance“ diskutiert, jenem Konzept des berühmten Gerechtigkeits-Philosophen John Rawls, das eine unparteiliche Verteilung von Gütern garantieren soll, indem hinter einem theoretischen Schleier des Nichtwissens so interessefrei entschieden wird, als seien die Entscheider geschichtslose Personen. Aber auch weniger abstrakte Vorgehensweisen etwa in Bezug auf die Aufnahme von afrikanischen Emigranten wurden im Gespräch mit dem Publikum thematisiert. Wobei dann ausgerechnet der Jurist Dreier sich von der Seite des Rechts auf die der Gerechtigkeit schlug, indem er den Unterstützern von Lampedusa-Flüchtlingen zurief: „Resignieren sie nicht, kämpfen sie weiter!“
Wenn Axel Honneth schließlich in seiner historischen Betrachtung zu Theorien der Marktgerechtigkeit zu dem Schluss kam, dass noch nie ein Markt seine Versprechen erfüllt hätte, dann lässt sich ihm für dieses Festival zumindest widersprechen. Der Markt, auf den die Philosophie in Hannover getragen wurde, hat sein Versprechen der Inspiration zumindest in den Hauptveranstaltungen erfüllt.