Beim 20. Open Mike der Berliner Literaturwerkstatt erzählten die Teilnehmer von ihrer kleinen Realität - und das war gut so
Man hofft bei diesen Literaturwettbewerben ja schon gar nicht mehr auf ein Motiv, das sich durch sämtliche oder wenigstens die meisten Teilnehmertexte zieht und sich bequem zur Generationsdiagnose verschlagzeilen lässt: Hier rollt eine Welle auf uns zu, macht euch gefasst. Zu individualistisch, zu egozentristisch präsentierten sich die Jungliteraten häufig in den vergangenen Jahren. Beim 20. Open Mike, der am Sonntag im Theater 'Heimathafen Neukölln' zu Ende gegangen ist, gab es dieses Generationsmotiv aber plötzlich doch, und es war - tadaa! - das Wohnutensil.
Allein in den Gewinnertexten - in 'Junge Frau, undatiert' von Sandra Gugic, 'Pelusa' von Juan S. Guse und den Gedichten von Martin Piekar - traten auf: Warme Marmeladengläser, grüne Schürzen, offene Küchen, rote Tagesdecken, rosarote Toiletten. Den 634 Einsendungen sei eine frappierende 'Abwesenheit von Zeitgeschichte' gemein gewesen, Utopien seien heute 'bis auf die Knochen diskreditiert', sagte der Lektor Christoph Buchwald. Utopien dienen jungen Dichtern heute nicht einmal mehr als gleichberechtigte Gegner. Apolitisches Schreiben ist kein provokantes Programm, sondern einfach apolitisches Schreiben. Man spürt: Das kann nun auch wieder nicht die Lösung sein.
Andererseits: Wieso eigentlich nicht? Wenn der junge, talentierte Deutsche heute den größten Teil seiner Zeit in der WG-Küche verbringt, sollte er das vielleicht auch einfach genau so formulieren. Im besten Falle erwächst daraus dieser hierzulande lange vermisste, lässige Ostküstenton, der sich etwa bei Stefan Mesch oder Thomas Dörschel andeutete: Dieser Ton kann der alltäglichen Mittelklasse-Hybris die ganz großen Kleinstadt-Epen entwinden und den hingebungsvollen Durchschnittsbürger als komplexe Figur ernst nehmen, selbst wenn er nicht im Krieg war.
Die Dramen, die unseren Lebensläufen ihre entscheidende Richtung geben, spielen sich heute nun einmal mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit in der eigenen Küche ab als im Schützengraben. Zeitgeschichte, Emotionen und große Geschichten gibt es preiswert an jeder Ecke, die Wahrheit über uns liegt aber vielleicht eher in Sätzen wie: 'Jana liebte mein Risotto mit Lachs, Pfifferlingen, grünem Spargel und Frühlingszwiebeln. Wir saßen am Tisch, der mit Kerzen und Kastanien geschmückt war.' In sachlichen Aussagen wie dieser, wie sie in jedem Moment irgendwo in diesem Land getroffen werden, tritt die ganz große Tragödie hervor. Kerzen und Kastanien. So bitter ist das ja wirklich.
Christian Wulff und ein Schriftsteller: gar nicht so unähnlich
Nachdem der Juror Marcel Beyer im Vorab-Kolloquium am Freitag gesagt hatte, Christian Wulff sei ein Mann mit 'kleinen Träumen', schwebte eine Frage über dem gesamten Wettbewerb, die sich noch als zentral für die neue deutsche Literatur herausstellen könnte: Sind die Träume des Christian Wulff tatsächlich so viel kleiner als die des deutschen Schriftstellers? In Zeiten von ideologischer Gleichschaltung und Zensur erforderte es noch blanken Mut, sich selbst in Versen zu behaupten. Heute allerdings ist die Schriftstellerei eine - selten lukrative, aber äußerst reputationsträchtige - Karriereoption mit eigenen Ausbildungsstätten, Talentscreenings und einer unschlagbaren Work-Life-Balance.
Ist es deshalb nicht möglicherweise so, dass Christian Wulff den viel aufwendigeren, wütenderen, zersetzenderen Kampf geführt, sich viel weiter aus der eigenen Komfortzone hinausgewagt hat? Schließlich musste er sich tatsächlich mit dem Unangenehmsten und Widerständigsten beschäftigen, das es auf der Welt gibt: dem Realen. Viele deutsche Literaten begnügen sich indes mit dem gedämpften Raum ihres eigenen Gewissens und scheuen den Schritt in den Veronica-Ferres-Kosmos, weil der eben tatsächlich schmerzhaft wäre. Christian Wulff ist diesen Schritt gegangen, furchtlos schritt er voran.
Insofern ist die Hinwendung zur kleinen Realität, die auf dem Open Mike zu beobachten war, vielleicht eher als radikale poetische Strategie zu verstehen, denn als postideologischer Privatismus. Die jungen Schreibschüler formulieren einfach, was sie sehen, und mag das noch so banal sein. Und das, so der Lektor Daniel Beskos, ist auch 'legitim, weil sie sich damit eben auskennen'.
'Einst glaubten wir, die Ausnahme zu sein, die sich dem metrischen System entzieht', heißt es bei dem Dichter Levin Westermann, der den Open Mike vor zwei Jahren gewonnen hat. Diese Metaphysik des Außenseiters ist den jungen Literaten fremd und indem sie das thematisieren, werden sie eben doch wieder an den Rand gedrängt, denn nichts ist unzeitgemäßer, als kein Individualist zu sein. Die Leute, die 'sich nicht verbiegen lassen' und 'einfach ganz sie selbst sind', tummeln sich heute massenweise in den Oberstufenzentren und in Zweierreihen beim 'Supertalent'.
Die Außenseiter-Erzählung ist von Kulturikonen vom Range eines Bushido besetzt, denen dieses Rollenspiel nur deshalb nicht peinlich ist, weil ihnen entgeht, dass sie in jedem Moment ihre eigene Parodie sind, selbst wenn sie die Wahrheit sagen. Und genauso geht es jedem jungen Talent, das in Berlin-Mitte wohnt, auf Ausstellungen und Partys geht und einen aufrichtigen Roman über die Lehre seines Lifestyles schreiben möchte: Am Ende käme dann höchstwahrscheinlich doch wieder nur der vierhundertste Berlin-Mitte-Roman heraus, denn: 'Wenn ich in Berlin-Mitte sitze, ist meine eigene Individualität inauthentisch', wie Juror Thomas von Steinaecker sagte.
Die Rechnung ist einfach: Man kann nicht kein Stereotyp sein. Der junge Literat von heute setzt immer souveräner an diesem Punkt ein. Darüber sollten wir froh sein, weil sich hier potenziell neue Erzählräume öffnen. Es ist gut, dass durch die Hinwendung zum kleinen persönlichen Drama die deutsche Dichter-Figur ins Wanken gerät, schließlich fängt Dichtung immer erst da an, wo die Selbstgewissheit aufhört.
Man hofft bei diesen Literaturwettbewerben ja schon gar nicht mehr auf ein Motiv, das sich durch sämtliche oder wenigstens die meisten Teilnehmertexte zieht und sich bequem zur Generationsdiagnose verschlagzeilen lässt: Hier rollt eine Welle auf uns zu, macht euch gefasst. Zu individualistisch, zu egozentristisch präsentierten sich die Jungliteraten häufig in den vergangenen Jahren. Beim 20. Open Mike, der am Sonntag im Theater 'Heimathafen Neukölln' zu Ende gegangen ist, gab es dieses Generationsmotiv aber plötzlich doch, und es war - tadaa! - das Wohnutensil.
Allein in den Gewinnertexten - in 'Junge Frau, undatiert' von Sandra Gugic, 'Pelusa' von Juan S. Guse und den Gedichten von Martin Piekar - traten auf: Warme Marmeladengläser, grüne Schürzen, offene Küchen, rote Tagesdecken, rosarote Toiletten. Den 634 Einsendungen sei eine frappierende 'Abwesenheit von Zeitgeschichte' gemein gewesen, Utopien seien heute 'bis auf die Knochen diskreditiert', sagte der Lektor Christoph Buchwald. Utopien dienen jungen Dichtern heute nicht einmal mehr als gleichberechtigte Gegner. Apolitisches Schreiben ist kein provokantes Programm, sondern einfach apolitisches Schreiben. Man spürt: Das kann nun auch wieder nicht die Lösung sein.
Andererseits: Wieso eigentlich nicht? Wenn der junge, talentierte Deutsche heute den größten Teil seiner Zeit in der WG-Küche verbringt, sollte er das vielleicht auch einfach genau so formulieren. Im besten Falle erwächst daraus dieser hierzulande lange vermisste, lässige Ostküstenton, der sich etwa bei Stefan Mesch oder Thomas Dörschel andeutete: Dieser Ton kann der alltäglichen Mittelklasse-Hybris die ganz großen Kleinstadt-Epen entwinden und den hingebungsvollen Durchschnittsbürger als komplexe Figur ernst nehmen, selbst wenn er nicht im Krieg war.
Die Dramen, die unseren Lebensläufen ihre entscheidende Richtung geben, spielen sich heute nun einmal mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit in der eigenen Küche ab als im Schützengraben. Zeitgeschichte, Emotionen und große Geschichten gibt es preiswert an jeder Ecke, die Wahrheit über uns liegt aber vielleicht eher in Sätzen wie: 'Jana liebte mein Risotto mit Lachs, Pfifferlingen, grünem Spargel und Frühlingszwiebeln. Wir saßen am Tisch, der mit Kerzen und Kastanien geschmückt war.' In sachlichen Aussagen wie dieser, wie sie in jedem Moment irgendwo in diesem Land getroffen werden, tritt die ganz große Tragödie hervor. Kerzen und Kastanien. So bitter ist das ja wirklich.
Christian Wulff und ein Schriftsteller: gar nicht so unähnlich
Nachdem der Juror Marcel Beyer im Vorab-Kolloquium am Freitag gesagt hatte, Christian Wulff sei ein Mann mit 'kleinen Träumen', schwebte eine Frage über dem gesamten Wettbewerb, die sich noch als zentral für die neue deutsche Literatur herausstellen könnte: Sind die Träume des Christian Wulff tatsächlich so viel kleiner als die des deutschen Schriftstellers? In Zeiten von ideologischer Gleichschaltung und Zensur erforderte es noch blanken Mut, sich selbst in Versen zu behaupten. Heute allerdings ist die Schriftstellerei eine - selten lukrative, aber äußerst reputationsträchtige - Karriereoption mit eigenen Ausbildungsstätten, Talentscreenings und einer unschlagbaren Work-Life-Balance.
Ist es deshalb nicht möglicherweise so, dass Christian Wulff den viel aufwendigeren, wütenderen, zersetzenderen Kampf geführt, sich viel weiter aus der eigenen Komfortzone hinausgewagt hat? Schließlich musste er sich tatsächlich mit dem Unangenehmsten und Widerständigsten beschäftigen, das es auf der Welt gibt: dem Realen. Viele deutsche Literaten begnügen sich indes mit dem gedämpften Raum ihres eigenen Gewissens und scheuen den Schritt in den Veronica-Ferres-Kosmos, weil der eben tatsächlich schmerzhaft wäre. Christian Wulff ist diesen Schritt gegangen, furchtlos schritt er voran.
Insofern ist die Hinwendung zur kleinen Realität, die auf dem Open Mike zu beobachten war, vielleicht eher als radikale poetische Strategie zu verstehen, denn als postideologischer Privatismus. Die jungen Schreibschüler formulieren einfach, was sie sehen, und mag das noch so banal sein. Und das, so der Lektor Daniel Beskos, ist auch 'legitim, weil sie sich damit eben auskennen'.
'Einst glaubten wir, die Ausnahme zu sein, die sich dem metrischen System entzieht', heißt es bei dem Dichter Levin Westermann, der den Open Mike vor zwei Jahren gewonnen hat. Diese Metaphysik des Außenseiters ist den jungen Literaten fremd und indem sie das thematisieren, werden sie eben doch wieder an den Rand gedrängt, denn nichts ist unzeitgemäßer, als kein Individualist zu sein. Die Leute, die 'sich nicht verbiegen lassen' und 'einfach ganz sie selbst sind', tummeln sich heute massenweise in den Oberstufenzentren und in Zweierreihen beim 'Supertalent'.
Die Außenseiter-Erzählung ist von Kulturikonen vom Range eines Bushido besetzt, denen dieses Rollenspiel nur deshalb nicht peinlich ist, weil ihnen entgeht, dass sie in jedem Moment ihre eigene Parodie sind, selbst wenn sie die Wahrheit sagen. Und genauso geht es jedem jungen Talent, das in Berlin-Mitte wohnt, auf Ausstellungen und Partys geht und einen aufrichtigen Roman über die Lehre seines Lifestyles schreiben möchte: Am Ende käme dann höchstwahrscheinlich doch wieder nur der vierhundertste Berlin-Mitte-Roman heraus, denn: 'Wenn ich in Berlin-Mitte sitze, ist meine eigene Individualität inauthentisch', wie Juror Thomas von Steinaecker sagte.
Die Rechnung ist einfach: Man kann nicht kein Stereotyp sein. Der junge Literat von heute setzt immer souveräner an diesem Punkt ein. Darüber sollten wir froh sein, weil sich hier potenziell neue Erzählräume öffnen. Es ist gut, dass durch die Hinwendung zum kleinen persönlichen Drama die deutsche Dichter-Figur ins Wanken gerät, schließlich fängt Dichtung immer erst da an, wo die Selbstgewissheit aufhört.